Achten über Greber u.a.: Materialität und Medialität von Schrift

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Hilke Achten

Vom neuentdeckten Eigenwert der Schrift – Multidisziplinäre Forschungen
zu ihrer Materialität

  • Erika Greber / Konrad Ehlich / Jan-Dirk Müller (Hg.): Materialität und Medialität von Schrift. Bielefeld: Aisthesis 2002. 204 S. Kart. EUR (D) 17, 80.
    ISBN 3-89528-345-2.


Schrift ist mehr als ein bloßes Mittel zum Zweck der Kommunikation, denn sie bietet nicht (nur) das mediale Instrumentarium, um gesprochene Sprache abzubilden. Sie ist eine der folgenreichsten Entwicklungen der menschlichen Kultur, der eine besondere Faszination eignet. 1 Schrift ist nicht allein Transportmittel oder Vehikel für Bedeutungsinhalte, sie ist vielmehr Objekt an sich mit eigener Wirklichkeit; sie dient nicht ausschließlich als Repräsentant, sondern ist Präsentant. Geleitet von diesen Einsichten werden verschiedene Aspekte der Schrift relevant, die seit einigen Jahren in multidisziplinären Ansätzen verstärkt den Diskurs um die Schriftlichkeitsforschung bestimmen. Die Schrift besitzt ihre eigene Materialität, die ihre Medialität nicht untergräbt oder herabsetzt, sondern bereichert und ergänzt und eben eine Fülle anderer Nutzungen und Wahrnehmungsmöglichkeiten bereithält. Diese Einsicht findet seit der so genannten medienkritischen Wende, mit der Derrida 2 eine Abkehr von der Überzeugung des Primats der Sprache einleitete, Eingang in viele wissenschaftliche Disziplinen. Dieses "breite Spektrum" (S.10) des Umgangs mit und der Nutzung von Schrift spiegelt der vorliegende Sammelband. Er vereinigt Beiträge eines von Lesungen und Ausstellungen begleiteten Kongressschwerpunktes Materialität von Schrift des Münchener Fachkongresses Schrift und Bild in Bewegung aus dem Sommer 2000. Insgesamt elf 3 Aufsätze lassen den Band zu einem wissenschaftlich ergiebigen Werk werden.

Vielfalt und Komplexität
der Thematik

Das Interesse an der Schrift als Forschungsgegenstand und -gebiet geht über die Grenzen der Linguistik hinaus, obgleich diese die Schrift als ihr Forschungsgebiet betrachtet. In dem Band sind sowohl sprach- und literaturwissenschaftliche, historische, kultur- und kommunikationswissenschaftliche Beiträge neben literarischen Texten von Oskar Pastior enthalten. Die Herausgeber des Bandes wollten die Thematik nicht nur multidisziplinär, sondern auch interkulturell angehen.

Alle Beiträge nehmen die lange als sekundär beschriebenen Funktionen und Erscheinungsweisen von Schrift in den Blick. 4 Sobald neben der Medialität die Materialität auf Interesse trifft, wird Schrift sowohl als Zeichen eines Symbolsystems wie als Bild, zumindest als Schriftbild (vgl. Greber S. 132), wahrgenommen.

Schrift und Bild in Bewegung

Bisher blieb die Diskussion um Materialität und Medialität von Schrift meist an der Frage nach dem Verhältnis von Bild und Schrift orientiert. 5 Das über den engeren Rahmen von Sprach- und Literaturwissenschaft hinausgehende multidisziplinäre Interesse an der Schrift nimmt mit dem vorliegenden Band eine weitere, bisher weniger beachtete Dimension von Schrift und Bild, bzw. von Schrift als Bild, in den Blick, nämlich die der Bewegung. Dies annonciert bereits der übergeordnete Titel der Gesamtreihe Schrift und Bild in Bewegung, als deren erster Band die Beiträge erscheinen. Diese Reihe stellt sich innovativ der "medienwissenschaftlichen Herausforderung" (S. 7) der sich verwischenden Grenzen von Schrift und Bild, wie ihre Herausgeber betonen. Die Diskussion um Beweglichkeit und Bewegung der Schrift soll den sich verändernden multimedialen Lebensformen Rechnung tragen. Der Begriff der >Bewegung< wird sowohl von den Reihen- als auch von den Bandherausgebern offen gehalten, so dass sich die Autoren in verschiedenen, eigenen Zugängen dem Rahmenthema nähern. Bewegung wird z. B. thematisiert und untersucht als Transportierbarkeit monumentaler Texte, als Möglichkeit digitaler Vernetzung oder als erforderliche Körperbewegung in der Rezeption bestimmter Textsorten.

Materialität und Medialität
von Schrift

Bereits der Titel Materialität und Medialität von Schrift markiert die Bandbreite der behandelten Themen, die zur Forschung über Schrift und Bild gehören. Der Band ist chronologisch aufgebaut in dem Sinne, dass Beiträge, die Schriftentwicklung und -entstehung behandeln, denen vorangehen, die Phänomene der Neuzeit untersuchen. Aufsätze, die Globalisierungstendenzen und die Vereinheitlichung der Computersprachen im digitalen Zeitalter betreffen, finden sich vor der Einführung in die Texte Oskar Pastiors am Ende des Bandes.

Zunächst gibt Friedrich Kittler einen historischen Überblick über die Entwicklung der Beweglichkeit von Schrift und Bild. Während die Heiligtümer der Antike immobil waren, konnten heilige Texte transportiert werden. Insofern verdankt die Beweglichkeit der Schrift (und des Bildes) der Entwicklung der Schriftreligionen ihren entscheidenden Impuls. Innerhalb der Diskussion um die Beweglichkeit zeichnet Kittler die "Erfolgshistorie von Schrift und Bild" (S. 10) nach, deren Sieg schließlich im technisierten Computerzeitalter das Bild davon trägt.

Jan Assmann und Manfred Krebernik widmen sich der Entstehung der Schrift. In ihren Beiträgen gehen sie der Frage nach, ob die Ursprünge der Schrift eher symbolisch-abstrakt (Krebernik, S. 59) oder bildhaft-konkret (Assmann, S. 45) zu bestimmen sind. Manfred Krebernik beobachtet "fließende Übergänge zwischen >Zeichen< und Dekomustern" (S. 59).

Jan Assmann beschäftigt sich mit den verschiedenen Ausprägungen und Funktionen der ägyptischen Schrift und nimmt die Schriftmaterialität vor dem Hintergrund der Nichtlinearität der Hieroglyphen in den Blick. Manfred Krebernik zeichnet die Entwicklung der mesopotamischen Keilschrift vor dem Hintergrund technischer und wirtschaftlicher Möglichkeiten im Zeitalter des Neolithikums nach. Zudem knüpft er Bezüge zum ägyptischen Schriftsystem, die Aspekte in Jan Assmanns Beitrag veranschaulichen.

Mittelalterlichen Formen der Schriftmagie widmet sich der Beitrag von Klaus Schreiner. Die Materialität der Schrift, also Form, Farbe und Material, so seine These, gewannen für die magische Praxis des Mittelalters besondere Bedeutung.

Konrad Ehlich bezieht die Sprache in die Diskussion um die Materialität ein und verweist in diesem Zusammenhang auf die "beobachtbare Mißachtung der Materialität des Geistigen" (S. 12) in der schriftsprachlichen Theoriebildung. Zudem thematisiert er in seinem auf zeichentheoretischen Grundlagen basierenden Aufsatz die Schwierigkeit der "Zuweisung des Schriftcharakters" (S. 96) bestimmter Zeichen.

Ulrich Ernst und Erika Greber widmen sich der Reihenthematik >Bewegung< mit der Beachtung der Schriftmaterialität in der Untersuchung und Vorstellung literarischer Phänomene. Während sich Ulrich Ernst der Anagrammdichtung in der frühen Neuzeit widmet, konzentriert sich Erika Greber auf eine postmoderne Palindromanie, die die Form des Ambigramms 6 im digitalen Medium neu belebt.

Zhenjiang Yan vergleicht das lateinische Alphabet mit der chinesischen Schrift. Er bezeichnet das "Postulat der besseren Schriftökonomie der alphabetischen Schrift" 7 (S. 153) als eurozentrischen Standpunkt, dem er ausgehend von seinen Studien entgegenzuwirken sucht.

Rüdiger Weingarten beobachtet, dass die nichtlateinischen Schriften in den digitalen Medien des globalisierten Zeitalters zurückgehen. Es ergibt sich daraus eine erhebliche Reduktion möglicher Schriftarten und eine Vereinheitlichung der Computerkommunikation, die sich meist der englischen Sprache bedient, obgleich gerade die moderne Informationstechnologie auch andere Schriftarten verarbeiten kann.

Martin Maurach gibt eine "Einführung zur Lesung von Oskar Pastior auf der Tagung >Materialität und Medialität<" – so der Untertitel seines Beitrags – obgleich Pastiors Texte eigentlich keines Kommentars bedürften.

Diese Dichtungen Oskar Pastiors, die zur intensiven Auseinandersetzung und dadurch zur Beachtung der Schriftmaterialität einladen, schließen den Band anregend ab.

Die multiperspektivischen Aspekte, die die Beiträge des Bandes ansprechen, lassen sich etwa an den Themen >Schrift in Bewegung<, sei es literarisch oder technisch, aber auch am Verhältnis von Schrift und Magie exemplarisch darstellen. Vier Beiträge, die neue Perspektiven der Schrift-Bild-Forschung zeigen, sollen herausgegriffen werden:

Technische Wege –
Schrift in Bewegung

Der Beitrag von Friedrich Kittler gilt dem Verhältnis von Schrift und Bild in Bewegung in medien- und technikgeschichtlicher Perspektive. Das griechische Alphabet, das in Laute, Noten und Zahlen übersetzbar war, habe den Trend zur Beweglichkeit von Schrift befördert. Die Beweglichkeit der Bilder nahm hingegen durch die Einführung der Linearperspektive zu und wurde durch die Zentralperspektive optimiert. Technische Neuerungen (Gutenbergsche Wende, Turingmaschine, Kommandozeile) mathematisierten die Beweglichkeit von Schrift und Bild, so dass ihre Bewegung bzw. Beweglichkeit allmählich technisch ermöglicht wird und nicht mehr durch eine "Bewegung der Hände" (S. 26). Kittler gibt zu bedenken, dass sich die maximale Beweglichkeit von Schrift und Bild im digitalisierten Zeitalter dem Einfluss und Verständnis der Computernutzer weitgehend entzieht. Er plädiert deshalb für eine Veröffentlichung der Quellcodes von Betriebssystemen und Computerchips, um die Mechanismen unserer Kultur wieder durchschaubar und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Literarische Wege –
Schrift in Bewegung

Die Aufsätze von Erika Greber und Ulrich Ernst widmen sich der Thematik von Schrift und Bild in Bewegung unter literarischem Aspekt. Erika Greber wendet sich der Palindromanie zu (Wendebuchstaben, Wendebilder: Palindromanie der Jahrtausendwende), während Ulrich Ernst die historischen Entwicklungsformen der Anagrammliteratur nachzeichnet (Manier und Kinetik. Konzeptualisierungen des Anagramms in der frühen Neuzeit).

Beide sprechen von einem "Boom", bzw. von einer "Hausse" (S. 114), den die Anagramm- und Palindromdichtung in den letzten Jahren erlebt habe. Die "Mobilen Texte" (S. 114), zu denen Ernst neben den Anagrammen auch die Palindrome rechnet, verdienen seiner Meinung nach stärkeres Interesse in der Forschung. 8

Nach einem Überblick über die Aufnahme der Anagrammdichtung in Poetiken der frühen Neuzeit weist Ulrich Ernst auf die Vielfalt der Formen und Funktionen hin, die sich in der europäischen anagrammatischen Dichtung seit dem 17. Jahrhundert entwickelt haben. "Serielle Anagramme, die zu zyklischen Werken zusammengefaßt sind" (S. 120), begegnen häufig in religiöser, vor allem in mariologischer Dichtung (S. 121). Zudem stehen Anagrammserien häufig im Dienste der Alchimie (S. 127). Ulrich Ernst verweist auf den Geheimnis-, Spiel- und Rätselcharakter dieser Dichtungen sowie auf den die Wahrnehmung steigernden Verfremdungseffekt, der in ihnen zugrunde liegt. Die Untersuchung der Anagrammdichtung folgt den Perspektiven der Schrift-Bild-Forschung, so dass Anagramme als eine von vielen Formen der Figurendichtung gelten können. Das zeigen auch die von Ulrich Ernst angeführten Textbeispiele. Die Bewegung erweist sich als konzeptionelles Moment der Anagrammdichtung, sofern die Beispiele etwa die Drehung des Blattes und / oder eine >extreme< Augen- oder Kopfbewegung erfordern.

Auf zahlreiche internationale Beispiele zu unterschiedlichen gegenwartsnahen Formen der Palindromdichtung geht Erika Greber ein und wendet sich dabei gezielt dem Bildcharakter der Buchstaben zu. So wie Ernst von "multiplen Anagrammen" (S. 119) spricht, bezeichnet auch Greber das palindromische Erscheinungsspektrum als vielfältig: "Das Erscheinungsbild der Palindromanie, so muß man diagnostizieren, ist multipel – quasi ein Syndrom" (S. 132). Davon ausgehend entwickelt sie eine Palindrom-Typologie. Sie ordnet verschiedene Erscheinungsformen zwei Grundtypen zu: "einsinnig-homolog" und "doppelsinnig-heterolog" (S. 133). Palindrome verweisen aufgrund ihrer nicht ignorierbaren Materialität, die die "Linearität der Wahrnehmung unterläuft" (S. 142), auf ihren schriftmagischen Ursprung (S. 134) und ihre Rezeption erfordert "mentale oder reale Körperbewegungen" (S. 140). Neue Spielarten der Palindromanie ergeben sich aufgrund der Möglichkeiten der Bewegung in digitalen Medien.

Obwohl Palindrome, wie auch Anagramme, vornehmlich als Sehtexte bezeichnet werden können, bietet ihre Vokalisation bzw. innere Vokalisation zusätzliche Reize.

Einen neuen Aspekt der Palindrom- und damit der Schrift-Bild-Forschung entwickelt Greber, indem sie die "Metaphorologie des Palindroms" (S. 142) betont. Das "Rücklaufen" während der Rezeption produziert eine "räumliche Vorstellung". Diese räumliche und zeitliche Rückläufigkeit des Palindroms bezeichnet Greber "angelehnt an Bachtin" als chronotopisch (S. 142).

Sie nennt vier Kategorien, in denen sich "Raumzeit und Zeitraum" verbinden und vermutet, dass die Fülle von Palindrompublikationen in den Wendejahren 1990 (Deutsche Einheit) und 2000 (Jahrtausendwechsel), die häufig Gegensätze und Umkehrungen thematisieren und dadurch Wende und Revolution symbolisieren, eine kausale Folge der politisch-kulturellen Ereignisse sind.

Schrift und Magie –
eine Entdeckung der Schrift

Klaus Schreiner bestimmt magische Schriftwirkungen, indem er die Verwendung von heiligen Schriften im christlichen Mittelalter untersucht. Exemplarisch widmet er sich in seinem Beitrag der sich wandelnden Inanspruchnahme des althebräischen Buchstaben Thaw, der in besonderer Weise für die magische Instrumentalisierung benutzt wurde. Die von Klaus Schreiner angeführten Beispiele weißer, heilbringender und Unheil abwehrender Magie illustrieren die Materialität von Schrift funktional vor allem als "Instrument konkreter Lebensbewältigung" (S. 88). Auf eine Definition des Magiebegriffs wird dabei verzichtet. Die Komplexität des historisch wandelbaren Begriffs und der mit ihm verbundenen terminologischen Differenzierung (Aberglaube, Superstitio, Zauber) zeigt Schreiner an vielen Beispielen unter denen mancherlei apotropäische Formeln begegnen: "Dem mit einem Kreuzzeichen verbundenen Aussprechen einer Buchstabenkombination schrieb man die Kraft zu, Schadensmächte fernzuhalten und abzuwehren" (S. 78). Derlei Bräuche definiert er als Zauber. Eine differenzierende Abgrenzung von Magie und (christlicher) Religion versucht er nicht, weicht damit aber einer der wesentlichen Fragen in der gegenwärtigen Magiediskussion aus.

Auch die christliche Tradition adaptierte zuweilen magisch-heidnische Bräuche. So vertraute etwa der Kirchenvater Augustinus der Wunderkraft heiliger Bücher zur Prophylaxe und Heilung. Der Bischof von Hippo habe es den Menschen erlaubt, sich gegen Kopfschmerzen das Evangelium aufs Haupt zu legen und diesen Brauch gegenüber dem Tragen von Amuletten bevorzugt. Zweifellos, so Klaus Schreiner, werde durch einen solchen Gebrauch die Heilige Schrift ihres theologisch-spirituellen Charakters entkleidet (S. 82), was auch Augustin bedauerte. Fraglich bleibt dabei allerdings, inwieweit Augustinus sich des differenten Bezugs von Magie und Religion bewusst war. Vielleicht ließ er den magischen Gebrauch der Heiligen Schrift ja nur darum zu, um Menschen in einer ihnen geläufigen Weise die Überlegenheit der christlichen Religion zu demonstrieren?

Das Beispiel des althebräischen Thaw, das auch als griechisches Tau wie als lateinisches T das Symbolzeichen des Kreuzes stilisiert und so traditionsbildend wirkt, zeigt, so Klaus Schreiner, eine beachtliche Fülle verschiedener Funktionen und Eigenschaften: Der Buchstabe ist Schutzzeichen (S. 75), ihm eignet Heiligkeit und Wunderkraft (S. 79), er ist Symbol des Sieges (S. 79) und das Eigentumszeichens Jahwes (S. 75), er wirkt gemeinschaftsstiftend (S. 80) und motiviert zur Buße (S. 81): Die vielen Wirkungsmöglichkeiten zeigen, dass die Effekte magischen Handelns von dem Glauben an eben diese Wirksamkeit abhängig sind (S. 84); angesprochen wird damit ein theologischer Begründungszusammenhang: Christlich-magische Praktiken werden aufgrund der Überzeugung von der Allmacht Gottes (S. 89) wirksam.

Von weiterführender Bedeutung sind die von Schreiner differenziert "gestuften Grade der Materialität" (S. 88), die er den verschiedenen Formen der Schriftmagie zuordnet. Während die bisherige Diskussion entweder die Materialität von Schrift berücksichtigte oder diese ignorierte, wird nunmehr eine Differenzierung möglich: Die bewusste oder unbewusste Instrumentalisierung von Texten diente der Erforschung der Zukunft, der Heilung von Krankheiten, der Abwehr von Unwettern und bösen Geistern und präsentiert damit unterschiedliche Grade der wirkungsmächtigen Realität von Schrift. Eine weitere Pluralisierung und perspektivische Erweiterung dieser Differenzierung könnte in künftigen Arbeiten zur Magietheorie möglicherweise mit den Kategorien der aktiven und passiven magischen Praktiken verbunden werden.

Summa – cum laude

In Schreiners Beitrag wird der auch in anderen Publikationen des Bandes anklingende Zusammenhang von Schrift und Magie explizit thematisiert. In der Diskussion um die Materialität der Schrift fand bislang schon deren Verselbständigung zunehmendes Interesse – am magischen Umgang lässt sie sich besonders eingehend beobachten (Vorwort S. 9, Klaus Schreiner S. 88). 9 Die magischen Aspekte des Umgangs mit Schrift lassen sich eben nicht nur an historischen Sujets studieren, sondern begegnen auch im zeitgenössischen Diskurs über moderne Schrift-Bild-Formen.

Im vorliegenden Band bezeichnet etwa Friedrich Kittler die Funktion der computertechnischen Kommandozeile, die durch die >Enterfunktion< "ein Wort wahr werden lässt", als "faktisch magisch" (S. 27).

Für Erika Greber ist die Visualisierung Voraussetzung der Palindromdichtung, so dass sie deren Ursprünge in schriftmagischen Praktiken zu finden glaubt (S. 134).

Zhenjiang Yan (S. 153) hebt hervor, dass einzelne Buchstaben nur in so genannten sekundären und namentlich in magischen Kontexten einen semantischen Wert gewinnen. Ulrich Ernst spricht bei der von ihm berücksichtigten Methode der Vertauschung in der Anagrammdichtung von "mythischen Residuen" (S. 128), die der Magie nahe stehen und selbst Oskar Pastior bedient sich in seinem Primgedicht des Begriffs der Magie (S. 196). Insofern sprechen die Herausgeber des Themenbandes mit Recht von "magischer Letternbewegung" (S. 9) und damit hat der Band einen roten Faden, an dem sich die multidisziplinären Forschungen zur Medialität und Materialität der Schrift ausrichten. Im schriftmagischen Umgang vereinigen sich beide Aspekte, die im Titel des Bandes angesprochen werden: Als Medium erfüllt Schrift den Zweck der Kommunikation, unter der Beachtung ihrer Materialität verselbständigt sich die Schrift als Objekt an sich.


Hilke Achten
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Ins Netz gestellt am 16.02.2003
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Anmerkungen

1 Den Begriff der Schriftfaszination prägte Aleida Assmann. Vgl. Aleida Assmann: Die Ent-Ikonisierung und Re-Ikonisierung der Schrift. In: Kunstforum 127 (1994). S. 135–139.   zurück

2 Derrida geht davon aus, dass die Sprache der Schrift nachfolgt. Vgl. Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972; Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974.   zurück

3 Die Kongressbeiträge von Horst Wenzel und Helmut Glück, die beide Wesentliches zur Schriftforschung beigetragen haben, erscheinen, auch zum Bedauern der Herausgeber (S. 16) leider nicht im vorliegenden Band. Auf dem Kongress sprach Glück über Kryptologie, ihre Verschlüsselungsmethoden sowie ihre Digitalisierungsmöglichkeiten. Jüngst erschien sein Aufsatz "Sekundäre Funktionen der Schrift – Schrift-Sprache, Schrift-Magie, Schrift-Zauber, Schrift-Kunst" in dem Band von Waltraud >Wara< Wende (Hg.): Über den Umgang mit der Schrift. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. Glücks Habilitation "Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie" (Stuttgart 1987) gab der Erforschung sekundärer Schriftfunktionen und -erscheinungen einen wesentlichen Impuls. Horst Wenzels zahlreiche Publikationen gelten vor allem der mediävistischen Schriftlichkeitsforschung unter Einbeziehung der Materialität von Schrift.   zurück

4 Vgl. dazu Peter Koch / Sybille Krämer (Hg.): Schrift, Medien, Kognition – Über die Exteriorität des Geistes. Tübingen: Verlag Stauffenburg 1997. Manfred Kreberniks Aufsatz kommt dem Beitrag von Peter Koch im gerade erwähnten Sammelband sehr nahe. Auch die Diskussion, die Konrad Ehlich um die Materialität und Immaterialität sowie um den Gegensatz von Geist und Buchstabe führt, wird in diesem Band ausführlich dargestellt.   zurück

5 Vgl. hierzu Sabine Groß: Lesezeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozess. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994.   zurück

6 Als Ambigramm wird ein "drehbarer Schriftzug mit zwei simultanen Lesarten [bezeichnet], die aus der graphischen Ambiguität manieriert geformter Lettern resultieren" (S. 14).   zurück

7 Mit einer geringen Zeichenanzahl (26 im Deutschen) lassen sich beliebig viele Wörter bilden. Das Zeicheninventar der chinesischen Schrift beträgt dagegen ca. 60.000 Zeichen.   zurück

8 Ulrich Ernst widmet sich in seinen zahlreichen Publikationen der Erschließung und Typologisierung literarisch-ästhetischer Schrift-Bild-Formen.    zurück

9 Exemplarisch sei hier nochmals die Habilitation von Helmut Glück genannt; interessante Aspekte enthält auch der Band von Annemarie Lange-Seidl (Hg.): Zeichen und Magie. Tübingen 1988.   zurück