Albert über Honold: Benjamin als Lesehilfe

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Claudia Albert

Benjamin als Lesehilfe

Kurzrezension zu
  • Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin: Verlag Vorwerk 8 2000. 431 S., 2 Abbildungen. Kart. DM 58,-.
    ISBN 3-930916-33-9.


Nachdem das Scheitern des Habilitanden Walter Benjamin seit etwa 1980 zum Inauguraltopos zahlreicher wissenschaftsgeschichtlicher Untersuchungen wurde, lohnt es sich vielleicht, nicht seine (zweifelhaften) philologischen Analysen des deutschen Barockdramas, sondern vielmehr seine spezifischen Lesefähigkeiten in den Blick zu nehmen. Und genau an diesem Punkt bildet Honolds Arbeit eine sinnvolle Synthese von >bilateralen< Detailuntersuchungen (vgl. S. 399), etwa zu Benjamins Hölderlin-, Goethe- oder Kafka-Lektüren, und der florierenden Benjamin-Exegese, die ihrerseits die philologische Seite zugunsten messianistischer oder dekonstruktivistischer Theoreme preisgibt. 1

Der Leser Walter Benjamin ist für Honold also auch eine Probe aufs Exempel der eigenen Verfahrensweisen, denn:" Wer liest, stößt auf Fragmente des eigenen Daseins." (S. 7) Sein unzeitgemäßes Risiko besteht geradezu darin, dem Lesen (und Schreiben) noch eine existenz? und identitätserschließende Kraft zuzutrauen — gegen alle modischen Absagen an Sein und Sinn. Und so gehört die Sympathie von Honolds Untersuchung gerade "der Unentschiedenheit" von Benjamins "professionelle[r] Identität — als Literaturwissenschaftler und Essayist, Übersetzer und Kritiker, Dichter und Philosoph." (S. 8)

In der Kopplung von philologischem Scharfblick und ästhetisch-geschichtsphilosophischer Ferndiagnose erfahren Hölderlin, Goethe, Hebel, Karl Kraus, Ernst Jünger und Kafka / Brecht Tiefenanalysen, von denen man sich wünschte, daß die Fachspezialisten sie wahrnähmen. Benjamin gerät hier zum Zeugen dafür, daß "die Kassiber von einst [eben nicht] zu Klassikern werden" (S. 11) müssen. Er hätte also die besten Chancen, vom "Modethema der Neuen Linken" nicht etwa zum "Objekt einer neuen Gelehrsamkeit" zu werden — so die Klage von Burkhardt Lindner 1981 2, sondern zum Indikator fachspezifischer >weißer Flecken<.

Eine >Deutsche< Literaturgeschichte?

Zumindest sieht Honold die Lücke zwischen Goethe und Karl Kraus und die intensive Beschäftigung mit Baudelaire als "ein Votum, die zeitgleiche deutschsprachige Literatur betreffend" (S. 12). Daher erstaunt es, daß er sich auf die deutschsprachigen (nicht — wie der Untertitel suggeriert — nur deutschen) Lektüren Benjamins konzentriert; immerhin stammen von den sieben genauer analysierten Autoren nur vier aus Deutschland! Eine >deutsche< Literaturgeschichte will sich selbst in >Bruchstücken< nicht ergeben, und die vielfältigen Anziehungs? und Abstoßungsbewegungen, in denen Benjamin zwischen ihr und Baudelaire, Calderón oder Proust oszilliert, bleiben so zwar nicht gänzlich unbeachtet, aber allzusehr am Rande. Gerade wenn das Lesen sich mit Benjamin zwischen "Magie und Kritik" bewegt, ja sogar von "existenzentscheidender Bedeutung" (S.27) sein soll, ist der Bezug aufs Nationale obsolet.

Und auch Honold interessiert sich sehr viel mehr für die Konstellationen, die Benjamin entwirft, als für seine politischen Diagnosen. Vom selbstbewußten Erstlingswerk des zweiundzwanzigjährigen Studenten über den späten Hölderlin bis zur "symbiotischen Interpretationsbeziehung" (S. 280) zu Kafka schreibt er so eine Biographie Benjamins im Spiegel seiner Lektüren. (Vielleicht ist dies die einzig sinnvolle Art, sich einem zwar nicht ereignisarmen, aber mehr von Zufällen und unkalkulierbaren Einflüssen geprägten Leben zu widmen, in dem das Lesen immer größere Bedeutung gewinnt?)

"Es wird erzählt"

Den größten Innovationsgehalt können Honolds Ausführungen zu Johann Peter Hebel beanspruchen. Sie nutzen die vielfach tradierten Geschichten von Krieg, Wiedersehen oder Gerechtigkeit, um an ihnen das Potential von Benjamins theoretisch orientierten Texten zu entfalten. Mit seiner "Unerläßlichkeit und zugleich Unverläßlichkeit des namentlichen, schriftlich fixierten Urhebers" (S. 159) und der Fiktion von Unmittelbarkeit im >bekanntlich< vieler Erzählanfänge wird Hebel, zudem mit großer "Sympathie fürs Kleinkriminelle und [...] kosmopolitische[r] Großzügigkeit" (S. 167) ausgestattet, zum Modellfall einer skurrilen Behaglichkeit. Zeitwahrnehmung oszilliert zwischen kalendarischer Genauigkeit und "Seinesgleichen geschieht." (S. 199)

Doch so sehr Benjamins diesen Gedanken korrespondierender "Erzähler"-Aufsatz "die Merkmale einer Geisterbeschwörung" (S. 182) trägt, so sehr nutzt er auch die Medienkonkurrenz als Indikator verlorener (aber als solcher nicht wahrgenommener) Aura: "Aura ist nur als Ahnung des Gewesenen." (S. 179) An Honolds Ausführungen zu Hebel, aber auch zu Kafka / Brecht läßt sich deutlich der Umschlag des Forschungsinteresses von der technik? und apparatefixierten Medientheorie zu einem komplexeren Blick auf "Effekte der Entzauberung" (S. 179) ablesen. Er aber verharrt nicht im Gestus der Trauer, sondern führt den verständigen Leser auch zu einer mehrfach perspektivierten Lese- und Wahrnehmungsweise, die etwa mit Brechts Kategorien >Geste<, >Zitat< oder >V-Effekt< erfaßt werden kann (vgl. S. 353). So überspielt Honold auch den häufig konstatierten Bruch zwischen dem >marxistischen< und dem >messianistischen< Benjamin: Dessen Augenmerk für Formen und Verfahrensweisen läßt sich als Kapitalismuskritik wie als Evokation eines nur in Spuren überlieferten Vergangenen lesen. 3

Trotz einer gelegentlichen Tendenz zum Benjamin-Pastiche folgt Honold den zwischen Epochen und Lebenssphären, zwischen Zigarrenrauch und Kriegspropaganda mäandrierenden Überlegungen >seines< Autors mit angemessener Distanz. Und so wird man seinen — Benjamins Kafka-Studien betreffenden Befund — "So viel Essay war nie" (S. 280) auch auf ihn selbst zurückwenden können.


apl. Prof. Dr. Claudia Albert
Freie Universität Berlin
Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften
Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
Habelschwerdter Allee 45
D-14195 Berlin

Ins Netz gestellt am 13.11.2001
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Anmerkungen

1 Ein Panorama bietet die dreibändige Kongreßpublikation von Klaus Garber / Ludger Rehm (Hg.): Global Benjamin. München: Fink 1999; vgl. auch Nicolas Pethes: Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin. Tübingen: Niemeyer 1999.   zurück

2 Burkhardt Lindner: Goethes "Wahlverwandtschaften" und die Kritik der mythischen Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft. In: Norbert W. Bolz (Hg.): Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim: Gerstenberg 1981, S. 23—44. Da Honold mit Fußnoten eher sparsam umgeht, fehlt hier der Seitennachweis. Mir ist es allerdings ohnehin nicht gelungen, Lindners Äußerung in dem besagten Aufsatz zu finden. Man kann sich auch fragen, ob Abkürzungen wie "Jb. dt. Schill.ges. Jg. 42" (S. 97, Anm. 1) dem ästhetischen Anspruch des Bandes genügen. Gelegentlich unterlaufen Fehler im Französischen, etwa beim "Tableau morte" (S. 369).   zurück

3 Parallelen zu Max Kommerells Terminus der >inneren Form< liegen trotz — oberflächlich betrachtet — gänzlich verschiedener ideologischer und ästhetischer Ausrichtung nahe. Vgl. Claudia Albert: Umrisse eines >deutschen Calderón<. Max Kommerells Beitrag im Kontext der Rezeptionsgeschichte. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 38 (1994), S. 364—378, zu Benjamin S. 373f.   zurück