Albrecht über Berhorst: Anamorphosen der Zeit

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Andrea Albrecht

Poetische Verzerrungen:
Jean Paul zwischen Poetologie
und Geschichtsphilosophie

  • Ralf Berhorst: Anamorphosen der Zeit. Jean Pauls Romanästhetik und Geschichtsphilosophie (Studien zur deutschen Literatur Bd. 162) Tübingen: Niemeyer 2002. 430 S. Kart. EUR (D) 64,-.
    ISBN 3-484-18162-1.


"So bringt uns die Gegenwart nur Bilder zu optischen Anamorphosen, und erst unser Geist ist der erhabne Spiegel, der sie in schöne Menschen-Formen umstellet"1, lässt uns der Erzähler in Jean Pauls Titan wissen, ohne sich an dieser Stelle auf eine nähere Erläuterung seiner Metaphorik einzulassen. Jean Pauls Texte sind dafür berühmt, wenn nicht berüchtigt, metaphorische Sinnbezüge zu erzeugen, die sich dem Leser erst dann erschließen, wenn er den intra- und intertextuellen metaphorischen Verweisstrukturen folgt, um durch eine virtuelle Rekonstruktion des Jean Paul'schen >Zettelkastens< der Bedeutung der Metaphernkomplexe auf die Spur zu kommen. 2

Ralf Berhorst hat sich in seiner 1999 an der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommenen Untersuchung zu Jean Pauls Romanästhetik und Geschichtsphilosophie die Anamorphosen der Zeit zum metaphorischen Leitfaden seiner Interpretation gewählt. Der Begriff der Anamorphose, der in seiner ursprünglichen, kunstwissenschaftlichen Verwendung eine "visuelle >Verzerrung<" (S. 318 f.) bezeichnet, wird nach Berhorsts Darstellung von Jean Paul morphologisch, vermögenspsychologisch und poetologisch ausgedeutet: Während in Katzenbergers Badereise die naturhistorischen "Mißgestalten" des Meeres als "Anamorphosen" deklariert werden und damit eine eher pejorative Begriffsverwendung nahegelegt wird, 3 findet sich die Metapher im Titan in ein positiv konnotiertes, "allgegenwärtige[s] optische[s] Instrumentarium des Romans" (S. 320) – bestehend aus Fernrohren, Okulargläsern, Spiegeln etc. – eingebettet.

Hier verweist der Begriff der Anamorphose auf die "anamorphotischen Effekte"
(S. 319) der Einbildungskraft, des Gedächtnisses und der Antizipation – Vermögen, die, folgt man Berhorst, die "Entstellungen der Wirklichkeit" (S. 321) korrigieren können und für Jean Paul daher auch poetologisch relevant werden. Durch die "metamorphotische Kraft der Phantasie" (S. 321) sei der Mensch in der Lage, die defizitäre, endliche Gegenwart zu totalisieren und "den verzerrten Bildern der irdischen Endlichkeit den Anschein poetischer Idealität und Ganzheit" zu "verleihen" (S. 1). Die Poesie rückt damit in ein "kontrafaktisches Verhältnis"
(S. 405) zur historischen Wirklichkeit, und das fiktionale literarische Kunstwerk – bei Jean Paul vornehmlich der Roman – tritt in ein spannungsgeladenes Verhältnis zur faktenorientierten Geschichtsschreibung.

Damit ist bereits die zentrale, über das titelgebende Metaphernfeld hinausgehende Leitidee der Berhorst'schen Monographie benannt: Seine Studie setzt sich zum Ziel, dem "Konnex zwischen Poesie und Historiographie" sowohl in den theoretischen als auch in den literarischen Texten Jean Pauls nachzugehen, "aus der wechselseitigen Beziehung beider Vergleichsobjekte" Jean Pauls "Verständnis des Romans und der Historie" zu destillieren und auf diese Weise schließlich zu besser fundierten Aussagen über die "gelegentlich als formlos missverstandene[ ] Struktur seiner großen Erzählwerke" (S. 1) zu gelangen.

Zur Gliederung der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich grob in zwei Teile, von denen der umfangreichere erste Teil (Kap. I–V) den theoretischen (poetologischen, ästhetischen und philosophischen, nicht den politischen und pädagogischen) Schriften Jean Pauls – darunter an prominenter Stelle der Vorschule der Ästhetik – gewidmet ist. Ausgehend von Reflexionen über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit des Abschließens, Fortsetzens oder Vollendens literarischer und historischer >Geschichten<, rekonstruiert Berhorst Jean Pauls Anspruch, die als defizitär und fragmentarisch erlebte, endliche Wirklichkeit (Kap. I) mit Hilfe der poetischen Einbildungskraft zu totalisieren und so das Defizit ästhetisch zu kompensieren (Kap. II). Die Arbeit zeigt, wie sich das Verhältnis von defizitärer Wirklichkeit und Totalisierungsanspruch der Kunst in der um die Begriffe Epos und Drama kreisenden Gattungsdiskussion um 1800 abbildet, an der sich auch Jean Paul maßgeblich beteiligt hat (Kap. III, IV), und folgt den Implikationen dieses Diskurses schließlich bis in die zwischen Herder, Jacobi und Jean Paul geführte Diskussion über geschichtsphilosophische und theologische Theoreme (Kap. V). Der zweite Teil der Arbeit sucht die Erträge der theoretischen Untersuchung für die chronologisch vorgehende Interpretation der Romane Hesperus (Kap. VI), Titan (Kap. VII) und Flegeljahre (Kap. VIII) fruchtbar zu machen.

Ruinenhafte Wirklichkeit
und ästhetische Totalität

In Jean Pauls "Semantik von Zeitbegriffen" (S. 2) ist nach Berhorsts Analyse die Gegenwart, im Gegensatz zu Vergangenheit und Zukunft, negativ gesetzt. Jean Paul erlebe die Gegenwart als defizitär und fragmentiert, weil sie den Menschen an die endliche Physis und an die "ruinenhafte Wirklichkeit" fessele (S. 46). Zugleich evoziere die "Defizienz der fragmentarischen Endlichkeit" ein Bedürfnis nach Totalität und Ganzheit (S. 50), das durch die Einbildungskraft nicht gestillt, aber temporär befriedigt werden könne. Vermöge seiner (romantischen) Phantasie könne der Mensch die partiale Wirklichkeit zu einem Ganzen totalisieren (S. 70) und die unaufhebbare Grenze zwischen Endlichem und Unendlichem, Sinnlichkeit und Vernunft, Wirklichkeit und Ideal transzendieren. Dazu diene dem Menschen nicht zuletzt die Kunst, die in Jean Pauls ästhetischem Selbstverständnis der Darstellung des Ganzen gewidmet sei und der daher eine kompensatorische (S. 1) oder auch konsolatorische Funktion (S. 24) zugeschrieben werden könne.

Jean Paul votiert nach Berhorst für eine ästhetische Nachahmung des Realen, die zugleich auch Ideales abbildet, er plädiert damit für eine "doppelte Mimesis" der Poesie, die "als Synthese aus Idealismus und Realismus [...] die Dissoziation von Ideal und Wirklichkeit, Idee und Erscheinung, Seele und Leib" aufhebt und versöhnt (S. 53). Projiziert auf die Zeitsemantik beanspruche die Poesie demnach, "als Antizipation der zweiten Welt das Versprechen einer besseren Zukunft" zu enthalten, "nicht im Sinne einer konkreten geschichtlichen Utopie, sondern einer nicht-defizitären, >ganzen< oder nicht-fragmentarischen Zeit", die als poetische, "imaginierte Gegenwart [...] den >ganzen< Zeiten Vergangenheit und Zukunft gleichrangig" (S. 74 f.) sei.

Epos, Drama und Roman

Jean Pauls zeittheoretische Bestimmungen schlagen sich insbesondere in seinen Beiträgen zur Gattungsdiskussion der Zeit nieder. In "[m]etaphorische[n] Gleichnisreden" überträgt er poetische Gattungsbegriffe auf die Historie (S. 91), so dass Berhorst am Beispiel von Epos, Drama und Roman Jean Pauls spezifischen Analogiebildungen zwischen Literatur und Historie nachgehen kann. Dem Verfasser geht es dabei nicht, wie der Leser durch den leider nicht weiter verfolgten Hinweis auf Hayden Whites Metahistory erwarten könnte, um die grundsätzliche "Wechselbeziehung zwischen Geschichtsschreibung und Literatur" (S. 85). Berhorst blendet den historiographischen Diskurs der Zeit aus und konzentriert sich in seiner Untersuchung auf die Einbettung der Jean Paul'schen Position in den um 1800 geführten poetologischen "Diskurs über die Begriffe Totalität, Fragmentarität, Vollenden oder Fortsetzen" (S. 111).

In Absetzung von der aristotelischen Forderung nach der Ganzheit der dramatischen wie der epischen Handlung (S. 112) geraten epische und dramatische Totalität in den Konzeptionen Schillers, Goethes, F. Schlegels, Hegels und Schellings in einen Gegensatz zueinander. Das Epos wird nach der Rekonstruktion Berhorsts "um 1800 zum Synonym einer Kunstform [...], die in jedem ihrer Teile den Charakter des Totalen und in sich Vollendeten aufweist" und daher "an jedem ihrer Punkte fortgesetzt werden" kann. Das Epos stehe für "eine erfüllte Ruhe, eine spezifische Form der Zeitlichkeit, die zugleich als vor- und nachgeschichtlicher Einschluss sämtlicher Zeit gedacht" werde. Das Drama hingegen bleibe der Zeitlichkeit verhaftet, es falle "mit dem Begriff der vergehenden und auf einen offenen Zukunftshorizont ausgerichteten Zeit zusammen" (S. 132).

Jean Paul schließt sich diesen Bestimmungen an und konzipiert das Epos, analog der antiken Plastik, als eine zeit- und geschichtslose Gattung der idealen, höheren Geschichte (S. 111), das Drama, analog der Musik, als zeitlich organisierte Gattung der verrinnenden, gegenwärtigen Geschichte (S. 139). Jean Paul ist nun weder als Dramatiker noch als Epiker in Erscheinung getreten, sondern hat sich auf die Romanproduktion kapriziert. Für Berhorst resultiert diese poetologische Schwerpunktsetzung aus geschichtsphilosophischen und ästhetischen Erwägungen: So sei zum einen für Jean Paul das Epos "die Gattung eines vorgeschichtlichen [...] Zeitalters" (S. 105) und der modernen Geschichte nicht mehr angemessen (S. 91 f.). Zum anderen bevorzuge Jean Paul die die Phantasie fördernde Zeichenhaftigkeit eines gelesenen Textes gegenüber der die Phantasie lähmenden Zeichenhaftigkeit des theatral inszenierten Textes (S. 147). Während die Präsenz des Wirklichen im Theater die Einbildungskraft hemme, befördere die "Abwesenheit physischer Wirklichkeit" bei der Lektüre die poetische Totalisierungsleistung der Phantasie (S. 145).

Ob Jean Pauls Hierarchisierung von "Dicht- und Schauspielkunst" (S. 149) nicht eher einem marktorientierten Distinktionsinteresse geschuldet ist und als eine nachträgliche Rechtfertigung seines prosaischen Œuvres verstanden werden muss, sei einmal dahingestellt. Überzeugend belegen kann Berhorst in seiner Untersuchung, dass sich die "poetische Meta-Gattung" (S. 165) Roman für Jean Pauls ästhetische Ansprüche besonders eignet, sei es in Form des epischen Romans nach dem Vorbild des Wilhelm Meister mit dem Fokus auf der
">äußere[n]< Geschichte", sei es in Form des dramatischen Romans mit dem Fokus auf der ">innere[n]< Geschichte eines Charakters" (S. 169). Zur "Meta-Gattung" avanciert der Roman bei Jean Paul, weil er sich zwar der dramatischen Romanform bedient, in seine narrativen Konstruktionen aber epische Zustände als zentrale Gestaltungselemente integriert.

Jean Pauls Charakterlehre:
Freiheit und Notwendigkeit

Der theoretische Teil der Arbeit wird durch ein Kapitel beschlossen, das der zwischen Herder, Jacobi und Jean Paul geführten Debatte zur Geschichtsphilosophie und den daraus resultierenden Implikationen für die Jean Paul'sche Romanästhetik gewidmet ist.

Herders Geschichtsbild schreibt nach Berhorst der Geschichte ein mechanistisches Naturgesetz göttlicher Nemesis (S. 232) vor: Die einmal aus dem Gleichgewichts- und Beharrungszustand geratene Weltgeschichte ist demnach gegenwärtig durch Pendelausschläge gekennzeichnet, die erst langfristig den ursprünglichen Ausgleichszustand als Telos der Geschichte wiederherstellen können. Sowohl die Geschichtsschreibung als auch die Dichtung hat nach Herder diesen Gesetzesgang abzubilden. Die Tragödie stelle dabei eine Verletzung der Nemesis durch den Helden dar, das Epos könne Figuren präsentieren, die auf moralisch vorbildliche Weise das "Nemesis-Gesetz des Maßhaltens" befolgten
(S. 212) und damit der Geschichte vorgreifen.

Nach Berhorsts detaillierter Rekonstruktion folgt Jean Paul Herders "von bürgerlicher Moralität geprägte[m] Dichtungsverständnis" (S. 216) und hofft wie Herder auf das historische Telos eines "episch-zeitlosen Zustand[s] ewigen Gleichgewichts, in dem schließlich auch Poesie und Wirklichkeit konvergieren würden." (S. 239) Anders als Herder, der die Freiheit des Willens dem gesetzmäßigen Geschichtsgang unterordne, betone Jean Paul jedoch die "inkalkulable Veränderlichkeit des Menschen". Dies verhindere zum einen ein blindes Vertrauen auf die "Perfektibilität des Menschengeschlechts" (S. 206), messe zum anderen der historischen Mitgestaltungskraft der Individuen mehr Gewicht bei als Herder (S. 235).

Es bleibt zu fragen, ob diese Kontrastierung sich nicht auf ein zu eingeschränktes Herder-Bild stützt. Möglicherweise hätte sich eine andere Profilierung ergeben, wenn Berhorst den Fokus auch auf die Passagen in Herders früheren Texten, etwa in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, gerichtet hätte, die einer Individualisierung das Wort reden, die Setzung der historisch varianten Teloi der Geschichte den Individuen und Kollektiven überantworten 4 und auf diese Weise die zukünftige historische Entwicklung ebenso ins Offene stellen, wie Jean Pauls Äußerungen dies ohne Zweifel tun.

Ein wichtiger Differenzpunkt zwischen Herder und Jean Paul ließe sich aus dieser Perspektive stärker konturieren: Herders universalgeschichtlichem Interesse steht Jean Pauls individualgeschichtliches Interesse gegenüber. Entsprechend seiner Profession als Dichter dient Jean Paul die Beschäftigung mit der Geschichte keinem geschichtsphilosophischen Zweck, sondern sie liefert ihm einen Hintergrund für die poetische Konzeptionierung individueller Charaktere für die "Rennbahn" 5 seiner Romane. Sind die geschichtsprägenden, großen Individuen aber tatsächlich mit den "hohen Menschen" zu identifizieren, die sich durch vorbildliche Sittlichkeit und ein nachahmenswertes, weil maßvolles und nemesisgerechtes Verhalten auszeichnen, wie Berhorst das insinuiert (S. 217)?

Jean Pauls Charakterlehre ist differenzierter. Die Welt wird nach seinem Verständnis durch >hohe< Charaktere nur dann verändert, wenn sie anders als Emanuel aus dem Hesperus ihren Realitätskontakt nicht suspendieren. Auch passive "Grenz-Genies", die wie Albano aus dem Titan zwischen Talent und Genie stehen, fungieren eher als "Mittler zwischen Gemeinheit und Genie" 6, als dass sie selbst geschichtsprägend handeln würden. Verändert wird die Welt vielmehr durch autonome, aktive Genies, die auf den "Weltgang nach frei-geistigen Gesetzen" Einfluss nehmen. An moralische Maßstäbe müssen sich diese "exzentrische[n] Geister-Regenten" (zit. auf S. 217) nicht halten, denn der "Einzelne" ist nach Jean Paul "frei", und zwar frei "zur schwärzesten und zur lichtesten Tat" 7. "Nur insofern, als eben die Dichtkunst diese südlichen und nördlichen Abweichungen aller Charaktere [...] unparteiisch auf- und untergehen lässet, bildet sie uns [...] zum Maße-Halten" 8.

Abgesehen von diesem Kontroverspunkt sind wir damit aber bereits bei den Fragen nach der poetischen Umsetzung, denen sich Berhorsts Arbeit im Anschluss an die überzeugende Darstellung des poetologischen Programms und der zeittheoretischen Überlegungen Jean Pauls widmet.

Binnenutopische Ruhe im Hesperus

Der durch die Erzählfiktion des Hesperus erweckte Eindruck der "Gegenwärtigkeit des Erzählers" (S. 242) und der "fortgesetzten und auf weitere Fortsetzung drängenden und unabgeschlossenen Geschichte" erzeugt für Berhorst nicht nur eine "Illusion gegenwärtig und irreversibel ablaufender Zeit" (S. 247), sondern stellt zudem die "Unmotiviertheit" und "Kontingenz" als Indiz der Historizität des Erzählten heraus (S. 250 f.). Berhorst schreibt dem Roman daher eine "dualistische Struktur" zu. Die "Zweistimmigkeit des Erzählers", der einerseits die Historizität seiner Geschichte postuliere, sich andererseits aber zur poetischen Täuschung bekenne, spiele das "Arkadien der totalisierenden Einbildungskraft [...] gegen die Geschichte" aus (S. 265 f.) und antizipiere in konsolatorischer Wirkungsabsicht eine "zukünftige, ideale Geschichte", die im "Telos der Ruhe" (S. 268) gipfele. So könne man "den Hesperus geradezu als Versuch lesen, die mehrschichtige Valenz des Begriffs der >Ruhe< auszudeuten und damit Interpretationen seines eigenen Telos zu geben." (S. 272)

Das Spektrum der Ruhe-Motivik verfolgt Berhorst auf Figuren- und Erzählerebene, in der Handlungsführung und bis in die poetische Landschaftsdarstellung hinein. Es umfasst neben der Vorstellung einer "erstarrte[n] Ruhe" der Hofleute (S. 271) die Vorstellung einer "Ruhe des Todes", letzteres exemplifiziert an Emanuels Sehnsucht nach dem Tod als "Anfang des wirklichen Lebens" in der "zweiten Welt" (S. 288 f.) und Viktors Sehnsucht nach dem "Tod als letzte[m] Ruhepunkt". Viktors Todessehnsucht konterkariert nach Berhorsts Interpretation seine Enttäuschung darüber, "das Ideal einer belebten Ruhe" (S. 276 f.) für sich nicht realisieren zu können. Erst seine Liebe zu Klothilde und seine Bekehrung zur Tugend (S. 294) eröffnen ihm den Weg zu einem Zustand "entzückter Ruhe in der Verklärung tugendhafter Liebe" (S. 302), und zwar durch die wechselhafte Imagination des Partners als Sterbenden und die auf diese Weise herbeigeführte Versöhnung von "Wirklichkeit und Phantasie" (S. 285) innerhalb einer temporär realisierten "Binnenutopie" (S. 297).

Auf der Ebene des Erzählers wie des impliziten Lesers allerdings bleiben nach Berhorst alle Ruhe-Konzeptionen problematisch: Mit der Aufhebung der epischen Distanz durch den Eintritt des Erzählers ins erzählte Geschehen behielten trotz der an die Ruhephasen geknüpften Episierungstendenzen der Zeit und des Raums die "Fabel des Romans und die Weltgeschichte [...] ihren dramatischen Zeitcharakter". Erzähler, Leser und Figuren blieben auf eine "unerfüllte[ ] Gegenwart" mit einem "offenen Zukunftshorizont" verwiesen (S. 303), sie könnten die binnenutopische Ruhe nicht konservieren, sondern nur in Form einer traurigen Erinnerung aufrufen.

Im Hinblick auf die grundlegende Skepsis Jean Pauls gegenüber allen geschichtsphilosophischen "Fixierungen eines goldenen Zeitalters" 9 in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann man berechtigte Zweifel an Berhorsts Bewertung des Ruhe-Telos für die Jean Paul'sche Geschichtsphilosophie haben. Zudem drängen sich Einwände gegen die entpolitisierende Deutung des Romans auf, etwa wenn Berhorst eine "völlige Ausschaltung politischer Kategorien" (S. 260) zu beobachten meint. Aber dennoch fördert die Interpretation durch die konzentrierte Auseinandersetzung mit der Zeit- und Ruhe-Semantik des Textes relevante Deutungsaspekte zu Tage und kann die teilweise disparat erscheinenden Episoden und Figuren des Hesperus in ein interessantes, so noch nicht gesehenes Beziehungsgefüge stellen.

Simultanisierung der Zeiten im Titan

Mit der binnenutopischen Realisierung eines "mythischen Zugleich von Vergangenheit und Zukunft" (S. 310), das die Zeit temporär stillzustellen vermag, kündigt sich für Berhorst im Hesperus bereits eine epische "Zeitstrategie" (S. 361) des Erzählens an, die sich im Titan auf komplexere Weise fortsetzt. Im Titan lasse sich ebenfalls von einem "utopische[n] Ziel" sprechen, wenn sich im Verlauf der Romangeschichte die "Überblendung von Vergangenheit und Zukunft zu einer nichtdefizitären Gegenwart" zusammenschließe. Sowohl die Figurenkonstellation, die den synkretistisch konzipierten Protagonisten Albano als "klassisch-romantische Figur" (S. 310 f.) zwischen Dian und Gaspard platziert, als auch der Romanbeginn auf Isola bella und der Romanschluss, der den Beginn wiederum alludiert, präfigurieren für Berhorst das "geheime[ ] Telos" des Romans, "Vergangenheit und Zukunft zu einer nicht-defizitären Gegenwart zu simultanisieren, in der sich Erinnerung und Antizipation überlagern" (S. 318). Damit verschiebe "Jean Paul unmerklich die Idealisierungsleistung der Poesie von der Evokation utopischer Hoffnung und der Antizipation eines zukünftigen idealen Weltzustandes auf die Gedächtnisfunktion der Literatur hin." (S. 334)

Handlungsrelevant werde dieses Verfahren zum Beispiel in der Liebesepisode zwischen Albano und Liane: Liane, der neben Albano das besondere Interesse Berhorsts gilt, sei im Roman die Rolle "einer zukünftigen Erinnerung zugedacht"
(S. 325 f.). Obwohl sie selbst mit ihrer Schwärmerei und Todessehnsucht für eine "missbräuchliche Form der Phantasie" (S. 331) stehe, könne sie durch ihren Tod eine zentrale Funktion für Albanos totalisierende Phantasie gewinnen: "Lianes Tod" sei "im Sinne der Zeitökonomie des Romans notwendig, damit sich schließlich in ihrer Wiedergängerin Idoine Vergangenheit und Gegenwart zu einem dann auch für Albano nicht-defizitären Idealzustand ergänzen können" (S. 334), resümiert Berhorst. Zugleich werde ihr Tod im Roman aber auch moralisch als Strafe der Nemesis für die Maßlosigkeit Albanos motiviert. (S. 337) Albano vergehe sich gegen das "Nemesis-Gesetz", wenn er sich gegen das Maßhalten wende und in der Liebe zu Liane bereits eine idealische Gegenwart erreicht zu haben meint, Grund für das "– vorläufige – Scheitern des Helden" (S. 335).

Endgültig zum Scheitern verurteilt seien dagegen die anderen ">hohen< Figuren des Romans", die wie Roquairol, Linda, Gaspard oder Schoppe für Berhorst jeweils "eine zerrüttende Form der Einbildungskraft" repräsentieren. Die Arbeit folgt den Implikationen der Zeit-Semantik im Hinblick auf dieses Scheitern jedoch nur am Beispiel Roquairols – ohne wirklich Überraschendes zu Tage zu fördern. Roquairol erscheint, wie schon häufiger in der Forschung konstatiert, als ein "Schuldner der Vergangenheit" (S. 344), der durch seine "antizipierende Phantasie [...] die eigene Zukunft" bereits aufgebraucht habe und nun in einer "Ungleichzeitigkeit" (S. 350) regrediere, die nur durch den eigenen Tod aufzuheben sei.

Berhorst verzichtet sowohl auf eine eingehendere Beschäftigung mit Linda und Gaspard als auch – und hier manifestiert sich das schon im ersten Teil deutlich werdende Desinteresse an Jean Pauls Humorkonzept – auf eine Analyse der Schoppe-Episoden, zugunsten einer eingehenderen Befassung mit dem idyllisierend ausgestalteten Romanende. "Am Ende des Romans schieben sich" für Albano, veranlasst durch die Wiederbegegnung mit Liane / Idoine, "symbolisch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer Zeiteben zusammen" (S. 365). Die "verlorene Vergangenheit" wird Albano, und dies macht für Berhorst das "Strukturprinzip des Romans" aus, "anamorphotisch als lebendige Gegenwart vorgespiegelt. Übersetzt in eine Romangeschichte wird die Zeit für den Helden zur >vorgespiegelten< Unendlichkeit, d.h. im Sinne der dargestellten Poetik Jean Pauls zu einer >ganzen< Gegenwart, die allerdings die Konnotationen des Künstlichen und Trügerischen mit sich führt." (S. 366) Damit aber stoße Jean Pauls Dichtung im Titan "an eine Grenze" (S. 375), die in den Flegeljahren nur noch ironisch überboten werden könne.

Selbstreferentielle Skepsis
in den Flegeljahren

Berhorsts Analyse der Flegeljahre verzeichnet eingangs einen ganzen Katalog von "verschiedenen Erscheinungsformen von Selbstreferentialität" (S. 380), die er im Anschluss an die Arbeiten von Andreas Böhn und Michael Vonau zur "Deutung der fragmentarischen Form des Romans" heranziehen will. (S. 374) Es kommt hier nach Berhorst vor allem durch die "Selbstthematisierung des literarischen Mediums" zu einer "Verselbständigung der Poesie", die sich zum einen zu Lasten der nicht mehr vollendeten, sondern fragmentarisch bleibenden Geschichte auswirke (S. 384), zum anderen eine geschichtsphilosophische "Skepsis gegenüber dem geschichtsantizipierenden Charakter der Dichtung" spürbar werden lasse: "Die Poesie ist hier nicht mehr eine >höhere< Geschichte, sondern das Verständnis der Geschichte als eine Art Poesie (etwa als ein Epos) wird als ein poetisches markiert." (S. 388)

Die Poesie diene Jean Paul hier nicht mehr als "Medium der totalisierenden Verklärung", sondern habe einen vom Leben ablenkenden mortifizierenden Charakter (S. 403), der sich in ironischen Selbstzitaten potenziere. Der dargestellte "epische Weltzustand" erweise sich somit in den Flegeljahren als "ein weltfremdes Trugbild", das auf "eklatante Weise" mit der Wirklichkeit kontrastiere (S. 402) und in "Phantasmagorien der Einbildungskraft" kulminiere (399 f.).

Entwicklungslinien im Romanwerk?

Die im Hesperus und im Titan beobachtete "Überblendung von Vergangenheit und Gegenwart" findet nach Berhorst in den Flegeljahren "fast nur noch in effigie" statt (S. 396). Auch poetische Totalisierungen der Zeit vermag Berhorst in diesem späten Roman kaum mehr auszumachen. Aber anstatt von diesen Beobachtungen ausgehend eine Typologie der Jean Paul'schen Zeitsemantik vorzunehmen oder das in den drei untersuchten Romanen beobachtete, differente Verwendungsspektrum in systematischer Hinsicht zu skizzieren, suggeriert Berhorsts Darstellung, eine Entwicklungslinie im Schaffen Jean Pauls ausgemacht zu haben. So heißt es beispielsweise, dass die "metamorphotischen Leistungen der Phantasie", die im Hesperus und im Titan der Ebene des Erzählers und des Lesers vorbehalten blieben, sich in den Flegeljahren nunmehr vornehmlich "auf die Rezeption oder Produktion von Literatur" bezögen. Hier werde daher "kein Arkadien der Zeitlosigkeit mehr" entworfen, "das für den Leser eine konsolatorische Funktion haben könnte" (S. 401) – für Berhorst "Indiz der Krise [...] des asymmetrisch gewordenen Verhältnisses von Phantasie und Realität" (S. 398), das den Erzähler in die Ironie ausweichen lasse.

Wie überzeugend aber ist die Konstruktion dieser Entwicklungslinie in Jean Pauls poetologischem Selbstverständnis? Tatsächlich hat Berhorst mit den drei interpretierten Romanen – eine Textauswahl, die, abgesehen von dem Hinweis auf die besondere Abgeschlossenheit des Titan und des Hesperus und die dagegen gesetzte Fragmenthaftigkeit der Flegeljahre (S. 2), leider nicht näher begründet wird – drei hinsichtlich des Verhältnisses von defizitärer Wirklichkeitserfahrung und poetisch evozierter Totalität differente und insofern systematisch signifikante Fälle aus dem Œuvre Jean Pauls ausgewählt. Die aus der chronologisch vorgehenden, interpretativen Zusammenstellung extrahierte und an sich relativ konventionell anmutende Entwicklungslinie von einer Überzeugung (dem relativ naiv anmutenden Vertrauen in das metamorphotische Potenzial der Poesie im Hesperus), die anlässlich einer Grenzerfahrung (der sich nur noch als "Trugbild" (S. 402) realisierenden Anamorphosen im Titan) in eine Krise übergeht, die nunmehr zu einer nur noch ironisch vertretenden Überzeugung führt, bleibt jedoch fragwürdig.

Wie hätte sich die Genealogie ausgenommen, wenn man etwa den Siebenkäs (1795 / 96) mit in die Interpretation einbezogen hätte? Hier klaffen bereits prosaische Wirklichkeit und Poesie auf eine kaum mehr zu überbietende Weise auseinander. Siebenkäs' Versuche, sich jenseits des häuslichen Elends eine idealische Phantasiewelt zu schaffen, in der >binnenutopische< Ganzheitserfahrungen wie etwa die Freundschaft zu Leibgeber möglich werden, obstruieren sein prosaisches, >wirkliches< Eheleben, bis sich die vermeintliche Rettung nur noch im Scheintod – also einer künstlichen und (be)trügerischen Form des Abschlusses – und dem Übergang in die "Fantaisie" finden lässt. Die Poesie ist auch hier schon wie später in den Flegeljahren "kein Medium der totalisierenden Verklärung" mehr, sondern dient der Polarisierung von Ideal und Wirklichkeit. Verklärende und idealisierende Elemente bilden vor allem im Roman der "deutschen Schule" 10 die eine Seite, satirische und humoristische Elemente die andere Seite eines poetischen Verfahrens, das ausdrücklich auf die Erzeugung von Kontrasten und Disharmonien angelegt ist.

Auch im Umfeld von Berhorsts Leitmetaphorik der optischen Verzerrungen formuliert Jean Paul seinen Anspruch auf Kontrastbildung. So interessiert ihn am Sehrohr insbesondere der "närrische[ ] Bund[ ] zwischen Fernsuchen und Nahesuchen" 11, d. h. die "Verbindung der Gläser, welche vergrößern, mit denen, welche verkleinern", weil dadurch "Bekanntschaft mit den entgegengesetzten Ansichten" gemacht werden könne. 12 Entsprechend nutzt der Autor seine Texte, um, dem Fernrohr gleich, seine "Vorliebe für Superlative – welche es auch seien – für unendliches Großes und unendliches Kleines, kurz für Maxima und Minima" auszuleben. 13 Eine Lesart, die sich nur auf Jean Pauls >hohes< Personal des italienischen Romantyps stützt und seine Dichtung damit einseitig auf Idealisierung und Harmonisierung festlegt, >halbiert< seine Poesie und entschärft die Sprengkraft seiner Texte.

Von einem Verfasser, der wie Berhorst Jean Paul in allen anderen relevanten Belangen "als Theoretiker ernst" nimmt (S. 1) und zudem, wie die Untersuchung beweist, die teilweise verstiegenen Ausführungen Jean Pauls präzise zu entschlüsseln vermag, hätte man sich auch eine entsprechende Anbindung an das Humorkonzept gewünscht.

Fazit

Ungeachtet der Einwände bzw. Kontroverspunkte besteht die unbestreitbare Leistung dieser luzide formulierten und anspruchsvollen Arbeit darin, dass sie die gattungsgeschichtlichen Kategorien Jean Pauls auf gründliche und systematische Weise in den poetologischen Diskurs der Zeit einordnet und der daraus resultierende "Semantik von Zeitbegriffen" bis in die Jean Paul'sche Romankonzeption hinein folgt. Berhorst hat damit für künftige Untersuchungen zur Jean Paul'schen Romanästhetik eine wertvolle Studie geliefert, zu dessen Benutzerfreundlichkeit die exkursartigen Fußnoten weniger, das Personenregister stärker beitragen. 14


Andrea Albrecht
Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Theaterstr. 7
D-37073 Göttingen

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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Daniel Fulda. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

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Anmerkungen

1 Jean Pauls Werke werden im Folgenden unter Angabe der Abteilung und des Bandes zitiert nach Jean Paul, Sämtliche Werke, Abt. I, 6 Bd., hg. v. Norbert Miller und Gustav Lohmann, München 1959 ff., hier:Jean Paul, Titan, I 3, S. 80.   zurück

2 Vgl. Götz Müller, Mehrfache Kodierung bei Jean Paul, in: Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 26/27 (1992), S. 67–91.   zurück

3 Jean Paul, Dr. Katzenbergers Badereise, in: I 6, S. 77–363, hier: S. 85.   zurück

4 Vgl. dazu z. B. Bernd Fischer, Das Eigene und das Eigentliche: Klopstock, Herder, Fichte, Kleist. Episoden aus der Konstruktionsgeschichte nationaler Intentionalitäten, Berlin 1995, S. 183–229, und Horst Turk, Am Ort des Anderen. Natur und Geschichte in Herders Nationenkonzept, in: Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität, Gesa von Essen/Horst Turk (Hg.), Göttingen 2000, S. 415–498, insb. S. 488 ff.   zurück

5 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, I 5, S. 7–514, hier: S. 252.   zurück

6 Ebd., S. 52.   zurück

7 Jean Paul, Dämmerungen für Deutschland, I 5, S. 917–1035, hier: S. 924 f.   zurück

8 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik (Anm. 5), S. 226.   zurück

9 Jochen Golz, Welt und Gegenwelt in Jean Pauls Titan, Stuttgart/Weimar 1996,S. 74 ff.   zurück

10 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik (Anm. 5), S. 265.   zurück

11 Jean Paul, Selberlebensbeschreibung, I 6, S. 1037–1103, hier: S. 1080 f.   zurück

12 Jean Paul, Politische Fastenpredigten, I 5, S. 1069–1193, hier: S. 1082.   zurück

13 Jean Paul, Selberlebensbeschreibung (Anm. 11), S. 1082 f.   zurück

14 Vgl. zur Einschätzung der Monographie auch: Geneviève Espagne, Ralf Berhorst, Anamorphosen der Zeit. Jean Pauls Romanästhetik und Geschichtsphilosophie, in: Arbitrium, 2/2002, S. 196–198, und die Rezension von Anette Horn, in: Monatshefte, Vol. 95, No. 2, 2003, S. 342–345.   zurück