Arnold über Proß: Herders Geschichtsphilosophie

IASLonline


Günter Arnold

Herders Geschichtsphilosophie
und ihre Quellen

  • Johann Gottfried Herder. Werke. Hg. von Wolfgang Proß. Bd. III / 1 Text und III / 2 Kommentar: "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit". München: Carl Hanser Verlag 2002. 1185 S., 1031 S. Geb. EUR (D) 100,- .
    ISBN 3-446-12898-0.


Im vergangenen Herbst erschien im Hanser-Verlag der abschließende dritte Band der Auswahlausgabe von Herders Werken. Langwierige Forschungsarbeiten des Herausgebers Wolfgang Proß und verlagsorganisatorische Probleme verursachten einen großen zeitlichen Abstand zu den 1984 und 1987 vorgelegten Bänden 1 und 2. Dessen ungeachtet überzeugt die Kohärenz des systematischen Aufbaus der Edition, in der sich die Einheitlichkeit und Kontinuität von Herders schriftstellerischem Schaffen spiegelt.

Der Inhalt der ersten zwei Bände

Band 1 hat den Untertitel Herder und der Sturm und Drang ; er enthält repräsentative Schriften zur Literaturkomparatistik, Selbstanalyse und geschichtsphilosophischen Zeitalterkritik bis 1773, deren programmatische Hauptgedanken vom Sturm und Drang in Anspruch genommen wurden, aber in ihren Ursprüngen und Wirkungen weit über diese sehr begrenzte, oft überschätzte Bewegung hinausreichen.

Band 2, Herder und die Anthropologie der Aufklärung , bringt die wichtigsten Schriften zur sensualistischen Ästhetik, zu Sprache, Tastsinn, Erkenntnistheorie und Naturphilosophie – Bausteine einer in der Jugendzeit geplanten Geschichte des Menschlichen Verstandes . Die in der Schreibweise behutsam modernisierten Texte beider Bände sind durch extensive Anmerkungen, tiefgründige Nachworte und kommentierte Register erschlossen, die zusammen jeweils ein Drittel des Bandes ausmachen.

Der exzeptionelle Schlußband

In den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit bündeln sich alle früheren Ansätze und Entwürfe Herders. Die vier Teile handeln von den natürlichen Voraussetzungen menschlichen Lebens auf der Erde, von der gesellschaftlichen Verfaßtheit des Menschen, seiner Bestimmung zur Humanität und seinen geschichtlichen Kulturleistungen vom Altertum bis zur Frühen Neuzeit. Dem Herausgeber und dem Verlag ist zu danken, daß dieses "Kompendium von Anspielungen auf das naturwissenschaftliche, physiologische, ethnologische und sozialtheoretische Wissen des 18. Jahrhunderts sowie dessen historisches Wissen und seine historische Reflexion" (III / 2, S. 9) in der gegenwärtigen Edition nach Umfang und Methode der Erschließung alle bisherigen Ideen-Ausgaben weit übertrifft. Auf 831 S. Herder-Text kommt mit mehr als 1350 S. Kommentar in kleinerer Schrift schätzungsweise das Dreifache an Editortext, im einzelnen 200 S. Nachwort, 115 S. dokumentarischer Anhang, 908 S. Anmerkungen, 111 S. Personenregister und 23 S. Sachregister, beide kommentiert und in sich untergliedert, das Sachregister systematische Zusammenhänge vermittelnd. Der Ideen-Band Martin Bollachers (1989), Bd. 6 der Herder-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (im folgenden DKV) enthält dagegen mit Nachwort und Register nur 300 S. Kommentar.

Die neuartige Methode
der Kommentierung

Trotz dieses unvergleichlich größeren Umfangs der neuesten Edition behalten die Ausgaben von Heinz Stolpe (2 Bände, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1965) und von Bollacher durchaus ihren spezifischen Eigenwert für die Einzelstellenerläuterung, auf der Proß oft aufbauen konnte bzw. mit der er sich kritisch auseinandergesetzt hat. Seine Kommentierung geht nicht von der Erklärung der Einzelstellen aus, sondern von den grundierenden Texten, "die Herder quasi als Unterlagen benutzte, auf deren Schrift- und Gedankenduktus er seine kontrastive Überschreibung vornahm" (III / 2, S. 11). Diese Quellen hat Herder meist nicht genannt oder nur abfällig erwähnt, während er ihnen in Wirklichkeit für Grundaussagen und Struktur seiner eigenen Darstellung wesentliche Anregungen verdankte. Als Beispiel dafür sei der französische Altertumsforscher Antoine Court de Gébelin (1725–1784) angeführt, über dessen Werk Le Monde primitif analysé et comparé avec le Monde moderne (Paris 1773–1782) Herder sich im ersten Band der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774; DKV, Bd. 5,
S. 325) und in einem Brief an Christian Gottlob Heyne vom 22. und 26. 1. 1774 abfällig äußerte. Ungenannt ist er in den Ideen an vielen Stellen Vorbild für die Naturalisierung des Geschichtsprozesses und in der Anwendung des Topos "Kette der Tradition" (vgl. III / 2, S. 496 f., Registerstellen S. 920).

Proß gründet seinen Kommentar auf nachweisliche oder vermutete Lektüren Herders, wofür er den Auktionskatalog Bibliotheca Herderiana (1804) ausgewertet hat. Unter den Zusatztexten und im Kommentar finden sich auch einige Entwürfe und ältere Niederschriften (meist nach der historisch-kritischen Ausgabe der Ideen von Bernhard Suphan, Berlin 1887 und 1909, einige ungedruckte nach dem handschriftlichen Nachlaß in der Staatsbibliothek Berlin), die von Herder aus Gründen der Selbstzensur wegen ihrer radikalen antifeudalen und antiklerikalen Aussagen vom Druck zurückgehalten worden sind. Dem wissenschaftlichen Benutzer wird somit eine Rekonstruktion von Herders Schaffensprozeß geboten, die er mit einiger Mühe nachvollziehen kann.

Die Lektüre eines Polyhistors

Damit ist sowohl Herder als auch sein gelehrter Herausgeber gemeint, der seine Kollektaneen aus Werken von mehr als hundert Autoren von der Antike bis ins späte 18. Jahrhundert in der Ausgabe präsentiert und den lateinischen, französischen, italienischen und englischen Texten eigene Übersetzungen beifügt. Die Namen mancher von ihnen sind, zumindest in Zusammenhang mit den Ideen, in der Herder-Forschung bisher nicht genannt worden. Die bloße Aufzählung kann einen Eindruck von universaler Bildung vermitteln: Adelung, d'Alembert, Amelot de la Houssaye, Aristoteles, Augustinus, F. Bacon, Beccaria, Berkeley, Bonnet, Boscovich, Buffon, Campanella, Camper, Cicero, Conring, Court de Gébelin, Cudworth, Daubenton, Denina, Derham, Descartes, Desmarest, Diderot, Diodor, Dubos, A. v. Einsiedel, Euler, Ferguson, Fontenelle, Friedrich II. der Große, G. Forster, Garve, Gassendi, Gatterer, Giannone, Gibbon, Goethe, Goguet, Grotius, A. v. Haller, Harris, Helvétius, F. Hemsterhuis, J. Hermann, Hippokrates, Holbach, Home, Huarte, Hume, Huygens, Iselin, F. H. Jacobi, Kant, Kielmeyer, Chr. J. Kraus, Lamarck, Lambert, La Mettrie, La Peyrère, Lavater, Leibniz, Lessing, Lichtenberg, Locke, de Luc, Lukrez, Machiavelli, Maupertuis, Meiners, Mendelssohn, Monboddo, Montesquieu, Muratori, Pascal, Pallas, de Pauw, W. Piso, Plinius Secundus d. Ä., Pluche, Priestley, Prudentius, Pufendorf, Raynal, H. S. Reimarus, Robert de Vaugondy, Robinet, Rousseau, Sarpi, Schiller, Seneca, Shaftesbury, A. Smith, Spinoza, G. E. Stahl, Tacitus, Thomasius, J. D. Titus, Toaldo, Vergil, Vico, Voltaire, J. G. Walch, Wieland, Winckelmann, Chr. Wolff, K. F. Wolff, E. A. W. Zimmermann. Von vielen weiteren Autoren sind Zitate in den Stellenkommentar eingearbeitet und exakte Quellenverweise, meist auf Ausgaben des 18. Jahrhunderts, angegeben.

Herders naturgeschichtliche Konzeption

Der durchgehenden Thematik der Ideen entsprechen die Hauptforschungsgebiete des Herausgebers, historische Anthropologie und Wissenschaftsgeschichte, und in der Entfaltung beider hat eindeutig die Naturgeschichte als Grundlage der Menschheitsgeschichte Präferenz gemäß dem Diktum Herders "Der Gott, den ich in der Geschichte suche, muß derselbe sein, der er in der Natur ist: denn der Mensch ist nur ein kleiner Teil des Ganzen" (III / 1, S. 612). Zwei Drittel des Kommentars und vier Fünftel des Nachwortes sind den naturgeschichtlichen Teilen 1 und 2 gewidmet, die – wie auch das 15. Buch der Naturgesetze der Geschichte – von der bisherigen Forschung weitgehend vernachlässigt worden sind.

Hierzu finden sich auch die meisten grundierenden Texte, vor allem von den Naturwissenschaftlern Buffon, Bonnet, Haller, Pallas, Zimmermann und den Philosophen Diderot, Helvétius, Holbach, La Mettrie, Lambert, Monboddo, de Pauw, Raynal, Reimarus, Rousseau und Spinoza. Für die Ausarbeitung der kulturgeschichtlichen Teile 3 und 4 waren die wichtigsten Quellenschriften die Geschichtswerke von Gibbon, Voltaire, Goguet, Ferguson, Denina, Meiners, Gatterer, Schlözer und Gottfried Arnold. Davon gibt es nur wenige Textauszüge; die Anmerkungen sind äußerst komprimiert, besonders die aus den antiken Originalquellen geschöpften Erläuterungen. Dem Primat einer zum Materialismus tendierenden Naturgeschichte – dafür spricht u.a. auch Herders Gedankenaustausch mit Einsiedel – ist die Zurückdrängung der heilsgeschichtlichen Betrachtungsweise der fast eschatologischen Bückeburger Geschichtsphilosophie geschuldet. Dementsprechend spielen theologische Probleme in den Erläuterungen mit Ausnahme des 17. Buches keine sehr große Rolle, wenn auch in multiperspektivischer Sicht über Herders religiöse Begrifflichkeit noch weiter nachzudenken ist.

Eine kohärente Komposition

Im Gegensatz zu vorherrschenden Meinungen der Literatur- und Philosophiegeschichte über Herders Widersprüchlichkeit, ursprünglich ausgelöst durch Kants ungerechte und verständnislose Ideen-Rezensionen, ist dieses große Werk, wie Proß in den Überblickskommentaren zu jedem Buch, aber auch in vielen Querverweisen zeigt, äußerst sorgfältig und kunstvoll gearbeitet im Hinblick auf eine logische Kontinuität, mit Kontrast- und Parallelstellen, die im Text z. T. weit voneinander entfernt sind und sich nur dem Blick auf das Ganze offenbaren. Beispiele dafür sind die gegensätzlichen Entwicklungen von Griechenland und Rom oder die Übertragung von Lamberts "Reihen" auf die Geschichte (vgl. III / 2,
S. 761 ff.). Die Kontinuität von Herders Schaffen insgesamt wird durch die ständigen Verweise auf die im ersten und zweiten Band dieser Ausgabe abgedruckten Schriften sowie auf Suphans historisch-kritische Gesamtausgabe wie auf den handschriftlichen Nachlaß evident (vgl. Herder-Registerstellen III / 2,
S. 931–936).

Das Nachwort

Der große Essay Natur und Geschichte in Herders >Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit< (III / 1, S. 839–1041) beschreibt die anthropologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Herders Anschauungen im Reisejournal und in der Bückeburger Geschichtsphilosophie, fragt nach der Möglichkeit eines göttlichen Ordnungsprinzips und nach Aporien der Tradition und widmet sich nach der Behandlung der Ideen selbst der Geschichte ihrer Nachwirkung im 19. und 20. Jahrhundert – ein Novum in der Forschung, für dessen weitere Bearbeitung der Herausgeber an seinem Berner Lehrstuhl wissenschaftsgeschichtliche Habilitationsschriften betreut.

Mit der vorliegenden, für Herder-Forscher wie für Aufklärungshistoriker vieler Disziplinen überaus anregenden Edition hat Proß den bedeutendsten wissenschaftlichen Beitrag zum Herder-Jubiläumsjahr 2003 geleistet, "den historischen Horizont dieses im besten Sinne europäischen Denkers auszuleuchten und für die aktuelle kulturwissenschaftliche Diskussion zu nutzen" (III / 1, S. 1041). Die Ausgabe sollte auch zum Anlaß genommen werden, über eine angemessenere Positionierung des großen Aufklärers in der Philosophiegeschichte nachzudenken.


Dr. Günter Arnold
Goethe- und Schillerarchiv
Editionen
Marstallstraße 3
D-99243 Weimar

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 22.04.2003
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]