Aust über Lampart: Zeit und Geschichte

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Hugo Aust

Walter Scott und seine Brüder
oder: Wieviele Anfänge
hatte der historische Roman?

  • Fabian Lampart: Zeit und Geschichte. Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans bei Scott, Arnim, Vigny und Manzoni (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 401) Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. 416 S. Kart. EUR (D) 51,-.
    ISBN 3-8260-2267-X.


Die These, die Fabian Lampart verficht, begegnet schon im Untertitel seiner Augsburger Dissertation (betreut von Hans Vilmar Geppert) und lautet: Der historische Romans geht, gattungsgeschichtlich gesehen, nicht nur auf Walter Scott zurück, sondern weist mehrfache Anfänge auf; neben Scotts Waverley sollten auch Achim von Arnims Die Kronenwächter, Alfred de Vignys Cinq-Mars und Alessandro Manzonis I promessi sposi als eigentümliche Anfänge des Genres anerkannt werden.

Darüber hinaus will Lampart beweisen, dass alle historischen Romane dieser >ersten Generation< das Zeitproblem thematisieren. Die Konflikte dieses Genres lassen sich demnach als Kollisionen zwischen unterschiedlichen Zeitentwürfen begreifen, d.h. als ein Gegeneinander von natürlicher und geschichtlicher, subjektiver und objektiver, privater und öffentlicher Zeit. Nach Lampart kommt hierbei selten ein Ausgleich zustande; typischer sind vielmehr die sich verhärtenden Widersprüche, die auf eine zugrundeliegende Aporie verweisen. Und schließlich geht es Lampart auch darum, die Bedeutung des Bildungsromans für den frühen Geschichtsroman zu unterstreichen.

Das ist eine anspruchsvolle, weit ausgreifende Aufgabenstellung, die beim Bearbeiter nicht nur souveräne Sachkenntnis und die Fähigkeit zum flexiblen Einsatz eines theoretischen Rüstzeugs, sondern auch hohes Geschick bei der Bewältigung unterschiedlicher Philologien voraussetzt. So gesehen, zeichnet sich eine komparatistische Studie ab, die wegen der Fülle ihrer Gesichtspunkte viel Anerkennung verdient und angesichts der methodisch versierten Zugriffsweise beeindruckt; ein reiches Programm wird geboten, ebenso klug wie umsichtig ausgeführt und ertragreich zum Abschluss gebracht. Dennoch befriedigt das Ganze nicht unbedingt, und das gerade auch dann, wenn man das Geleistete an seinem Anspruch misst.

Lampart möchte also beweisen, dass die Gattungsgeschichte nicht einen einzigen, sondern vier durchaus unterscheidbare Anfänge hat. Der eigentlichen Begründung gehen zwei theoretische Kapitel voraus, die vom "Dilemma um die Machbarkeit der Geschichte" (von Vico bis Hegel) und vom Verhältnis zwischen "Geschichtlichkeit" und "Zeitlichkeit" im Sinne Paul Ricœurs handeln. Der Ertrag dieser >Theorie< liegt in einem terminologischen Gewinn, der es ermöglicht, alle historisch-politischen wie auch privaten Konflikte als Zeitkonflikte zu identifizieren. Ob diese Umbenennung die Beweisführung der mehrfachen Anfänge wirklich erleichtert, mag fraglich bleiben.

Lampert begründet seine Auffassung im wesentlichen mit komparatistisch geführten Interpretationen, die zeigen, dass sich die vier Romane deutlich von einander unterscheiden, dass sie vor allem Besonderheiten aufweisen, die nicht vom sogenannten Scott-Modell abhängen bzw. nicht in ihm aufgehen, so dass sich schon zu Beginn der Gattungsgeschichte ein komplexer, mehrspuriger Verlauf des Genres abzeichnet.

Trotz alledem der erste Anfang

Um diese Argumentation nachvollziehen zu können, ist es zunächst erforderlich, den vier Roman-Interpretationen im einzelnen zu folgen.

Scotts Waverley (1814), der auch bei Lampart zunächst am Anfang steht und erst kraft eines dialektischen Prozesses von Pauschalisierung und Differenzierung den Ehrentitel mit den drei weiteren Werken teilen wird, ist aus mehreren Gründen ein Muster des historischen Romans: Er rückt von Anfang an, ja schon in der nachgeholten Vorgeschichte, den Aspekt der Vergeschichtlichung aller Lebensbereiche in den Vordergrund; das ist gewiss keine besonders neue Erkenntnis (schon Julian Schmidt wies auf das >genetische Prinzip< der Scottschen Erzählweise hin), unterstreicht aber den neuen Typus eines Erzählens, das europaweit als modern empfunden und bald als realistisch gelten wird.

Trotz solcher Bindungen legt sich – nach Lampart – das Werk, vielmehr seine auktoriale Stimme, nicht fest, sondern – auch das sah die Scott-Forschung schon oft – misst jenen Spielraum aus, den der fiktive (also nicht historisch beglaubigte) Romanheld mit seinem sprechenden Namen evoziert.

Infolge dessen hat schon bei Scott Vielerlei nebeneinander Platz, was die (neu entdeckte) rationale Geschichtsordnung eigentlich nicht mehr zulassen dürfte: Neben der Durchsetzung eines kohärenten Geschichtssinns behaupten sich unberechenbare Zufälle; einerseits zeichnen sich verlässliche, der Erkenntnis zugängliche Zusammenhänge ab, andererseits scheitern immer wieder betont subjektive "Weltentwürfe" (S. 138). Der historische Roman verläuft nach dem Muster der "Erkenntnisreise" (S. 129), die von der Zuversicht des Bildungsromans gelenkt wird, obwohl die pikaresken Momente der Desillusion nicht verschwunden sind.

Zu recht registriert Lampart am Scottschen Muster "die Offenheit und die Veränderbarkeit der Gattung" (S. 102). Das lässt eine bunte, vielfältige Gattungsgeschichte erwarten, die zwar von Scott ausgeht, aber dank seiner vielschichtigen (insbesondere auch ironischen) Vorgaben unterschiedliche, ja sogar entgegengesetzte Richtungen einschlagen kann. Folgt daraus schon, dass jede Abweichung und Abwendung von Scott unbedingt einen neuen Anfang setzen muss?

Drei Gegenentwürfe

Eigenart und Eigenständigkeit der Arnimschen Kronenwächter (1817) wurden schon oft betont, zumal im Zusammenhang eines an Scott orientierten historischen Erzählens. Lampart benutzt diese bekannte Außenseiterposition des Werkes zur grundsätzlichen Erweiterung des herkömmlichen Begriffs vom historischen Roman. Scott erhält bei dieser gattungsgeschichtlichen Flurbereinigung die Position eines realistischen Pols, von dem sich Arnims Fragment als romantischer (eigentlich >romantisch-realistischer<) Gegenpol absetzt.

Gemeint ist damit, dass Arnim nicht nur zeigt, wie alles auf der Welt dem geschichtlichen Wandel unterworfen ist, sondern dass er diesen Zustand auch aus kritischer Distanz betrachtet und die "unauflösbaren Widersprüche der menschlichen Zeitlichkeit" (S. 216) vor Augen führt. Die Mischung von Historischem, Sagenhaftem, Märchenartigem und Mythologischem zeige nicht nur die geradezu tödlichen Grenzen einer nur historisch konzipierten Lebens- und Weltform, sondern auch die Notwendigkeit ihrer Überwindung, um zur wahren Wirklichkeit vorzudringen, die dann nicht nur eine vergangene, sondern auch gegenwärtige, wenn nicht gar erst zukünftige wäre. Arnims besondere Erzählabsicht bewirkt nach Lampart auch eine Umstellung im Figurengefüge: An den Platz des blassen >mittleren Helden<, der mit den geschichtlichen Kräften nur in Berührung kommt, tritt die aktive Zentralfigur, die den geschichtlichen Kampf mehr oder minder erfolgreich ausficht.

Für Lampart übersteigt und erweitert somit Arnims Fragment (der Fragment-Status wird nicht weiter reflektiert) die "Möglichkeiten der Gattung" (S. 238). Das ist eigentlich eine merkwürdige Bilanz angesichts der sonst behaupteten Eigenständigkeit des >zweiten Anfangs<. Sowohl >Übersteigerung< als auch >Erweiterung< setzen ein Modell voraus, das ja bei Arnim nicht Scott sein kann. Die Frage, ob für Arnim nicht ein ganz anderes Modell der Anlass zur Nachfolge bzw. zum Gegenentwurf gewesen sein könnte, stellt Lampart nicht, obwohl er beiläufig Sottongs Abhandlung nennt, die in diesem Punkt die Traditionslinien klarer zieht.

In Cinq-Mars (1826) von Alfred de Vigny sieht Lampart einen weiteren "Gegenentwurf zu dem Scottschen Modell" (S. 294). Die Basis für diese Alternative liegt in der >Subjektivierung<. Darunter versteht Lampart ein von subjektiven Motiven bzw. Interessen ausgehendes politisches Handeln bzw. eine von persönlichen Absichten geleitete Geschichtsdeutung. Subjektiv sind die Handlungen Cinq-Mars' und Richelieus, weil sie von ahistorischen Kräften wie Liebe, Begehren, Ehrgeiz etc. bestimmt sind, und subjektiv ist de Vignys erzählte Geschichtsphilosophie, weil er, statt den historischen Fakten Rechnung zu tragen, sein Ideal einer restaurierten Feudalgeschichte exemplifizieren möchte.

Nach Lamparts Deutungsschema meint >Subjektivität< auch einen (für alle historischen Romane) "basale[n] Konflikt" zwischen "subjektiver und öffentlich geschichtlicher Zeit" (S. 292), konkreter zwischen individuellen, privaten Neigungen und öffentlichen Zwängen. Demnach unterliegt Cinq-Mars mit seinem Liebesbegehren demselben Gesetz, das als "Gesellschafts-Etwas" auch die (preußische) Frau im realistischen Eheroman vernichtet. Selbst der Gegenspieler Richelieu soll als Individuum solchen kollektiven Zwängen ausgeliefert sein, wofür sich allerdings in Lamparts Darstellung kaum Hinweise finden.

Genügt der Befund für die Behauptung eines neuen Anfangs? Sichtbar wird zweifelsohne, dass de Vigny nicht einfach Scott imitierte; bekannt ist auch, dass z.B. Mérimée und Hugo sich auf de Vigny beriefen. Steht aber diese Linie wirklich so im Gegensatz zu Scott, dass hier von einem eigenen Anfang die Rede sein muss? Reagiert Lampart nicht eher nur auf Lukács, dessen Vorlieben und Aversionen ein weiteres Mal kritisch ans Licht gerückt werden?

Alessandro Manzonis Mailänder Geschichte I promessi sposi (1825 / 26) gibt nach Lampart dem historischen Erzählen insofern einen neuen, eigentümlichen Anschub, als sie das Motiv der Geschichtsbegegnung im Schicksal der Brautleute konkretisiert, nach betont heilsgeschichtlichem Muster entfaltet und doch dessen unbedingte Geltung unter der Hand in Frage stellt. Eigentlich haben heilsgeschichtliche Deutungen im Bereich der säkularisierten Weltgeschichte ihre Berechtigung verloren. Wenn ihnen Manzoni zu später Stunde nochmals einen Sinn zuspricht, so sprengt er nicht nur das rationale Geschichtsmodell der Scottschen Romane, sondern riskiert auch eine Infragestellung seiner eigenen Voraussetzungen.

Denn das heilsgeschichtliche Modell umfasst bei Manzoni Dreierlei: die Anerkennung einer Wahrheit der Geschichte im Sinn eines providentiellen Verlaufs, die Forderung nach individueller Verantwortung im geschichtlichen Handeln und die Demonstration, dass in einer nur immanent gedachten Welt ohnehin alles nichtig sein muss. Nach Lampart hat dies zur Folge, dass Manzoni trotz der heilsgeschichtlichen Grundierung, die eher einen einsinnig geschlossenen Sinnkosmos erwarten lässt, einen vielstimmigen Roman vorlegt, dessen unterschiedliche >Einreden< den legendären Ton zurücknehmen oder gar entwerten (vgl. S. 374).

Für Lampart liegt hier der Grund, weshalb Manzoni über kurz oder lang den historischen Roman als verwirrendes Gebilde verurteilen musste. Gerade die Pest-Episode zeige, dass sich heilsgeschichtliche Deutungen, wie sie insbesondere von Romanfiguren ausgingen, gegenüber dem unmittelbar vor Augen geführten Geschehen als höchst unangemessen erweisen und dass sie im Grunde das Irrationale aller Deutungsversuche offenbaren.

Lampart verfolgt hier bereits angelegte Interpretationswege, verschwendet demnach auch keine Gedanken an eine mögliche Nachwirkung barocker Konzepte unter südlich katholischen Bedingungen und setzt – etwas gewaltsam – Manzonis Werk sogleich ans "Ende einer Entwicklung" (S. 377), obwohl es doch eigentlich darum ging, den >vierten Anfang< des historischen Romans zu ermitteln.

Gattungsgeschichte zwischen
Imitation und Familienähnlichkeit

Soweit also in Umrissen die Einzelbefunde, welche die These von den "mehrfachen Anfängen" stützen sollen. Was Lampart tatsächlich gelingt, ist der Nachweis, dass im deutschen, französischen und italienischen Beispiel eine prompte Umakzentuierung, Erweiterung und energische Verschärfung der im historischen Erzählen um 1800 angelegten Tendenzen erfolgt. Was weniger oder überhaupt nicht gelingt, ist der Nachweis, dass es sich hierbei um Anfänge handelt, also um etwas, dem nichts bzw. wenig vorausgeht und vieles, wenn nicht alles folgt.

Natürlich weiß Lampart, dass auch Scott kein >Anfang< im strengen Wortsinn ist, sondern manches schon früher begann. Aber welche Wirkungen zeitigten Lamparts identifizierte alternative Anfänge, wo lassen sich die Folgen der >anderen< Anfänge wirkungsgeschichtlich greifen? Wer beruft sich unter den jüngeren Autoren historischer Romane ausgerechnet auf Arnim, de Vigny oder Manzoni, wenn er sich von Scott distanzieren will?

Lamparts begrüßenswert weitgefasster Begriff von Geschichtsroman widerspricht nicht unbedingt einer behutsamen Orientierung an Scott und seinen durchaus pluralen Möglichkeiten. Waverley unterscheidet sich nicht nur von Ivanhoe, sondern auch von The Heart of Mid-Lothian oder Old Mortality. Hier nur von einem einzigen Anfang zu sprechen ist genauso unberechtigt, wie eine Reduzierung de Vignys auf Scott.

Nach Lamparts Zugriffsweise müsste auf Schritt und Tritt ein neuer Anfang begegnen (so bei Stifter, Fontane, Raabe, geschweige denn im 20. Jahrhundert), und zwar allein deshalb, weil sie sonst als Scott-Nachahmung gelten müssten. Trotz kurzfristiger Scott-Mode ist die Geschichte des historischen Romans, wie sie sich heute darstellt, keine Angelegenheit der Scott-Imitation. Noch nicht einmal Hauff hat Scott >imitiert<; und ist Puschkins Hauptmannstochter deshalb kein weiterer >Anfang<, weil er Scott nachahmt?

Was überhaupt hieß damals, Scott zu folgen, angesichts der kürzenden Übersetzungspraxis? Von Scott zu lernen und doch eigene Wege zu beschreiten – das ist der >normale< Verlauf einer an Umbrüchen (und Kontinuitäten) reichen Gattungsgeschichte.

Wollte Lampart wirklich seine These von den "mehrfachen Anfängen" durchfechten, hätte er sich die Aufgabe eigentlich leichter machen können: Er hätte sich auf einen zweiten Anfang begrenzen sollen und ihn wirklich als Beginn von spezifischen Folgen identifizieren müssen. Ohne den wirkungsgeschichtlichen Nachweis bleibt Lamparts Arbeit >nur< eine brillante Studie über die Verschiedenheit des europäischen Geschichtsromans seit Scott.


Prof. Dr. Hugo Aust
Universität zu Köln
Seminar für Deutsche Sprache und ihre Didaktik
Gronewaldstr. 2
D-50931 Köln (Lindenthal)
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Ins Netz gestellt am 14.11.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Daniel Fulda. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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