Baisch über Brackert/Fuchs-Jolie: Titurel

IASLonline


Martin Baisch

Die Aufgaben des Kommentars
Zu Helmut Brackerts und Stephan Fuchs-Jolies
neuer Ausgabe von Wolframs Titurel

  • Wolfram von Eschenbach: Titurel. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Kommentar und Materialien versehen von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie. Berlin et al.: Walter de Gruyter 2002. VIII / 513 S. / 5 Faksimiles / 1 Taf. Geb. Euro (D) 148,00.
    ISBN 3-11-015122-7.


Um Wolframs von Eschenbach sperrigstes Werk, den Titurel, hat die Forschung, trotz einiger gewichtiger Beiträge, einen Bogen gemacht: Wo zu Wolframs Parzival oder zum Willehalm in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine kaum überschaubare Zahl an Aufsätzen und Monographien publiziert wurden, ist es um die beiden kryptische Fragmente, welche die Geschichte der unglücklichen Liebe zwischen Sigune und Schionatulander >erzählen<, verhältnismäßig still geblieben. Diese Zurückhaltung der Forschung verwundert nicht, gilt doch dieser Text, so jedenfalls Joachim Bumke, als "eine der geheimnisvollsten Dichtungen der höfischen Zeit". 1 Sich den Geheimnissen von Wolframs Titurel zu nähern, einige dieser vielleicht sogar zu lösen, dafür haben nun Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie mit der hier anzuzeigenden, vorbildlichen Edition die besten Voraussetzungen geschaffen. 2

Aufbau und Struktur der Ausgabe

Auf ein umfangreiches Editorisches Vorwort (S. 1–62), in dem die Überlieferung des Titurel-Fragments vorgestellt und diskutiert wird und die Editionsgrundsätze dargelegt werden, folgen Text und Übersetzung (S. 63–157). Daran schließt eine vollständige Transkription der Handschrift M (S. 159–167) und ein Abdruck der sog. "Wiener Melodie" an, die auf dem Vorsatzblatt des Codex 2675 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien (= "Jüngerer Titurel" Hs. A) tradiert ist
(S. 169–171). Kernstück der Edition ist der voluminöse Stellenkommentar (S. 173–442), der nicht nur die gesamte Forschungsliteratur zu Wolframs schwierigem Werk aufarbeitet, sondern der aufgrund seines >offenen< und interpretierenden Charakters der Titurel-Forschung neue Impulse geben wird. Durch diesen Kommentar avanciert die Ausgabe von Brackert / Fuchs-Jolie zu einem wichtigen, ja unentbehrlichen Arbeitsinstrument bei der Beschäftigung mit dem Titurel-Fragment. Bibliographien und Register (S. 443–506) sowie ein Anhang, der Faksimiles zur Überlieferung in ausgezeichneter Qualität und eine Tafel der im Titurel und Parzival dargestellten Verwandtschaftsverhältnisse präsentiert, beschließen den vorzüglich ausgestatteten Band.

Unter den Registern sind besonders das Verzeichnis der im Titurel ja häufigen Eigennamen, in das alle Personennamen, Ländernamen und deren Ableitungen sämtlicher in den drei Handschriften G, H und M enthaltenen Strophen aufgenommen sind, und ein Wortregister zum Text hervorzuheben, das sämtliche Substantive, Adjektive und Vollverben des Textes nach der vorliegenden Edition verzeichnet. Schließlich enthält der Band noch ein Register zum Stellenkommentar, das auch das Editorische Vorwort mit einbezieht, und eine Konkordanz der Strophennummern, das die handschriftliche Überlieferung, die Wolfram- und Albrecht-Editionen berücksichtigt.

Überlieferung und Edition

Bekanntermaßen überliefern drei Handschriften, die unmittelbar mit dem Autornamen Wolfram von Eschenbach in Zusammenhang gebracht werden können, Textmaterial aus dem Titurel. 3 Neben der wertvollsten, weil mit insgesamt 164 Strophen beide Fragmente überliefernden Münchner Wolfram-Handschrift G 4 existiert noch eine Münchner Handschrift M (Gt) 5, die 46 Titurel-Strophen enthält. Sie besteht aus drei einem Codex-Einband entnommenen Pergamentblättern, von denen z. T. nur Streifen die Zeit überdauert haben. 6 Schließlich finden sich noch 68 Strophen im Ambraser Heldenbuch H, 7 das zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstand.

Die Handschriften M und H, also die kleinere Münchner und die Ambraser Handschrift, bieten zusammen gegenüber G elf Plusstrophen. Wolframs Fragmente – freilich in (mehrfach) umgearbeiteter Form – finden sich in zahlreichen Handschriften, die zunächst denselben, dann aber einen anderen Autorennamen aufweisen. Albrecht operiert in seinem Roman vom "Jüngeren Titurel" mit dem Verfassernamen >Wolfram<: Erst spät im Textverlauf (Str. 5961) wird diese Autorisierungsstrategie als fiktional enttarnt. 8 Albrecht und einige der Redaktoren dieses Romans inserierten die Wolfram-Strophen in ein Romanwerk, das in mehreren Tausend Strophen auserzählt, was bei Wolfram – gerade im Vergleich mit den 6327 Strophen Albrechts – Fragment zu sein scheint. 9 Aus dem Vergleich der Überlieferung zum "Jüngeren Titurel" mit den drei Wolfram-Handschriften ziehen Brackert / Fuchs-Jolie folgende Schlüsse:

Albrechts Vorlage und die des Redaktors JT R war offenbar eine >vermittelnde Zwischenstufe< zwischen G und HM, die deutlich näher bei HM steht, sich aber nicht eindeutig zu einer der Wolfram-Handschriften stellt. Daraus folgt, daß wir noch von zwei weiteren Überlieferungszeugen von Wolframs Strophen ausgehen können [...], die sich zwar nicht erschließen lassen, aber von denen zumindest gesagt werden kann, daß sie in keinem direktem Abhängigkeitsverhältnis zu den drei bekannten Wolfram-Handschriften stehen. Im Hinblick auf die Tradierung der Wolfram-Fragmente lässt dies den Schluß zu, daß erstens Wolframs >Titurel< im 13. Jahrhundert offenbar vor allem in H-nahen und HM-nahen Fassungen verbreitet war, daß man aber zweitens von >Mischtexte[n] verschiedener Art< ausgehen muß, >die nicht notwendig das Ergebnis von Kontaminationen gewesen sein müssen<.
(Brackert / Fuchs-Jolie, S. 14 f.) 10

Die Titurel-Fragmente werden somit, wie nicht wenige epische Texte im 13. Jahrhundert, in zwei Fassungen tradiert, die sich hinsichtlich Textbestand und Textformulierungen unterscheiden. Der Münchner Codex G repräsentiert die eine Fassung, die andere wird durch die Handschriften H und M vertreten:

G und HM (JT) stehen sich gegenüber, aber nicht als fest ausgebildete Zweige einer zweigeteilten Überlieferung, deren Filiationen stemmatologisch im Hinblick auf einen Archetypus bestimmbar wären. Allenfalls lässt sich von zwei parallelen Fassungen *G und *H oder auch *HM sprechen, wenn man den Begriff der >Fassung< von Vorstellungen der Autornähe und textgenetischer Priorität freihält und eine breite, ursprüngliche Varianz der Texte konzediert [...].
(Brackert / Fuchs-Jolie, S. 17) 11

Die beiden Fassungen unterscheiden sich dort, wo sie über einen gemeinsamen Strophenbestand verfügen, in der Anzahl und Reihenfolge der Strophen, 12 in der Textfolge und den Textformulierungen. Dennoch haben sich Brackert / Fuchs-Jolie in der vorliegenden Edition dazu entschlossen, bei der Präsentation des Textes einer Leithandschrift zu vertrauen:

Ein Text, der den Anspruch auf größere Autornähe gegenüber den einzelnen Fassungen erheben könnte, ist nicht zu erreichen, da die Konzeption eines in diesem Sinne >kritischen< Textes an der leitenden Vorstellung eines Archetypus hängt, der angesichts dieser Überlieferungssituation in keiner Weise rekonstruierbar ist. Für eine Edition von Wolframs >Titurel<-Fragmenten kann daraus nur folgen, sich einer Handschrift anzuvertrauen und von ihr nur abzugehen, wo diese keinen als sinnvoll zu erweisenden Text bietet. Diese Handschrift kann nur G, die Münchner Handschrift Cgm 19 sein. Eine kritische Präsentation der Fassungen H oder HM ist wohl ausgeschlossen. (Brackert / Fuchs-Jolie, S. 42) 13

Eine kritische Präsentation aller Titurel-Fassungen hat aber Joachim Bumke im Rahmen seiner Edition der Nibelungenklage gefordert: "Kritische Parallelausgaben verschiedener Fassungen empfehlen sich auch [...] für Wolframs >Titurel<-Fragmente (Fassung *G und *HM)." 14 Überdies haben Joachim Bumke und Joachim Heinzle auf der letzten Tagung der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft über den Plan ihrer Titurel-Ausgabe berichtet, welche die Gleichwertigkeit der Fassungen *G und *HM sichtbar machen will und zudem der Überlieferung des "Jüngeren Titurel" stärkeres Gewicht beimessen wird. Brackerts / Fuchs-Jolies Entscheidung, nach gründlicher Aufarbeitung der schmalen wie komplexen Überlieferung ihre Ausgabe des Titurel nicht als Paralleledition vorzulegen, basiert wohl auf dem Prinzip, "die Präsentation des Textes in seinem Schrift- und Erscheinungsbild sowie der Apparate und Materialien an den Erfordernissen praktischen Gebrauchs auszurichten" (Brackert / Fuchs-Jolie, S. 41). Diesem Prinzip der Lesbarkeit ist ja auch die Beifügung einer Übersetzung geschuldet, welche bei Abdruck paralleler Fassungen nur schwerlich einen geeigneten Platz auf einer Buchseite hätte finden können. 15

"Zusatzstrophen"

Die Schwierigkeit, die Titurel-Ausgabe leserfreundlich zu gestalten und dennoch dem Postulat philologischer Genauigkeit Genüge zu tun, zeigt die Behandlung der sog. "Zusatzstrophen" bei Brackert / Fuchs-Jolie. Dabei ist es methodisch notwendig, die Titurel-Überlieferung im Kontext weiterer Überlieferungsvorgänge jenes Skriptoriums zu betrachten, in dem u.a. der Cgm 19, die große Münchner Wolfram-Handschrift, angefertigt wurde. Textverändernde bzw. textkürzende Eingriffe während der Abschrift gehören nach den Erkenntnissen Thomas Kleins zum Usus dieser Schreiberwerkstatt. Folgt man dieser Einschätzung, so ist damit zu rechnen, daß auch jene 164 Strophen der Münchner Wolfram-Handschrift eine spezifische Prägung bei der Abschrift in diesem Skriptorium erhalten haben. 16

Wie schon erwähnt, fehlen dem Titurel im Cgm 19 gegenüber den beiden anderen Textzeugen elf Strophen [30 (H); 31; 33; 34; 36 (HM); 53 (H); 81 – 84, 87 (M)]. 17 Diese Strophen finden sich auch alle im "Jüngeren Titurel". 18 Ein Teil dieser Strophen zeigt den Zäsurreim [33 (?); 34; 81 – 84], "wie es für Albrechts Bearbeitung charakteristisch ist". (Brackert / Fuchs-Jolie S. 18) Dies war der Forschung Grund genug, an der >Echtheit< dieser Strophen zu zweifeln, d.h. danach zu fragen, ob diese Strophen überhaupt von Wolfram selbst stammen konnten.

Dabei ist aber zu berücksichtigen, "daß sich auch im Bestand der noch nie bezweifelten Wolfram-Strophen Beispiele für einen möglichen Zäsurreim finden lassen, der den formalen Vorstellungen der Albrecht-Strophe genügen würde: In Strophe 134 (nach G) und Strophe 66 (nach H)." (Brackert / Fuchs-Jolie S. 18) Die Geschichte der Textkritik zu Wolframs Fragment ist in weiten Teilen eine Diskussion um die >Echtheit< dieser Strophen bzw. um die Auffindung weiterer Strophen Wolframs im Roman von Albrecht. In Hinblick auf den unterschiedlichen Strophenbestand der beiden Fassungen von Wolframs Titurel konstatiert Klein, "daß höchstwahrscheinlich ein Teil der HM-Plusstrophen [die in G fehlen] von Wolfram stammt, möglicherweise auch noch die eine oder andere im "Jüngeren Titurel" steckende und über den GHM-Bestand hinausgehende Strophe. Wieviele aber und welche – das bleibt die Frage." 19

Die der Handschrift G fehlenden Strophen, die, wie deutlich geworden ist, kaum als "Zusatzstrophen" zu bezeichnen wären, werden bei Brackert / Fuchs-Jolie wie folgt behandelt: "Um dem Vorwurf des Konglomerats so weit als möglich entgegenzutreten, haben wir die elf Zusatzstrophen durch Einzug und Schrifttype so ausgezeichnet, daß dem Benutzer auf den ersten Blick und unzweifelhaft ein Sonderstatus signalisiert wird." (Brackert / Fuchs-Jolie, S. 43) Dieser Sonderstatus wird darüber hinaus durch Stellungnahmen im Kommentar unterstrichen.

Kommentar und Interpretation

"Kommentare sollten der Traum jedes Dekonstruktivisten sein." 20

Den Mittelpunkt der vorliegenden Edition bildet der reiche und reichhaltige Stellenkommentar. Dieser gliedert das Fragment in einzelne, mit Überschriften versehene Textabschnitte: Einleitungen, die den Inhalt des Textes skizzieren und Deutungsansätze der Forschung knapp skizzieren, lenken das Textverständnis des Lesers oder der Leserin, bevor der Kommentar Strophe für Strophe, Vers für Vers, Wort für Wort mit seiner wissensvermittelnden Arbeit einsetzt. Dieser "nicht nur für Fachwissenschaftler konzipierte[.] Stellenkommentar" (S. 41) besitzt eine >offene< Form: er ist philologisch-kontextualisierend und hermeneutisch-interpretierend ausgerichtet. 21 Diese Anlage des Kommentars ist einerseits als Folge der spezifischen Auffassung zu verstehen, welche die beiden Herausgeber sich grundsätzlich von Wolframs Werk gebildet haben: Brackert / Fuchs-Jolie interpretieren den Titurel nämlich als einen Text, "der [...] nachhaltig und auf [...] vielerlei Weisen die Grenzen des Sagbaren ausmisst und so die Grenzen der Verstehbarkeit strapaziert". (S. 59) 22 Andererseits konnten Brackert / Fuchs-Jolie auf die Erträge des Kommentars von Joachim Heinzle zurückgreifen, der in philologisch-kontextualisierender Perspektive Grundlagenarbeit geleistet hat. 23

Insofern Brackert / Fuchs-Jolie aber den ihrem Kommentar zugrunde liegenden Interpretationsansatz methodisch transparent und überprüfbar halten, ist ihre Form des Kommentierens, die sich des Öfteren dem Begriff der Interpretation nähert, gerechtfertigt und, wie ich meine, notwendig. Der Versuch einer Differenzierung zwischen kommentierender und interpretierender Rede, wie sie Roger Lüdeke (im Sinne einer Arbeitsdefinition) vorgelegt hat, 24 ist hier an seine Grenzen geführt, weil im vorliegenden Stellenkommentar der Übergang des Kommentierens zur eigentlichen Interpretation nicht nur immer wieder erfolgt, sondern sich auch immer wieder als begründet zeigt (vgl. etwa als ein Beispiel unter vielen den Kommentar zu Str. 159,2).

Textkritische Entscheidungen wie Interpretationsvorgaben, die der Kommentar bietet, sind damit kontrollierbar und zielen auf die (kritische) Weiterarbeit durch den Benutzer:

Charakter der Forschung: Artikuliert die Institution >Kommentar< das präsente und – wie die auf Besitz codierte allgemeine Rede gerne formuliert – >gesicherte< Wissen zu einem bestimmten Zeitpunkt, so ist dieses Wissen von Anfang an in der Differenz zum Gedanken der Forschung, der seine Bewegung gerade in der Überschreitung des je aktuellen Wissens hat. [...] Soll der Kommentar der Forschung helfen, dann kann er aus diesem Wissen heraus gar nicht wollen, sein aktuelles Wissen sprachlich so festzuschreiben, daß die Widerreden und der Forschungsprozeß mit ihm zu einem Ende kommen, nicht einmal zu einem vorläufigen. Im Gegenteil, er müsste sich als Moment dieses Prozesses verstehen und Kontroversen und Diskussionen aufgreifen, gar provozieren wollen. Das vorletzte, nicht das letzte Wort wäre es, was er anstrebte. 25

Eine andere Kommentarform, gar eine kommentarlose Editionspraxis, wie sie auch die jüngere Editorik der Mediävistik kennzeichnet, 26 scheint deshalb aufgrund der spezifischen Poetik des Textes dem Titurel prinzipiell unangemessen. Ein Kommentar zum Titurel, der sich programmatisch der Interpretation des Textes zu enthalten versuchte, würde mehr Fragen heraufbeschwören als beantworten. Allerdings legen Brackert / Fuchs-Jolie den Kommentar zuweilen emphatisch-wertend an (besonders etwa in den Einleitungen zu den Textabschnitten S. 190 f. und S. 206 ff.), was problematisch ist, weil damit eine Textstrategie durch den Kommentar nicht als besondere poetische Leistung der Fragmente herausgestellt wird, sondern als a priori gegeben, als gleichsam naturalisiert erscheint. Auch dies ist wiederum als Entsprechung einer bestimmten, schon angesprochenen Interpretation des Textes zu verstehen.

Die These einer strukturellen Affinität zwischen der dekonstruktivistischen Lektürepraxis und dem Vorgehen des Kommentars, die Hans Ulrich Gumbrecht in seinen Vorlesungen über Die Macht der Philologie postuliert, 27 findet in der Anlage des Kommentars bei Brackert / Fuchs-Jolie eine Bestätigung: Insofern der Titurel vielleicht mehr als andere Texte eine je endgültige Abgeschlossenheit (der Sinnzusammenhänge) vermissen lässt, scheint der (hermeneutisch-interpretierende) Kommentar (die dekonstruktivische Lektüre?) das geeignete Instrument zur Beschreibung und Analyse der beiden Fragmente.

Text und Übersetzung

Den Titurel Wolframs von Eschenbach kann man nicht übersetzen. Setzt man sich als Herausgeber dennoch aus guten Gründen 28 dem Wagnis einer Übersetzung aus, so bleibt nur die Möglichkeit, an Wolframs poetisch-komplexer Sprache zu scheitern: Das Scheitern freilich kann unterschiedlich ausfallen.

Brackert / Fuchs-Jolie gelingt es in ihrer Übersetzung des Titurel, die "Vieldeutigkeit, Rätselhaftigkeit, Widerständigkeit und Fremdheit des Textes zu akzentuieren" (Brackert / Fuchs-Jolie S. 59). Deshalb lehnt sich die Übersetzung zuweilen eng an den Wortlaut und die Bildlichkeit des mittelhochdeutschen Textes an. Vorbildhaft mag hier die Parzival-Übersetzung von Peter Knecht gewesen sein, der ähnlichen Prinzipien gefolgt ist. 29 Zuweilen erinnert die Übersetzung an das, was Heinz Schlaffer "philologische Zwischensprache" genannt hat. 30 Natürlich problematisiert der Kommentar immer wieder einzelne Übersetzungen. Zu fragen wäre aber vielleicht, weshalb die angebotene Übersetzung im Textteil auf eine festgelegt wird, wieso nicht das Angebot unterschiedlicher Übersetzungsversuche gemacht wird? Hier lässt sich freilich wieder das pragmatische Prinzip der Lesbarkeit ins Feld führen.

Fazit

Ein sacherschließender Kommentar müßte dem Leser genau diese Möglichkeit an die Hand geben: sich dem Gegenstand vorbehaltlos zu überlassen, der geregelten Spekulation jenen Spielraum zu eröffnen, in dem es einem vielleicht möglich wird, die immanenten Bezüge eines Textes zum Leuchten zu bringen. 31

Die vorliegende Ausgabe des Titurel ist ein Meisterstück philologischer Bemühung, durch die für diesen schwierigen, anspruchsvollen und bedeutsamen Text mit Sicherheit neue Leser wie neue Erkenntnisse gewonnen werden. Sie kann als Meilenstein altgermanistischer Editorik auch deshalb gelten, weil sie einen historisch gewachsenen Gegensatz überwindet, den eine Textkritik als Grundlage historischer Wissenschaften nicht akzeptieren kann. Die oft monierte Kluft zwischen Editoren, welche einen Text edieren, aber nicht interpretieren, und Literaturwissenschaftlern, welche in ihren Interpretationen auf Erkenntnisse der Textkritik verzichten zu können meinen, ist durch Brackerts / Fuchs-Jolies leuchtende Kommentierung des Titurel überwunden: Sie zielt gleichermaßen auf den Literaturwissenschaftler mit textkritischem Bewusstsein und den Textkritiker mit literaturwissenschaftlichem Bewusstsein.

Anzumerken ist aber auch hier, daß das Sein einmal mehr das Bewusstsein bestimmt: Der stattliche Band hat einen ebenso stattlichen Preis. Umso mehr ist den Herausgebern und dem Verlag zu danken, daß sie eine preiswertere Studienausgabe möglich gemacht haben, welche den Text, seine Übersetzung und einen gegenüber der großen Ausgabe klug gekürzten Stellenkommentar enthält. 32


Dr. Martin Baisch
Freie Universität Berlin
Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften
Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
Habelschwerdter Allee 45
D - 14195 Berlin
Homepage

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 22.12.2003
IASLonline

IASLonline ISSN 1612-0442
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Anne Bohnenkamp-Renken. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück | Partner ]

Anmerkungen

1 Joachim Bumke: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990, S.178.   zurück

2 Das jahrzehntelange Fehlen einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Ausgabe des Titurel mag für die erwähnte Zurückhaltung der Forschung ebenso ursächlich gewesen sein.   zurück

3 Vgl. zu einer Beschreibung dieser Textzeugen Brackert / Fuchs-Jolie S. 6–9.   zurück

4 Wolfram von Eschenbach: "Parzival", "Titurel", "Tagelieder". Cgm 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München, fol. 71 / 74 und 72 / 73.   zurück

5 Cod. ms. 154 (= Cim. 80b) der Universitätsbibliothek München.   zurück

6 Vgl. hierzu die Abbildungen in Wolfram von Eschenbach: "Titurel". Abbildung sämtlicher Handschriften mit einem Anhang zur Überlieferung des Textes im "Jüngeren Titurel". Hg. von Joachim Heinzle (Litterae 26) Göppingen: Kümmerle 1973, S. 14–17. Eine vollständige Transkription der Handschrift M, wie erwähnt, bieten Brackert / Fuch-Jolie S. 159–167.   zurück

7 Ser. Nova 2663 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien.   zurück

8 Dem Mittelalter und auch noch der sich etablierenden Germanistik zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt der "Jüngere Titurel", der in an die 60 Textzeugen überliefert ist, als ein Werk Wolframs von Eschenbach. Der Erfolg dieses Textes mag für die geringe Handschriften-Zahl des Titurel-Fragments Wolframs mit verantwortlich sein.   zurück

9 Albrecht: "Jüngerer Titurel". Bd. 1 mit Str. 1–1957 hrsg. von Werner Wolf (DTM 45) Berlin: Akademie-Verlag 1955; Bd. 2 mit Str. 1958–4394 hrsg. von Werner Wolf (DTM 55 und 61) Berlin: Akademie-Verlag 1964–68 ; Bd. 3 mit Str. 4395–6237 nach den Grundsätzen von Werner Wolf hrsg. von Kurt Nyholm (DTM 73 und 77) Berlin: Akademie-Verlag 1985–92; Bd. 4 Textfassungen von Handschriften nach den Mittelgruppen. Hrsg. von Kurt Nyholm (DTM 79) Berlin: Akademie-Verlag 1995.   zurück

10 Brackert / Fuchs-Jolie bestätigen damit im wesentlichen die Ergebnisse der textkritischen Untersuchungen von Joachim Bumke (J.B.: Zur Überlieferung von Wolframs "Titurel". Wolframs Dichtung und der "Jüngere Titurel". In: ZfdA 100 (1971), S. 390–431; ders.: Titurelüberlieferung und Titurelforschung. Vorüberlegungen zu einer neuen Ausgabe von Wolframs Titurelfragmenten. In: ZfdA 102 (1973), S. 147–188).   zurück

11 Vgl. hierzu Joachim Bumke: Die vier Fassungen der "Nibelungenklage". Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8) Berlin / New York: Walter de Gruyter 1996, S. 42, 44 und 48.   zurück

12 Eine genaue Darstellung und Analyse des Strophenbestands und der Strophenfolge bei Brackert / Fuchs-Jolie S. 17–25.   zurück

13 Vgl. auch Brackert / Fuchs-Jolie, S. 43: "Der von uns edierte Text ist demnach nicht ein kritisch hergestellter, dem Ideal eines Archetypus verpflichteter Text, sondern die Lesung einer möglichst zurückhaltend bereinigten Leithandschrift. Leithandschrift ist die Handschrift G bei allen Strophen, die G überliefert. Wo G nicht überliefert, ist H Leithandschrift, wo G und H nicht überliefern, die Handschrift M."    zurück

14 Die "Nibelungenklage". Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen. Hg. von Joachim Bumke. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1999, S. 557.   zurück

15 Die vielfältigen Möglichkeiten einer elektronischen Edition (des Titurel) sollen hier nicht diskutiert werden.   zurück

16 Vgl. hierzu Martin Baisch: Anekdotische Varianz. Untersuchungen zur kulturellen Funktion mittelalterlicher Überlieferung am Beispiel der Handschriftengruppe um den Cgm 19 und Cgm 51. Diss. Phil. FU Berlin 2000 [im Erscheinen].   zurück

17 Es scheint, als ob H und M im Strophenbestand übereinstimmten.   zurück

18 In der vergleichbaren Textpartie finden sich bei Albrecht noch 33 weitere Strophen. Vgl. Albrecht: "Jüngerer Titurel". Bd. 1 mit Str. 1–1957.   zurück

19 Thomas Klein: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis. In: Wolfram-Studien XII (1992), S.32–66, hier: S.63. Der bisher letzte Versuch, eine Strophe aus dem Roman Albrechts für den Wolframschen Titurel zurückzugewinnen, stammt von Walter Röll: Studien zu Text und Überlieferung des sogenannten "Jüngeren Titurel" (Germanische Bibliothek. Dritte Reihe. Untersuchungen und Einzeldarstellungen) Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1964, S. 118 f. Joachim Bumke hat mit guten Gründen widersprochen (J. B.: Eine neue Strophe von Wolframs "Titurel"? In: Euphorion 61 (1967), S.138–142).   zurück

20 Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2003 (zuerst: The Powers of Philology. Illinois University Press 2002), S. 82.    zurück

21 Roger Lüdeke: Kommentar.
In: http://www.edkomp.uni-muenchen.de/CD1/frame_edkomp.html:
"Auf der Grundlage der bestehenden kulturwissenschaftlichen Funktionsbestimmung des K.s bietet sich die funktionale Unterscheidung zwischen eher offenen und eher geschlossenen K.formen an. Eine Aufwertung des offenen K.begriffs ist kennzeichnend insbesondere für die Literaturtheorie im Umfeld des französischen Poststrukturalismus, derzufolge die stabile Bedeutungseinheit des Texts durch das vom K. gelieferte, subjektive Autorintentionen (Autor) übersteigende, intertextuelle Gewebe (Intertextualität) von Parallelstellen, Quellenzitaten und überlieferten Deutungen unterlaufen wird."   zurück

22 Exemplarisch für die poetische Verfahrensweise in Wolframs Titurel, wie sie von Brackert / Fuchs-Jolie beschrieben wird und wie sie die Anlage des Kommentars bestimmt, mag folgendes Zitat sein, das sich auf die im ersten Teil des Fragments geschilderte Jugend Sigunes bezieht: "Einer solchen, auf Dekonstruktion und Sinnverlust zielenden Poetik des Erzählens lässt sich entgegenhalten, daß auch eine >auf Unstimmigkeit hin stilisierte Darstellung<, eine offengelegte Uneinholbarkeit epischer Totalität – wenn auch ex negativo – nur einer Idee innerer Stimmigkeit gilt, die die metaphorische Dichte der Details, die Verweisungsfülle und Verknüpfungspotenzen sprachlicher Zeichen und Gesten nicht trifft. [...] Die Logik des Erzählens folgt nicht mehr dem Paradigma kommensurabler und linearer, gleichsam zweidimensionaler Handlungsentwicklung, sondern ist einem vieldimensionalen erzählerischen Raum geschuldet: Jede Stelle eröffnet Anknüpfungspunkte an eine andere Geschichte, eine andere Figur, einen anderen Gedanken, eine andere Metapher." (Brackert / Fuchs-Jolie, S. 207 f.)    zurück

23 Joachim Heinzle: Stellenkommentar zu Wolframs Titurel. Beiträge zum Verständnis des überlieferten Textes (Hermaea N.F. 30) Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1972. Vgl. Brackert / Fuchs-Jolie S. 60 f.   zurück

24 Roger Lüdeke (Anm. 21): "So zielt der Kommentar in der Regel vorrangig auf Vermittlung von Wissen, welches der Interpretation als Grundlage einer vorrangig auf Verstehen ausgerichteten Praxis dient. Dominante Formen der argumentativen Rede des Kommentars sind Paraphrasieren, Erklären und Verweisen, während Interpretation vorrangig analysierend und begründend vorgeht. Während Interpretation sich gewöhnlich in der Vielstimmigkeit der Forschung positioniert, zielt der Kommentar darauf, die Forschungsvielfalt als solche, auch in ihrer Widersprüchlichkeit, zu dokumentieren."    zurück

25 Roland Reuß: Vom letzten zum vorletzten Wort. Anmerkungen zur Praxis des Kommentierens. In: TextKritische Beiträge. H. 6 (2000): Kommentar 1, S. 1–14,
S 9 f.   zurück

26 Vgl. Roger Lüdeke (Anm. 21): "Auch die jüngere Editorik der Mediävistik hält häufig im Dienste ihres Objektivitätsanspruchs an der kommentarlosen Editionstradition fest und ordnet umfangreichere Sachkenntnisse der Notwendigkeit textkritischen Kommentierens deutlich unter [...]." Dies soll aber nicht heißen, daß es in der germanistischen Mediävistik keine Tradition der Textkommentierung gäbe (vgl. etwa die Kommentarbände zu Wolframs von Eschenbach Parzival oder die Kommentare in den Bänden des Deutschen Klassiker-Verlags).   zurück

27 Hans Ulrich Gumbrecht (Anm. 20), S. 82: "Und zum Lob der Tradition des Dekonstruktivismus wie des Diskurses des Kommentierens [...] kann man sagen, daß die Dekonstruktion bestimmte Prinzipien des Kommentar-Diskurses bis zur Grenze des Möglichen getrieben hat."    zurück

28 Brackert / Fuchs-Jolie geben S. 59 an: "Unsere Übersetzung will eine erste Vermittlung zwischen Text und Leser leisten. Vermittlung heißt, unter den oft zahlreichen Wegen des Verständnisses einen Weg zu beschreiten."   zurück

29 Vgl. Peter Knecht: Brief des Übersetzers an den Lektor. In: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Aus dem Mittelhochdeutschen von P.K. Mit einem Brief des Übersetzers an den Lektor (Die Andere Bibliothek Bd. 100) Frankfurt a.M.: Eichborn Verlag 1993, S. 469–473.   zurück

30 Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990,
S. 188.   zurück

31 Roland Reuß (Anm. 25), S. 9.   zurück

32 Wolfram von Eschenbach: "Titurel". Hg., übersetzt und mit einem Stellenkommentar sowie einer Einführung versehen von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie, Berlin, New York: Walter de Gruyter 2003.   zurück