Balzer über Vormweg: Der andere Deutsche: Heinrich Böll

IASLonline


Bernd Balzer

Schichten einer Persönlichkeit.
Die erste umfassende Biographie
Heinrich Bölls

  • Heinrich Vormweg: Der andere Deutsche: Heinrich Böll. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2000. 403 S., 18 Abb., Geb. € 23,90.
    ISBN 3-462-02938-X.


Schriftsteller und "Guter Mensch"

Die Sekundärliteratur zu Böll – anfänglich und zu einer Zeit, in der die Literaturwissenschaft Gegenwartsliteratur noch der Literaturkritik überließ, recht spärlich – hat seit den 60er Jahren immer rascher zugenommen und ist schon seit den 70ern und der Nobelpreis-Verleihung an Böll so umfangreich, daß sie fast nicht mehr zu überschauen ist. Eine umfassende Biographie fehlte allerdings bislang darunter. Das ist um so eigenartiger, als die Öffentlichkeit den Autor vor allem als Persönlichkeit, als "Gewissen der Nation" vor allem wahrnahm: Feld-Untersuchungen zur Rezeption Bölls hatten schon in den 70er Jahren 1 ergeben, daß sein Name weitaus bekannter war als sein Werk, und die vielen gut gemeinten Ehrentitel nach dem Muster "Der gute Mensch von Köln" demonstrierten ein Interesse an der Person, dem die biographischen Anstrengungen keineswegs entsprachen.

Es gab den eher mißglückten Versuch von Christine Gabriele Hoffmann aus dem Jahre 1977; 2 es gab den Böll-Band in Rowohlts Monographien, 3 biographische Kapitel in Jochen Vogts Autorenbuch 4 und in zahlreichen Arbeiten, die >Leben und Werk< thematisierten, 5 und es gab von Böll selbst einige wenige Selbstauskünfte, 6 Bemerkungen in Interviews 7 und Bausteine für eine Autobiographie vor allem über seine Jugendzeit. 8

Als Bölls früher Roman "Der Engel schwieg" 1992 postum veröffentlicht wurde, wandelte sich im Kontext der Debatte um "Gesinnungsliteratur" und "Kunst" auch das Böll-Bild. Der Feuilletonchef der "Zeit", Ulrich Greiner, leitete diese Wendung in der professionellen Böll-Rezeption ein:

Auf einmal findet jene Gesinnungsästhetik [...] in Heinrich Böll keinen Kronzeugen mehr. [...] Auf einmal wird die schlichte Tatsache sichtbar, daß er ein Dichter war, daß er Romane und Erzählungen schrieb, die sich nicht in der politisch-moralischen Botschaft erschöpfen, die man seinerzeit ausschließlich herausgehört hat. 9

Das Werk rückte nun endlich ins Zentrum des Interesses, – und prompt begannen auch die Biographen mit der Arbeit, und der erste, der sein Ergebnis vorgelegt hat, ist Heinrich Vormweg.

Der Freund als Biograph – Vorteile und Probleme

Als persönlicher Freund und immer wieder auch Weggenosse Bölls im Literatur>betrieb< Kölns und vor allem als Mitherausgeber der entstehenden kritischen Gesamtausgabe seiner Werke war Heinrich Vormweg wie kaum ein anderer geeignet, eine Böll-Biographie zu schreiben; und er bezieht sich auch mehrfach ausdrücklich auf dieses persönliche Verhältnis, um die sich immer wieder wandelnde Perspektiven zu charakterisieren, aus denen heraus diese Biographie zu schreiben war.

Vormweg kam erst in den 60er Jahren mit Böll in Kontakt. Für die Darstellung der Zeit davor, die literarischen Anfänge zum Beispiel, über die Böll selbst nur sehr selten und dann sehr pauschal Auskunft gegeben hat, bietet Vormweg aber nicht nur die eigene Zeitzeugenschaft eine Grundlage, sondern er kann hier auf seine besondere literaturgeschichtliche Kompetenz bauen: hat er doch unter anderem schon 1973 eine ausführliche Darstellung der Prosa der Nachkriegszeit verfaßt, 10 die, insbesondere in ihren ersten beiden Teilen zu den 40er und 50er Jahren, noch immer eine der ausführlichsten, differenziertesten und zuverlässigsten Arbeiten über diese Periode darstellt.

Natürlich hat die unterschiedliche >Quellenlage< mehrfachen Wechsel der Darstellungsperspektive wie auch der Tiefenschärfe biographischer Erkenntnis zur Folge, was der Verfasser aber stets deutlich kennzeichnet.

Persönliche Nähe ermöglicht >Insider-Wissen< aus Gesprächen, Familienkontakten, etc.. Vormwegs Biographie kommt dieses Wissen auch zugute, er vermeidet aber die >Nähkästchenperspektive<. Auf der anderen Seite bedeutet solch privilegierter Beobachtungsstandort immer auch Gefahr des Distanzverlustes und der Kritiklosigkeit. Vormweg tut viel, um dieser Gefahr nicht zu erliegen: Er rückt, wo nötig und möglich, unkorrekte Angaben Bölls zurecht, und es gelingt ihm dabei sogar das Kunststück, noch bei der Korrektur die Autorität der Aussage Bölls zu bestätigen:

Dann wurde er als gänzlich arbeitsunfähig den Engländern überstellt und im November entlassen. So jedenfalls hat Böll es René Wintzen gesagt. Tatsächlich war aber wohl schon Mitte September 1945 die Gefangenschaft beendet. Sein erster Brief an Ernst Adolf Kunz [...] ist datiert auf den 19. September und abgeschickt aus Neßhoven, einem Dorf bei Much im Rhein-Sieg-Kreis. Böll schreibt, er habe "am 15. September 1945 nachmittags 16.15" in Bonn den letzten Stacheldraht hinter sich gelassen. (S.104)

Vormweg klärt mehrfach solche Widersprüche 11 und natürlich auch bei Böll zu beobachtenden Ansätze zu einer gewissen Selbststilisierung auf, führt sie aber nicht auf Erinnerungslücken oder seine oft beschworene "Schlampigkeit" 12 zurück, sondern gleichsam auf ein Prinzip:

Nicht Genauigkeit in Details schien ihm da wichtig, er hatte einen anderen Begriff von Inhalt und Sinn, der ihm allzu große, eher äußerliche Korrektheit fragwürdig erscheinen ließ. In Annäherungen fühlte er sich der Wahrheit näher. (S.116)

Dabei fehlt aber nicht der notwendige Hinweis, daß auch dieses Prinzip keine generelle Gültigkeit besitzt. 13

Mit entsprechender kritischer Optik nutzt Vormweg Bölls Erinnerungen, die Briefe und die autobiographische Angaben in veröffentlichten Gesprächen, wobei er sich im wesentlichen auf das umfassende Interview konzentriert, daß René Wintzen 1976 mit Böll geführt hat. 14

Er verzichtet auf Zitate der vielen anderen, und nennt nur noch Christian Linder 15 und die Gespräche, die er selbst für "L 76" mit Böll führte.

Die "sachliche und wahrheitsgetreue Erzählung"

Vollständigkeit strebte Vormweg weder hier, noch im Blick auf die nach 1960 wachsende Böll-Philologie an. Er überblickt sie, hat schließlich selbst mehrfach dazu beigetragen und vermag daher souverän damit umzugehen. Und so erkennt man bestimmte Standpunkte in der Diskussion um Böll leicht wieder. Er vermeidet jedoch (mit einer Ausnahme) 16 die zitierende Auseinandersetzung mit bestimmten Positionen, wie er auch bei der Einbeziehung anderer Literaturkritiker äußerst zurückhaltend ist: Nur Joachim Kaisers überwiegend positive Rezensionen des Böllschen Werkes werden herangezogen, und die Gegenseite kommt (erheblich knapper) mir Marcel Reich-Ranicki 17 und Ernst Herhaus (S. 265 f.) zu Wort. Auch damit bestätigt sich, was die "Nachbemerkung" hervorhebt:

Diese Biographie ist keine wissenschaftliche Arbeit. Eher ist sie eine möglichst sachliche und wahrheitsgetreue Erzählung. Auf Anmerkungen wurde deshalb verzichtet. Die Herkunft der Informationen und Zitate läßt sich durchweg ohne besondere Mühe aus dem Kontext erschließen. (S. 403)

Daneben bietet das Buch durch sein Personenverzeichnis auch eine Nachschlagefunktion, und die einsichtige Gliederung erleichtert die Orientierung im Text: In fünf "Teile" gliedert der Verfasser die Lebensabschnitte Bölls mit Überschriften, die die Zielgruppenorientierung erkennen lassen:

  • Von Weltkrieg zu Weltkrieg

  • Ein junger Autor in Köln

  • Die Abenteuer des Schriftstellers

  • Annäherung an den Weltruhm

  • Glanz und Not der späten Jahre

Jedes dieser Teile hat dann (bis auf den dreigeteilten Abschnitt über den jungen Autor in Köln) fünf Kapitel, die – teils Böllsche Titel zitierend oder variierend, teils nach >saloppen< Formulierungen strebend ("Der unterschätzte Schriftsteller", "Vom Küchentisch zum Literaturbetrieb", "Ein Tiefpunkt der Kritik") – die Neugier des Lesers zu wecken trachten.

Eingerahmt wird diese chronologische Lebensbeschreibung durch die Teile "Gewicht der Zeitgenossenschaft" und "Koda. Glauben an die Literatur". Diese sind mehr als der übliche rhetorische Apparat aus Einleitung und Schluß; vielmehr weisen sie auf die besondere Struktur dieses Versuchs einer "wahrheitsgetreuen Erzählung", und es ist hier mit besonderem Recht von >Erzählstruktur< zu reden, weil für Vormweg in diesem Falle Erzählen "heißt: zu erkunden [...]" (S.26). Und dies ist durch lineares "Nacherzählen" nicht zu leisten, wie Vormweg zwar nicht diskursiv begründet, aber mit einer Metapher plausibel macht, wenn er an gleicher Stelle von der "Lebensgeschichte eines Schriftstellers" spricht, "als deren letzten Inhalt, deren Kern und Begrenzung Böll selbst seine Zeitgenossenschaft empfunden hat".

Diesen "Kern" zu erreichen, geht er gleichsam >schichtenweise< vor: In der "Einführung" ist immer wieder vom "Dickicht" (S. 12, 14f.,16,17) die Rede. Die Metapher dient dort zunächst als "Schlüsselwort" für den Zustand der Zeit zwischen Bölls "Geburtsjahr 1917 und ungefähr dem Jahr 1950" (S. 14), wird dann jedoch zur Chiffre der Schreibweise Bölls nicht nur in seinen Anfängen. Vormweg zitiert Hans Schwab Felisch:

Es ist kennzeichnend, wenn vielleicht auch nur der reine Zufall, daß er in der berühmten Anthologie >Tausend Gramm< von Wolfgang Weyrauch nicht vertreten ist. Böll hat nie >einen Kahlschlag in unserem Dickicht< unternommen, eher hat er das Dickicht mit einbezogen, es dann aber durchsichtig gemacht. 18

Und er erweitert diese Aussage zu einer These, die Bölls frühe Versuche einer >theoretischen< Selbstvergewisserung 19 sprachlich aufnimmt und zusammenfaßt:

In diesem Dickicht lebten und starben die Menschen, und in Heinrich Bölls Augen hätte wohl ein Kahlschlag nicht zuletzt auch Menschen umgebracht. Böll erzählte gleichsam in diesem Dickicht und für die Menschen in ihm. Es erzählend durchsichtiger zu machen, blieb die einzige fragwürdige Hoffnung.(S. 17)

Die Wirklichkeit "durchsichtig zu machen", die Dinge "mit Hilfe der Sprache zu durchschauen" 20 , blieb freilich Bölls lebenslanges Programm, und Vormwegs "Einführung" überschaut daher auch mit einem ersten Blick Person und Œuvre insgesamt und hebt dabei vor allem das für ihn stets gültige "trotz allem katholisch, katholisch, katholisch" 21 hervor, sowie die "Zeitgenossenschaft", die Vormweg als "Kern" und "Begrenzung" dieser Lebensgeschichte ansieht. Diesen "Herauszuschälen und zu beschreiben" (S. 20), was unter der Oberfläche biographischer Daten und Stationen liegt, unternimmt Vormweg von hier aus, und in der abschließenden "Koda" zieht er nicht nur Bilanz über den Ertrag dieses Verfahrens, sondern beschreibt zugleich eine weitere "Schicht" der Persönlichkeit, die sich ihm in der Auseinandersetzung mit dieser Vita erschlossen hat, und die gleichwohl nicht die letzte ist: "Ich bin nicht fertig mit Böll" (S. 395).

Vormweg bemüht sich bei seiner "Erzählung" sozusagen um eine >personale Erzählperspektive<, doch das Resultat ist unvermeidlich von der Subjektivität eines >Ich-Erzählers< geprägt. Im Akt des schichtenweisen "Herausschälens" dokumentiert er jedoch immer wieder die zwangsläufigen Perspektivewechsel während der langen Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Werk Bölls: "Ständig – es sei unter etwas anderem Blickwinkel wiederholt – erschienen neue Bücher von ihm" (S. 231), "Erst in der Rückschau und spät habe ich mir von der Geschichte Heinrich Bölls in der Zeit bis Ende der fünfziger Jahre ein Bild gemacht" (S. 232). Er bemüht sich daher, Leben und Werk "mit veränderten Akzenten immer wieder im Überblick zu skizzieren" (S. 234) und weist auf die Relativität der jeweiligen Perspektive hin. 22

Das Verfahren, sich gleichsam tastend, Schicht für Schicht, den mehrfachen Dimensionen des häufig unterschätzten Böll zu nähern, ist nicht etwa Folge einer Unsicherheit in Urteil oder Materiallage, die Vormweg wie kaum ein anderer überblickt; es ist vielmehr wohl das einzig mögliche Verfahren.

Ein facettenreiches Bild von Bölls
Kindheit, Jugend und Soldatenzeit

Obwohl – vielleicht aber auch weil – "es außer den von außen, von den Machthabern gesetzten Daten für Heinrich Böll keine haltbare persönliche Chronologie" gibt" (S. 38), enthält der erste Teil der Biographie über die Jahre bis 1945 besonders viele bislang unbekannte Informationen über das Leben des jungen Böll, wie auch über die ersten Schreibversuche.

Zwar hatte Vormweg 1992 schon einmal über "Böll vor 1945" 23 geschrieben und dabei die Erzählungen "Die Brennenden" 24 und "Die Unscheinbare" vorgestellt, hier jedoch beschreibt er den gesamten Fundus der "Gesellenstücke" (S. 53 ff.) im Nachlaß Bölls. Er stellt diese Erzählungen und Prosastücke in ihren Entstehungs- und Einflußkontext, geht auf einige – teils charakterisierend, teils auch nacherzählend – näher ein (z.B. die lange Erzählung "Die Inkonsequenzen des Christoff Sanktjörg", S. 63 ff., oder "Das Mädchen mit den gediegenen Ansichten", S. 67 ff., "Sommerliche Episode", S. 71 ff. u.a.), er umschreitet dabei aber vor allem das thematische Spektrum dieser frühen Arbeiten, das schon auf das spätere Werk verweist: Um Liebe, Sexualität, Religion, Armut ging es schon dem Schüler und Abiturienten, allerdings war er, wie Vormweg es formuliert, "noch nicht bei sich selber angekommen" (S. 71).

Über die Daten und Fakten im Leben des Soldaten Böll ist immer schon mehr bekannt gewesen als über die unmittelbaren Vorkriegsjahre; nicht zuletzt die autobiographischen Elemente der Kriegserzählungen haben dazu auch seine spezifische Sichtweise deutlich gemacht. Die inzwischen erschienenen Kriegsbriefe Bölls 25 , die Vormweg schon für seine Biographie verwenden konnte, bestätigen die Darstellung der Kapitel über "Die Jahre der Knechtschaft" (S. 77 ff.) und "Das Abenteuer des Überlebens" (S. 102 ff.) ebenso vollständig, wie sie das harsch klingende Urteil Vormwegs legitimieren, der den "deutlich herausgestellte[n] Glaube[n] an den deutschen Sieg im Kontext der Kriegsbriefe Bölls, die eine einzige Klage über die Sinnlosigkeit seines Lebens als Soldat sind, absurd" nennt (S. 90).

Über die unmittelbaren Nachkriegsjahre mit den Schwierigkeiten einer zerrütteten eigenen Gesundheit, dem kranken ersten Kind, das nur wenige Wochen nach seiner Heimkehr stirbt, mit den Wohnungs- und überhaupt den Überlebensproblemen eines Großstädters in den Jahren bis zur Währungsreform hat die Veröffentlichung von Bölls Briefwechsel mit seinem Freund Ernst-Adolf Kunz 26 authentisches Material zusammengestellt. Vormweg faßt es kommentierend, an den notwendigen Stellen auch korrigierend, zusammen in dem ersten Kapitel des zweiten Teils "Ein Junger Autor in Köln".

Über die "ersten Schritte" Bölls in die Öffentlichkeit

Das zweite Kapitel dieses Teils weist vor der Beschreibung der ersten Veröffentlichungen Bölls und ihrer Begleitumständen darauf hin, daß zur gleichen Zeit der Verfasser "dem noch unbekannten Schriftsteller begegnet" sei (S. 129). Dies markiert einen Wandel der >Erzählweise<, durch den nun der Versuch der >objektiven< Materialausbreitung durch den der objektivierten persönlichen Erfahrung und Sichtweise abgelöst wird, freilich nicht durchgängig, was angesichts des >schichtenweisen< Vorgehens auch nicht möglich ist: Stärker noch als durch die Charakterisierung der ersten veröffentlichten Texte Bölls, ihrer eher zögerlichen Verbreitung und der Probleme mit Verlagen und der fast nicht existenten Kulturszene Kölns, zeigt sich die Außenseiterposition Bölls in den Texten, die in den 40er Jahren keinen Verleger fanden. Die Erzählung "Jak der Schlepper" zum Beispiel kannten vor ihrer schließlichen Veröffentlichung (1983 in dem Erzählungsband "Die Verwundung") 27 außer Böll nur ganz wenige, bei der Vorbereitung der "Gesammelten Werke" 1977, hatte er selbst sie vergessen. Vormweg erkennt sie als exemplarisch für Bölls "Stoff, das Material seines Erzählens" (S. 132), für seine Schreibweise überhaupt, für sein gesamtes Werk:

Erzählend hat Böll Krieg und Nachkrieg eingeholt in die Sprache, die das praktische Bewußtsein der Menschen ist und aus dem diese Erfahrung sich nicht mehr tilgen ließ. (S. 132)

Dies ist die Optik, die auch in den folgenden Kapiteln der Biographie die Beschreibung des Böllschen Œuvres bestimmt; sie hat sich in zahlreichen früheren Arbeiten Vormwegs herausgebildet, 28 und sie stimmt auch mit einem wesentlichen Teil der Böll-Literatur überein. Es gab auf der anderen Seite aber auch die Geringschätzung Bölls für den "Stoff", das "Material", die er immer wieder als "Handvoll Staub" qualifizierte, und das Diktum, wonach es

[...] ganz und gar unwichtig, was an Wirklichem in [einen Roman] hineingeraten, in ihm verarbeitet, zusammengesetzt, verwandelt sein mag. Wichtig ist, was aus ihn am geschaffener Wirklichkeit herauskommt und wirksam wird. 29

Und es gibt eine ganze Reihe von Böll-Forschern, die unter Hinweis auf diese Selbsteinschätzung Bölls den Kunstcharakter seines Schreibens stärker akzentuieren. Die literarische Form ist mehr als nur >Verpackung<, oder eine Methode des Schriftstellers, "seine Nachricht etwas sanfter" zu formulieren (S. 135). Wenn Böll auch 1949 sich polemisch von einer allgemeinen "Pralinenproduktion" 30 abgrenzte und damit von der vorherrschenden Verharmlosungs- und Ablenkungstendenz, so hat er 1967 mit der "Bombenpraline" 31 ein spezielles Genre zur Bekämpfung solcher Tendenzen entwickelt.

Vormweg vermag solche Momente gleichsam nur als >Sündenfall<, als "Tribut" (S. 144) an den literarischen Geschmack, als "Flucht geradezu" vom "strikt realistische[n] Zugriff" (S. 145) zu begreifen. Und so wertet er andere frühe Erzählungen, etwa "Wanderer, kommst Du nach Spa...", ab:

Das Bild [...] ist kunstvoll verdichtet. Was es nicht enthält, ist die konkrete Erfahrung des Kriegs selbst, wie sie in Bölls zu ihrer Zeit unveröffentlichten Kriegserzählungen direkt und hart festgehalten ist. (S.146)

Erst ganz am Schluß seines Buches kommt Vormweg, dann allerdings mit einer überraschenden Volte, auf andere Sichtweisen zu sprechen, nachdem er auf die Schwierigkeiten hingewiesen hat, Böll "trotz seiner nicht nur scheinbaren Einfachheiten" zu deuten" (S. 399) und einige Beispiele benannt hat für Versuche, ihn aus seiner Eigenschaft als Kölner, "als Theologen, von seinen idealischen Frauenbildern [...] her festzulegen":

Doch dies alles besagt, den Schriftsteller primär von seinem "Material" her zu interpretieren, ohne die Bedeutung des Schreibens, des Erzählens selbst für ihn zu beachten, ohne das Schreiben, den Schreibprozeß, das Handeln durch Schreiben als eigenen Wert zu erkennen. Schreiben, Erzählen, dient nicht nur zu etwas, es ist etwas, ist ein Faktum der Zivilisierung und Kultivierung, es verändert die Dinge, wie dann auch das Lesen. (S. 399)

Das könnte den Dialog zwischen den unterschiedlichen Positionen zu Böll eröffnen, doch endet das Buch drei Seiten später und 300 Seiten davor spielen "Stoff" und "Material" und die entschiedene Präferenz für "radikal-realistische" Erzählweisen (S. 148) die entscheidende Rolle für Vormwegs Böll-Verständnis.

Die Persönlichkeit im Spiegel des Werkes

Nicht nur das Insistieren auf dem >Realisten< Böll legt es für Vormweg nahe, ab etwa 1951 das Leben Bölls entlang der rasch und in großer Zahl aufeinanderfolgenden Werke zu beschreiben. Es ist vielmehr auch ein Korrektiv zur Bedeutung, die die zeitgenössische Aufmerksamkeit der >öffentlichen Person< Böll im Vergleich zu seinem Werk beigemessen hat. Das erklärt auch, warum in der Biographie von den zahlreichen >Fällen< öffentlicher Erregung 32 und Kontroversen um Böll nur von zwei – zugegeben: sehr wichtigen – ausführlicher die Rede ist: Dem "Fall Defregger" (S. 303 ff.) von 1969 und der Massenhysterie um Bölls "Spiegel"-Artikel "Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit" (S. 324 ff.) von 1972.

Verdienstvoller ist es ohnehin, daß Vormweg, wenn er über das Literarische im engeren Sinne hinausgeht, sich vor allem auf Aspekte des literarischen Marktes konzentriert, über die für Böll bislang nur sehr wenig bekannt war. Seine Ausführungen über die literarische Agentur "Ruhr-Story", die Böll mit Adolf Kunz betrieb (S. 182 ff.), sowie die an vielen Stellen eingestreuten Ausführungen über die Verlage und das Verhältnis Bölls zu den unterschiedlichen Verlegern erhellen die Situation des Literaturbetriebes, was nicht nur im Blick auf Böll von Interesse ist.

Natürlich ist auch immer wieder von Bölls Verhältnis zum Katholizismus und der Kirche die Rede; schließlich gehört dies zu den prägenden Momenten seiner Biographie. Da dieses Thema aber häufiger und unter allen denkbaren Gesichtspunkten in der Literatur behandelt wurde, war hier kein Erkenntnisgewinn zu erwarten. Allerdings kann Vormweg Fehlinformationen auch kirchlicher Stellen, Böll sei zum Ende seines Lebens "zu Kreuze gekrochen" (S. 392), richtigstellen.

Unübersehbar liegt der Schwerpunkt der Darstellung vom dritten bis fünften Teil der Biographie auf den erzählerischen Werken, 33 von denen er eines auch in einer Kapitelüberschrift besonders herausstellt: "Entfernung von der Truppe"(S. 277 ff.). Das besondere Interesse für diesen sonst eher doch als peripher geltenden Text legitimiert Vormweg, indem er gerade an dieser Erzählung Bölls "Ästhetik des Humanen" (S. 285) verdeutlicht. Er tut dies in einer Interpretation, die auch in den Punkten, denen nicht jedermann zu folgen bereit sein dürfte, wichtige Fragen aufwirft. Er stellt hier Bölls Oppositionsrolle nicht nur gegenüber den politischen Establishment der 60er Jahre heraus, sondern auch die gegenüber den literarischen und literaturkritischen, beziehungsweise

literaturwissenschaftlichen Autoritäten (exemplarisch ist hier die kritische Auseinandersetzung mit Wilhelm Emrich, S. 200ff.).

Für die – in den meisten Fällen sehr viel knappere – Charakterisierung der Romane Bölls und einiger wichtiger Erzählungen kann Vormweg zurückgreifen auf Rezensionen und Aufsätze, die er seit den 60er Jahren zu Bölls Werk verfaßt hat. Und so ist dem Kenner vieles geläufig – was keineswegs anstößig ist, denn Vormwegs Position zu den einzelnen Werken war damals gut begründet und wird auch in dieser Biographie argumentativ gestützt.

Trotz des Umfanges des Buches kann es sich bei der großen Zahl der Werke mit der genannten Ausnahme dabei jeweils nur um >Streifblicke< handeln. Vormweg selbst spricht im Zusammenhang von "Gruppenbild mit Dame" von "thematische[n] Querschnitten" (S. 313), die er nur andeuten könne und die um andere ergänzt werden könnten. Es sind dies jedoch jeweils bezeichnende Querschnitte, die sich zu einem Gesamtbild verbinden, dessen Kohärenz natürlich durch die subjektive Sicht des Verfassers erreicht wird. Da dieser jedoch ausdrücklich verweist auf die grundsätzlich notwendige Unzulänglichkeit gegenüber Bölls "ganzen, Gegensätzen offenen Spannweite" (S. 396), ist dagegen nichts einzuwenden.

Resümee

Vormwegs Biographie zielt auf den >normalen<, nicht so sehr den >Berufsleser<. Dieser Zielgruppe wird das Buch gerecht: Es gibt dem literarisch Interessierten nicht nur wichtige Informationen über die Lebensstationen und den literarischen Werdegang Bölls, sondern sollte auch neugierig machen auf seine Erzählungen und Romane. Es ist zudem gut verständlich geschrieben unter wohltuendem Verzicht auf den literaturwissenschaftlichen Jargon.

Aber auch der Böll-Kenner und die Böll-Philologie zieht Gewinn aus dieser Publikation: In Gestalt einer Menge bislang so nicht bekannter Informationen und auch durch den nur mit der besonderen Kennerschaft Vormwegs erreichbaren Facettenreichtum dieses Porträts. Der ausdrücklich erklärte Verzicht auf den konsequenten Nachweis von Zitaten ist für den kritischen Leser gelegentlich ärgerlich, denn auch ihm erschließt sich Herkunft nicht "durchweg ohne besondere Mühe aus dem Kontext" (S. 403). Auf der anderen Seite wäre ein >zünftiger< Fußnotenapparat kein Ersatz für die von persönlicher Nähe ebenso wie von literaturhistorischer Kompetenz profitierende Authentizität dieser Biographie.


Prof. Dr. Bernd Balzer
Freie Universität Berlin
Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften
Institut für deutsche und niederländische Philologie
Habelschwerdter Allee 45
D-14195 Berlin

Ins Netz gestellt am 12.03.2002
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Hans-Edwin Friedrich. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]



Anmerkungen

1 Böll in Reutlingen. Eine demoskopische Untersuchung zur Verbreitung eines erfolgreichen Autors. In: Gunter Grimm (Hg.): Literatur und Leser. Stuttgart: Metzler 1975, S. 240–271.   zurück

2 Christine Gabriele Hoffmann: Heinrich Böll. Hamburg: Cecilie Dressler 1977.   zurück

3 Klaus Schröter: Heinrich Böll mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (rowohlts monographien; 310) Hamburg: Rowohlt 1982.   zurück

4 Jochen Vogt: Heinrich Böll. München: Beck 1978.   zurück

5 zum Beispiel:. Bernhard Sowinski: Heinrich Böll (Sammlung Metzler. Realien zur Literatur; 272), Stuttgart: Metzler 1993.   zurück

6 Heinrich Böll: Selbstvorstellung eines jungen Autors" (1953). In: Bernd Balzer (Hg.): Heinrich Böll Werke, Essayistische Schriften und Reden I. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1979, S. 113–116, oder: Selbstkritik (1956), ebenda S. 165–166.   zurück

7 zum Beispiel: Drei Tage im März .Gespräch mit Christian Linder vom 11.–13.–3.1975. In Bernd Balzer (Hg.): Heinrich Böll Werke. Interviews I. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1979, S. 348–426; oder: Eine deutsche Erinnerung. Interview mit René Wintzen, Oktober 1976, ebenda S.504–665.   zurück

8 zum Beispiel:. Heinrich Böll: Raderberg, Raderthal (1965). In: Bernd Balzer (Hg.); Heinrich Böll Werke. Essayistische Schriften und Reden 2. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1979, S. 120–128 und Heinrich Böll: Was soll aus dem Jungen bloß werden? Oder: Irgendwas mit Büchern. Bornheim: Lamuv 1981.   zurück

9 Ulrich Greiner. In: Die Zeit vom 28. 8. 1992.   zurück

10 Prosa der Bundesrepublik seit 1945. In: Dieter Lattmann(Hg.): Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Autoren, Werke, Themen Tendenzen. Bundesrepublik Deutschland seit 1945. München: Kindler 1973, 2. Aufl. 1980, Bd. I, S. 149–419.   zurück

11 vergleiche zum Beilspiel Vormwegs Bemerkungen über die "allzu früh angesetzten Kindheitserinnerungen" (S. 32), oder die Datierung von Bölls Einberufung (S. 79).   zurück

12 Interview mit Dieter Zilligen, ARD, 23. 9. 79.In: Materialien zur Interpretation von Heinrich Bölls "Fürsorgliche Belagerung". Köln: Kiepenheuer & Witsch 1981, S. 20.   zurück

13 "Einerseits hat er sich von präzisen Datierungen durchaus faszinieren lassen", andererseits habe er ihnen auch wieder mißtraut (S. 116).    zurück

14 vergleiche Anm. 7   zurück

15 Christian Linder (Anm.7).   zurück

16 Mit Wilhelm Emrichs Interpretation von "Entfernung von der Truppe" setzt er sich (S. 290–93) ausführlicher auseinander.   zurück

17 S. 319, 381, 383.   zurück

18 S. 15f., das Zitat stammt aus dem Aufsatz "Der Böll der frühen Jahre". In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): In Sachen Böll. Köln: Kiepenheuer & Witsch2 1968, S. 217 f. – Schwab-Fehlisch wiederum zitiert den Abschnitt IV von Weyrauchs Nachwort zur Anthologie "Tausend Gramm" – vgl. z.B. Wolfgang Weyrauch (Hg.): Tausend Gramm. Reinbek : Rowohlt 1989, S. 178.   zurück

19 zum Beispiel: Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952). In: Essayistische Schriften und Reden I (Anm.6), S. 31–45; und: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit (1953), ebenda S.71–75.    zurück

20 Eine Formulierung aus Bölls "Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit" (Anm. 19), hier S. 34.   zurück

21 S, 21; Vormweg setzt freilich hinter dieses Zitat aus dem autobiographischen Jugendbericht Bölls den Satz "Wieso, das blieb ihm selbst ein Rätsel."   zurück

22 S. 230f.: "An den schon so lange zurückliegenden Leseabend in Bonn habe ich jedesmal denken müssen [...] sein etwas mürrisches Gesicht hol[t] automatisch die jahrzehntealte Erinnerung herauf, von der ich gar nicht weiß, wie verläßlich sie ist."   zurück

23 In: Bernd Balzer(Hg): Heinrich Böll, 1917–1985, zum 75. Geburtstag. Bern, Berlin, etc.: Peter Lang, 1992, S. 15–24.   zurück

24 diese Erzählung wurde inzwischen veröffentlicht: Annemarie, René, Vincent und Viktor Böll und Heinrich Vormweg(Hg): Heinrich Böll: Der blasse Hund. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995, S. 9–36.   zurück

25 Jochen Schubert(Hg.): Heinrich Böll: Briefe aus dem Krieg 1933–1945. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001   zurück

26 Herbert Hoven (Hg.): Die Hoffnung ist wie ein wildes Tier. Der Briefwechsel zwischen Heinrich Böll und Ernst-Adolf Kunz 1945–1953. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994.   zurück

27 Heinrich Böll: Die Verwundung. Erzählungen. Bornheim: Lamuv 1983, hier S. 16–28.    zurück

28 zum Beispiel. in seiner Rezension zu Bölls Roman "Fürsorgliche Belagerung":"[...] seine primäre Legitimation war stets die annähernde Einholung gefühlter gesellschaftlicher Realität" (Merkur 1, 1980, S. 86).   zurück

29 Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen (1964), zitiert nach Essayistische Schriften und Reden 2 (Anm. 8), S. 54   zurück

30 Briefwechsel Böll-Kunz (Anm. 26), S. 166.   zurück

31 Heinrich Böll: Einführung in Dienstfahrt (1967), zitiert nach Essayistische Schriften und Reden 2 (Anm. 8), S. 254.   zurück

32 Von der Kritik an Bölls und Chargesheimes Band "Im Ruhrgebiet" (1958) über die Debatten den "Brief an einen jungen Nichtkatholiken (1966), um seine Rede zur Woche der Brüderlichkeit (1970) und der Kontroverse mit Günter Grass (1969), über die Ohrfeige Beate Klarsfelds für Kiesinger bis zum öffentlichen Echo auf Bölls Engagement für die Grünen wäre eine Fülle von Ereignissen zu dokumentieren gewesen, die den Rahmen der Biographie gesprengt hätte.   zurück

33 Von der Dramen Bölls behandelt er nur "Ein Schluck Erde"(S. 259 ff.), auf die Hörspiele und Gedichte legt er kein Gewicht.   zurück