Bammann über Garland: The Culture of control

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Kai Bammann

Kriminalität in der modernen Gesellschaft

  • David Garland: The Culture of control. Crime and social order in contemporary Society. Oxford: Oxford University Press 2001. XIII / 307 S. € 34,09.
    ISBN 0-19-829937-0.


David Garland ist bekannt als Gesellschaftsanalytiker und insbesondere auch als Straf(vollzugs)rechtskritiker. Gegenwärtig ist er als Professor für Soziologie und Recht an der New York University tätig. Er ist Autor einer Vielzahl entsprechender Veröffentlichungen und u. a. auch Mitherausgeber der seit 1999 bei Sage erscheinenden Zeitschrift "Punishment & Society" (in deren Heft 2 / 2002 ein "Review-Symposium" zu dem hier zu besprechenden Buch publiziert ist). Zuletzt hat er das Buch "Mass Imprisonment. Social causes and consequences" 1 herausgegeben und dafür Einleitung und Epilog beigesteuert.

"The culture of Control" ist Garlands dritte große Monografie nach "Punishment and welfare. A History of penal strategies" und "Punishment and modern society. A study in social theorie". 2 Sie fasst in den ersten Kapiteln deren Ergebnisse zusammen und schreibt dann ihre Thesen fort.

Als ich angefragt wurde, eine Rezension zu "The culture of control" zu schreiben, habe ich – ohne mehr als den Titel zu kennen – spontan und ohne Zögern zugesagt. Zu rechnen war mit einem wissenschaftlich fundierten und analytischen Werk, das sich, wie dies der Untertitel verspricht, mit Kriminalität und Kontrolle in der modernen Gesellschaft befasst. Beim ersten Lesen fiel mir indes nicht auf, welch große Herausforderung eine Rezension dieses Buches darstellt, ist es doch trotz der zunächst gering erscheinenden Seitenzahl ein sehr dicht geschriebenes und ambitioniertes Werk.

Garlands Sprache ist wissenschaftlich, aber auch für Leser leicht verständlich, deren Muttersprache nicht englisch ist. Sein Buch enthält jedoch eine solche Fülle unterschiedlicher Informationen, dass es in einer Besprechung nahezu unmöglich ist, eine Zusammenfassung zu geben oder auch nur die >Essentials< der Studie herauszuarbeiten, ohne den ganzen Text zu zitieren. Der inhaltliche Teil beschränkt sich auf ca. 200 von 307 Seiten. Die übrigen 100 Seiten enthalten die Anmerkungen zum Text, ein umfangreiches Literatur- und ein – allerdings eher knappes – Sachregister, das den Band abschließt.

Von der Bestrafung zur sozialen Kontrolle

Unklar ist mir, ob Garland in seinem dritten Buch, als Unterscheidung zu den beiden Vorgängern, bewusst das Wort >Punishment< aus dem Titel weggelassen hat, oder ob der Titel eine Idee des Lektors bzw. des Verlages war, wie dies sehr oft üblich ist. Auf jeden Fall ist der gewählte Titel sehr bezeichnend. Er verweist nicht nur auf den Inhalt des Buches, sondern zeichnet auch die Entwicklung nach, die das (Straf?)Recht in den Gesellschaften der USA und Großbritannien in den letzten, hier interessierenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durchlaufen hat.

Insbesondere der Umstand, dass >Punishment< durch >Control< ersetzt wird, ist sehr vielsagend und schon der erste Punkt, der zum Nachdenken einlädt. Die Kultur, die im Titel an erster Stelle erscheint, bildet den Rahmen der Studie. Vordergründig analysiert Garland gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen. Von diesen ausgehend erklärt er Kriminalität und Kontrolle als kulturell bedingte Phänomene. Dabei hängt beides voneinander ab: Kriminalität ist Teil der Kultur; die Kultur wiederum ist dafür verantwortlich, dass überhaupt Kriminalität entsteht (bzw. zu bestimmen, was als kriminell definiert wird).

Die Studie analysiert den Wandel der gesellschaftlichen Systeme der USA und Großbritanniens im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Hier nimmt Garland wesentliche gesellschaftliche Veränderungen, wenn nicht einen einschneidenden Wechsel der Richtung der Politik wahr. Frühere Entwicklungen berücksichtigt er, wo dies zur Erklärung notwendig ist, beschränkt sich im übrigen aber auf eine (eher streng) chronologische Darstellung. Er zeigt – wo vorhanden – Parallelen in der sozial- und kriminalpolitischen Entwicklung beider Länder auf, greift jedoch auch Besonderheiten auf. Er versteht seine Analyse dabei auch als Kritik des gesellschaftlichen Systems der >Postmoderne<, ohne diesen Begriff jedoch zu explizieren.

Die Bestrafung stellt heute zwar immer noch einen wichtigen Teil der Strafverfolgung dar, tritt jedoch zusehends hinter den Aspekt der sozialen Kontrolle zurück. Die Kontrolle abweichenden Verhaltens – und damit auch der Versuch der Prävention von Straftaten – wird immer weiter vorverlagert. Abweichendem Verhalten wird heute nicht mehr allein nachträglich durch die Bestrafung, sondern schon im Vorfeld – auf der Kontrollebene – zu begegnen versucht. Populäres Beispiel hierfür ist die >Zero-Tolerance Politik<, mit der sich u.a. der New Yorker Bürgermeister Rudolph Guiliani seinerzeit einen Namen als kriminalpolitischer >Hardliner< gemacht hat. Hier werden schon einfache Belästigungen als Zeichen für eine unerwünschte Entwicklung verstanden, der frühzeitig und mit aller Härte entgegengewirkt werden muss.

Folgerichtig beschränkt sich Garland in seinem neuen Buch auch nicht allein auf die Bestrafung und den Strafvollzug, sondern weitet seine Untersuchung aus. Er bezieht z.B. auch den weiten Bereich der Kriminalprävention sowie das System der Bewährungshilfe in seine Analyse mit ein. Dies weitet das Themenspektrum jedoch sehr aus, so dass das Buch – trotz klarer Struktur – zuweilen überfrachtet wirkt. Hier wäre weniger durchaus mehr gewesen. Eine Beschränkung auf die Ebene der Bestrafung wäre als konsequente Fortschreibung der beiden ersten Monografien erschienen, aber doch nur ein Teil dessen gewesen, was Garland sich mit seinem neuen Buch offensichtlich vorgenommen hat. So spricht das Buch Leserinnen und Leser unterschiedlicher Fachrichtungen gleichermaßen an, PraktikerInnen wie WissenschaftlerInnen, Lernende, Lehrende und an dieser Fragstellung interessierte Laien.

Das Scheitern alter Konzepte vom Wohlfahrtsstaat

Eine von Garlands Hauptthesen besteht darin, dass der >Wohlfahrtsstaat< in der Form, in der er in den sechziger und siebziger Jahre entstanden ist, in den USA und in Großbritannien gescheitert sei. Die wirtschaftliche Rezession, zuerst ausgelöst durch den Ölpreis-Anstieg in den siebziger Jahren, habe, zu erheblichen Veränderungen in den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen beider Länder geführt. Die Entwicklung sei zusätzlich durch Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt beeinflusst worden: Frauen konkurrieren (ökonomischen Zwängen folgend) zunehmend auf den begrenzter werdenden Arbeitsmärkten; steigende Technisierung ist mit einem Abbau von Arbeitsplätzen verbunden; Massenarbeitslosigkeit und gesellschaftliche Ungleichheit wachsen, während das soziale Netz schwächer wird.

Die These von der Kriminalisierung der Armen, die Garland vertritt, ist nicht neu, und gerade in der kritischen Wissenschaft in den vergangenen Jahren immer wieder aufgegriffen worden. 3 Vergleichbare Entwicklungen werden heute indes auch außerhalb des englischsprachigen Raumes wahrgenommen. 4

Der Strafvollzug funktioniert als Wirtschaftsunternehmen: Arbeitslose werden aus der Gesellschaft >aussortiert< und inhaftiert. Gleichzeitig entwickelt sich eine regelrechte Gefängnisindustrie mit privaten Haftanstalten, die teilweise als Aktiengesellschaften geführt werden, und mit Zulieferbetrieben, die mit der Inhaftierung der >Ausgeschlossenen< ihre Profite machen. In den Haftanstalten werden die Gefangenen dabei oftmals als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Indem sie auf jede Resozialisierungsbemühung verzichten, >produzieren< die Haftanstalten dabei ihr eigenes, gleichbleibendes Klientel: wer einmal >drin< war, kommt in aller Regel immer wieder zurück.

Für die Politik hat dies mehr als nur einen kosmetischen Effekt: Sie kann sich als handlungsfähig zeigen, indem sie gegen die so erzeugte >Kriminalität< energisch vorgeht. Im >Krieg< gegen die kriminalisierte Armut gibt sie sich den Anschein, als würde sie tatsächlich etwas gegen die gesellschaftlichen Probleme unternehmen.

Die Instrumentalisierung der Kriminologie

Als Kriminologen fällt mir natürlich besonders Garlands Kritik an der Kriminologie auf. In seinem Werk beschreibt der Verfasser mehrere Richtungen von >new criminologies<. Er meint damit im wesentlichen zwei Strömungen, die er als relativ neu identifiziert. Hierbei handelt es sich zum einen um eine "criminology of every day life", zu der eine Vielzahl verschiedener (neuerer) Theorieansätze wie "rational choice", "crime as opportunity", "situational crime prevention" etc. (S. 127 ff.) gezählt werden. Als gemeinsame Aussagen verbinde diese Theorien, dass sie Kriminalität auf gefährliche Weise entdramatisieren. Kriminalität sei nach diesen Lehren ein normaler Aspekt des alltäglichen Lebens geworden, an den sich die Leute gewöhnt hätten bzw. gewöhnen müssten.

Dieser Form der Kriminologie stellt er eine "criminology of the other" gegenüber, die Kriminalität als Bedrohung und Täter als ernste gesellschaftliche wie individuelle Gefahrenquellen hochstilisiert (S. 135 f.). Dies führt – nun genau entgegengesetzt – zu einer Überdramatisierung des Phänomens Kriminalität.

Zum Vergleich beider Kriminologien schreibt Garland:

If the criminology of every day life de-dramatizes crime, treating it as a routine part of the normal scheme of things, this other criminology re-dramatizes it – depicting it in melodramatic terms, viewing it as a catastrophe, framing it in the language of warfare and social defence. (S. 184)

Im Hinblick auf diese >Kriminologien< wird mit Kriminalität erfolgreich Politik gemacht, und zwar ohne Rücksicht auf die >Realitätshaltigkeit< populärer Vorstellungen und ohne Abstimmung mit der wissenschaftlichen Kriminologie. Der >war on drugs< (S. 118, 132, 191), von der Reagan-Administration in den achtziger Jahren begonnen, ist ein Beispiel hierfür. Die Reihe könnte beliebig erweitert werden, z.B. mit der Jagd auf Pädophile (oder als solche Verdächtigte) in der englischen Presse vor einigen Jahren (vgl. S. 136).

Gegen Ende dieser Rezension stellt sich die Frage, ob es sich auch für Leserinnen und Leser außerhalb Großbritanniens und der USA lohnt, Garlands Buch zu lesen. Um es gleich vorweg zu nehmen: die Frage ist uneingeschränkt mit einem >Ja< zu beantworten.

Schon lange gilt es als >Binsenweisheit<, dass Entwicklungen, die in den USA beginnen, mit Zeitverzögerung nach Europa gelangen. Großbritannien ist aufgrund seiner politisch-gesellschaftlichen Situation, nicht zuletzt aber auch aufgrund der gemeinsamen Sprache den USA sehr viel näher als die anderen europäischen Länder. Garland zeigt an vielen Beispielen, wie US-amerikanischer Strategien der Kriminalpolitik zuerst in Großbritannien übernommen werden (warum das so ist, erklärt der Verfasser leider nicht, auch wenn er sehr viele Parallelen aufzeigt). Man kann jedoch davon ausgehen, dass diese Entwicklungen dort nicht Halt machen, sondern ihren Weg auch auf den europäischen Kontinent finden. Anfänge sind schon lange gemacht.

Nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Frankreich gibt es mittlerweile die ersten privaten Haftanstalten. In Hessen befindet sich eine solche Anstalt gerade im Bau, eine zweite ist schon heute in der Planung. Die elektronische Fußfessel, von Garland nicht ausdrücklich thematisiert, ist von den USA ausgehend heute in vielen europäischen Ländern eingeführt. Auch in Deutschland gibt es – wiederum in Hessen – einen entsprechenden Modellversuch.

>Zero-Tolerance< war vor einigen Jahren ein in der Wissenschaft in Deutschland heiß diskutiertes Thema. 5 Zwischenzeitlich ist es zwar akustisch stiller darum geworden, doch das Thema >Innere Sicherheit< ist ein sicheres Zugmittel in vielen Wahlkämpfen geblieben. Rezession, Arbeitslosigkeit, wachsende Armut sind in den meisten westeuropäischen Ländern zu spüren. Die Entwicklungen laufen schon heute parallel und es ist damit zu rechnen, dass sich gerade die Kriminalpolitik in Europa in >amerikanische Richtungen< entwickeln wird.

Garlands Buch kann und sollte gerade in Ländern, die noch nicht ganz so weit sind mit ihrer repressiven Kriminalpolitik, ein mahnendes Beispiel sein. Es zeigt auf, warum sich die Kriminalpolitik in den USA so entwickelt hat, wie sie sich entwickelt hat. Und Garlands Studie macht überzeugend deutlich, warum dies eine Fehlentwicklung ist.

Darüber hinaus ist Garlands Studie auch wichtig für die kriminologische Diskussion. Schon seit einiger Zeit lässt sich eine Annäherung der Kriminologie (bzw. allgemeiner der Sozialwissenschaften) an die Kulturwissenschaften erkennen. Indem Garland den Aspekt der Kultur ("culture of control") in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt, kann er zugleich einer kritischen Forschung neue Impulse, aber auch Argumente an die Hand geben, Kriminalität >anders< zu verstehen und zu erklären. Nach Garland sind Kriminalität (und Kriminalitätsbekämpfung) auch kulturell bedingt; dies ist ein Aspekt, den die Kriminologie bislang vernachlässigt hat.

Fazit

Als Fazit möchte ich festhalten: "The culture of control" ist ein sachkundiges, wichtiges Buch, an dem niemand vorbeikommt, der sich mit Kriminalität, ihren Ursachen und ihrer Bekämpfung, aber auch ihren medialen und politischen Repräsentationen in modernen Gesellschaften kritisch auseinandersetzen will. Es wendet sich sowohl an Leute, die sich diesem Thema zu ersten Mal annähern, als auch an solche, die sich mit der Fragestellungen schon häufiger befasst haben. Beide Gruppen werden von dem Buch großen Nutzen ziehen. Das umfangreiche – immerhin 25 Seiten umfassende Literaturverzeichnis – leistet ein übriges, um es den Leserinnen und Lesern zu ermöglichen, sich eingehender mit den von Garland aufgeworfenen – und vielleicht auch unbeantwortet gelassenen – Fragen zu befassen.


Dr. iur. Kai Bammann, Diplom-Kriminologe
Universität Bremen
Fachbereich 06
Strafvollzugsarchiv
Postfach 330 440
D-28334 Bremen

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Ins Netz gestellt am 16.09.2002
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Anmerkungen

1 David Garland: Social causes and consequences. London: Sage 2001.   zurück

2 David Garland: Punishment and welfare. A History of penal strategies. Aldershot: Gower 1985; D.G.: Punishment and modern society. A study in social theorie. Oxford: Clarendon Press 1990.   zurück

3 Vgl. hierzu z.B. Nils Christie: Crime Control as Industry. 3rd Edition, London: Routledge 1998.   zurück

4 Loïc Wacquant: La prison de la misère. 1999 (dt.: Elend hinter Gittern. Konstanz: Universitätsverlag 2000).   zurück

5 Vgl. z.B. die Beiträge in Helmut Ortner, Arno Pilgram und Heinz Steinert (Hg.): New Yorker >Zero-Tolerance<-Politik – Ende der urbanen Toleranz? Baden-Baden: Nomos 1998.   zurück