Bartels über Schwab: Bruder Mörder

IASLonline


Klaus Bartels

Bruder Mörder
Subversion und Affirmation
im Serienkiller-Spielfilm

  • Angelica Schwab: Serienkiller in Wirklichkeit und Film. Störenfried oder Stabilisator? Eine sozioästhetische Untersuchung (Nordamerikastudien. Münchener Beiträge zur Kultur und Gesellschaft der USA, Kanadas und der Karibik 1) Münster u.a.: LIT Verlag 2001. 384 S. Kart. EUR (D) 25,90.
    ISBN 3-8258-4542-7.


Die Arbeit wurde 1998 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen und für die Veröffentlichung offensichtlich nicht auf den neuesten Stand gebracht, denn die im Zeitraum von 1998 bis 2001 erschienenen einschlägigen Untersuchungen von Seltzer, Büsser, Simpson, Juhnke u.a. finden keine Berücksichtigung. 1 Außerdem ist der Titel irreführend. In dem Buch geht es nahezu ausschließlich um den Serienkiller als "Kunstfigur" (S. 47), die "Wirklichkeit" der Wirklichkeit (des Serienkillers) wird von Schwab selbst infrage gestellt und als Konstrukt verdächtigt:

Nicht jedes Bild, das vor unseren Augen klar lesbar und abgerundet erscheint, gibt die Wirklichkeit wieder, wie sie tatsächlich ist. Als exakt berechnete Konstrukte lassen sich selbst systembedrohende Tabu-Themen, die uns in unserer vermeintlichen Stärke erschüttern, in ihr Gegenteil transformieren. (S. 96)

Schwab behandelt, in dieser Reihenfolge, die Filme: "M – Eine Stadt sucht einen Mörder" (1931) von Fritz Lang; drei Filme von Robert Siodmak: "Nachts, wenn der Teufel kam" (1957), "Phantom Lady" (1943), "The Spiral Staircase / Die Wendeltreppe" (1946); "Psycho" (1960) von Alfred Hitchcock; Tobe Hoopers "The Texas Chainsaw Massacre / Das Kettensägenmassaker" (1974); das Kinoserial "Les Vampires" (1915 / 6) von Louis Feuillade; "Manhunter / Roter Drache / Blutmond" (1986) von Michael Mann; Jonathan Demmes "The Silence of the Lambs / Das Schweigen der Lämmer" (1989); sowie "Jennifer 8" (1994) von Bruce Robinson und "Blink" (1994) von Michael Apted.

Dieser Aufzählung ist zu entnehmen, daß Schwab

  1. es mit der Chronlogie nicht so genau nimmt,

  2. sich wenig für die 1980er und 90er Jahre interessiert (als das Serienkillergenre in hoher Blüte stand),

  3. zumindest drei Filme dem falschen Genre zuordnet ("Les Vampires" gehört zu den Frühformen des sich am Fortsetzungs- und Seriencharakter der Zeitschriftenmagazine und Dime-Novels der 1910er Jahre orientierenden Filmthrillers, 2 wozu auch "Psycho" eine dreiviertel Stunde lang gehört, bis er ziemlich unvermittelt mit der berühmten Duschszene ins Horror-Genre wechselt; "The Texas Chainsaw Massacre" ist ein Exemplar des den Horror-Film überbietenden Splatter-Genres) und daß sie schließlich

  4. Produkte Robert Siodmaks bevorzugt. Das Œuvre eines Film noir-Spezialisten in diesem Kontext derart zu gewichten und überdies aus der Analyse von "Nachts, wenn der Teufel kam" (S. 150–170) programmatisch Kriterien für das Genre "Serienkillerfilm" entwickeln zu wollen, scheint problematisch. Es wird nun freilich in dieser Analyse auch deutlich, daß Schwab die eigenen Warnungen in den Wind schlägt und die Kunstfigur Serienmörder mit einer wirklichen Person, dem vermeintlichen Massenmörder Bruno Lüdke, verwechselt.

"Nachts, wenn der Teufel kam":
Diskursfigur Serienmörder

In Siodmaks Film sowie in der ihm zugrundeliegenden, in der "Münchner Illustrierten" von 1956 bis 1957 veröffentlichten gleichnamigen Artikelserie von Will Berthold wird der 1943 von der Berliner Polizei verhaftete Lüdke nachträglich zum Tode verurteilt, nachdem es die Nazi-Justiz nicht gewagt hatte, ihm öffentlich den Prozess zu machen, und ihn statt dessen im April 1944 heimlich liquidierte. 3

Schwab schließt sich der von beiden Medienprodukten verbreiteten Version an, die Nazi-Juristen hätten den erst nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges bekannt gewordenen Fall Lüdke vertuscht, um der Öffentlichkeit das Eingeständnis vorzuenthalten, daß trotz totaler staatlicher Überwachung seit 1924 fast zwei Jahrzehnte lang ein in 53 Fällen geständiger Massenmörder ungestört tätig sein konnte.

Tatsächlich aber, dies ergaben umfangreiche Recherchen eines niederländischen Kriminalisten, 4 entsprach diese Version eher dem Bedürfnis der Massenmedien nach "evil kitsch" 5 als der Wahrheit. Die Geständnisse des aktenkundig "schwachsinnigen" Lüdke waren zu Beginn der Vernehmungen wegen des ihm vorgeworfenen Mordes an der Witwe Frieda Rössner durch Boxhiebe des ermittelnden Kriminalkommissars Franz erzwungen. Die späteren Geständnisse machte Lüdke >freiwillig<, oft nach Gesprächen unter vier Augen mit Franz. Die Geständnisfreudigkeit Lüdkes unterschied sich von der Henry Lee Lucas', der in den 1980er Jahren den Ermittlungsbehörden vorlog, mehr als sechshundert Mordtaten verübt zu haben, lediglich dadurch, daß Lucas vermutlich drei Morde tatsächlich begangen hatte und die restlichen von sich aus gestand, ohne vorher geprügelt worden zu sein.

Schon frühzeitig wurden Zweifel an den Methoden der Sonderkommission Lüdke laut. Spätestens, als die Hamburger Kriminalpolizei 1943 eine Reihe von Morden, die Lüdke im norddeutschen Raum begangen haben sollte und auch schon gestanden hatte, untersuchte und die Tatvorwürfe als Resultat einer Fiktion entlarvte, rechnete man mit einem Geständniswiderruf Lüdkes. Die Justiz überführte ihn "sicherheitshalber" (angeblich, um ihn vor den alliierten "Terrorangriffen" auf Berlin zu schützen) in ein Wiener Gefängnis, wo er unter immer noch ungeklärten Umständen starb.

In ihrem Prozess gegen den Gloria Filmverleih vor dem Zivilgericht Hamburg beriefen sich die Schwestern Lüdkes 1958 auf die Zweifel der Hamburger Kriminalpolizei hinsichtlich der Täterschaft Lüdkes in den norddeutschen Fällen, ohne Erfolg freilich. Dem Begehren der Klägerinnen, die Verwendung des Namens ihres Bruders in Siodmaks Film zu unterlassen, wurde nicht stattgegeben. Das Zivilgericht vollstreckte vielmehr die Geschichtsklitterung der massenmedialen Falldarstellung als wahr und wirklich, so daß auch heute noch, wie bei Schwab, Lüdke als erfolgreichster deutscher Serienmörder aller Zeiten gilt, obwohl er die gestandenen 53 Morde mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht begangen hat.

Die postume Verurteilung Lüdkes durch Will Bertholds true crime story und Siodmaks Verfilmung beruhte auf Verdachtsmomenten, die schon zu Lüdkes Verhaftung geführt hatten: Die "degenerierte" Physiognomie des von den Nachbarn der "doofe Bruno" 6 genannten Verdächtigen (laut medizinischem Gutachten: abgeflachter Hinterkopf, tierischer Gesichtsausdruck "wie bei einem Orang-Utan" 7 ), sein Körperbild (untersetzte kräftige Figur, lange Arme) und die Angewohnheit, in Scheunen oder Heumieten zu schlafen, das Nomadisieren ("Wandertrieb") und "Zigeunern" ließen bereits den Kriminalkommissar Franz in Lüdke den Prototyp des "geborenen Verbrechers" erkennen, das gänzlich Andere, das degenerierte Monster, wie gemalt für das nationalsozialistische Verbrecheralbum. 8 In Nachfolge des medizinischen Gutachters fühlte sich "Der Spiegel" noch 1950 beim Anblick Lüdkes an einen Menschenaffen 9 erinnert. Auch Berthold und Siodmak akzentuierten die "degenerativen" Züge Lüdkes.

Im Konstrukt "Massenmörder Lüdke" schießen entsprechend mindestens vier Diskurse zusammen:

  1. ein nationalsozialistisch-kriminalbiologischer

  2. ein medialer,

  3. ein juristischer,

  4. ein wissenschaftlicher Diskurs (Schwab), der den "wirklichen Massenmörder" Lüdke in Form der Diskursfigur Serienmörder noch einmal ermordet. An einer viel weniger auffälligen Stelle, sozusagen en passant, demonstriert Schwab sehr unfreiwillig die Suggestivität dieses diskursiven Konstrukts, der auch sie sich nicht hat entziehen können. Sie behauptet nämlich, Leo Perutz habe in seinem Roman "Der Meister des Jüngsten Tages" (1923) "die Figur eines Serienkillers, der seine mörderische Energie auf Künstler konzentriert, ganz ins Zentrum der Handlung" gestellt (S. 63 f.).

Ohne Frage schildert Perutz eine Reihe mysteriöser Todesfälle, die einige gemeinsame Merkmale aufweisen, eine Art Täter-Handschrift. Es gibt sogar einen >Profiler< (den einzigen Naturwissenschaftler des Romans, den Ingenieur Waldemar Solgrub). Er konstruiert aus der Handschrift das Täter-Profil: Es muß sich um einen schwergewichtigen Italiener (Mafioso!) handeln. Der >Italiener< entpuppt sich jedoch als ein in italienischer Sprache verfaßtes, in einem dicken Wälzer verstecktes Rezept zur Anfertigung einer halluzinogenen Droge. Die >Mordopfer<, ausschließlich Künstler, denen die Inspiration abhanden gekommen ist und die sich diese durch die Einnahme der Droge von außen zuführen wollen, begehen auf dem Höhepunkt der Inspiration, dem Wahne nahe, Selbstmord. Der Leser, der im Unterschied zu Schwab den Roman zu Ende liest, wird mit einer hübschen Pointe belohnt. Ihm erscheint die vom Erzähler mit allen Tricks etablierte Figur des Serienmörders in ihrer wahren Natur als ein Diskurs (ein Rezept für Hysterie).

Panikmache und Beschwichtigung

Das Serienkiller-Stereotyp dient nach Schwab in erster Linie der Durchsetzung konservativer politischer Ziele. Die Diskursivierungspraxis der Reagan-Regierung habe in den 1980er Jahren die Angst vor Serienkillern systematisch bis zur Panik angeheizt, um die Liberalisiserungspolitik der Carter-Ära durch eine an innerer Sicherheit orientierte Politik zu ersetzen und Reformen zurücknehmen zu können, die angeblich die bestialischen Gewalttäter massenhaft hervorgelockt hätten. Das FBI habe diese Kampagne mit verzerrten statistischen Daten und vor allem mit dem Konzept des >Profiling< unterstützt. (>Profiling< beruht auf einem bundesweiten Datensystem, dem "Violent Crime and Apprehension Program / VICAP", das die Annahme von in Serie mordenden Gewalttätern überhaupt erst erzeugt, weil sich durch Vergleich massenhaft angehäufter Datensätze bestimmte Muster oder Cluster bilden, die sogenannten Tatort- und Täterprofile. Den systematischen Nachweis, daß diese Serien >wirklichen< Serientätern zuzuschreiben sind, ist das FBI bisher schuldig geblieben. Fahndungserfolge beruhen nach wie vor auf alltäglicher Polizeiarbeit und >Kommissar Zufall<.)

Die Amtshilfe für lokale Strafverfolgungsbehörden sei nicht uneigennützig gewesen, habe das FBI doch mit Hilfe von "VICAP" polizeiliche Hoheitsrechte der Einzelstaaten zugunsten der Bundespolizei beschneiden können. Diese in Kap. IV, S. 76–96, fast ausschließlich von Philip Jenkins' Studie "Using Murder" 10 inspirierten Überlegungen werden später in Kap. VI auf die faschistischen Strömungen der Weimarer Republik und auf die Diskurspolitik der Nationalsozialisten übertragen (als handele es sich bei der Gestapo um einen Vorläufer des FBI und beim Typus des "geborenen Verbrechers" um eine VICAP vergleichbare Datenbank).

Erst gegen Ende der Untersuchung, in Kap. IX, finden sich Reflexionen über den Begriff des "Seriellen", die man, wenn überhaupt, früher erwartet hätte, etwa im Kontext der Begriffsbildung "Serienkiller" durch den FBI-Agenten Robert Ressler (S. 89 und passim). Diese Passagen stehen in Widerspruch zu der von Schwab vertretenen Annahme, der Serienmörder sei eine von Konservativen und vom FBI erfundene Kunstfigur. Die eigenen Überlegungen zum Seriellen belegen, daß Schwab im Grundsatz doch an die Existenz von Serienmördern glaubt, daß sie die gegnerischen Ansichten lediglich für verzerrt, übertrieben und politisch motiviert hält.

Schwab kritisiert die konservative Dramatisierung der Serienmörder-Gefahr aus der Perspektive der Veralltäglichung, der Entdramatisierung und der Ästhetisierung. Sie entmystifiziert das >Monster< als Opfer (gesellschaftlicher Verhältnisse). Selbstverständlich ist diese Position der Beschwichtigung nicht weniger politisch als die der Panikmache. Mit der Serienmörder-Thematik (wie überhaupt mit Kriminalität) läßt sich in beliebige Zielrichtungen Politik machen.

Ästhetisierung

Kennzeichnend für den Standpunkt Schwabs ist, daß ihr Buch, nach einer kursorischen Einführung (Kap I), nicht mit der Exposition des Serienmörder-Problems beginnt, sondern mit einer, wie es im Klappentext zutreffend heißt, "synthetischen" Verarbeitung unterschiedlicher Theorieansätze (Diskursanalyse, Filmtheorie, Systemtheorie, Psychoanalyse) zum Problem der Wahrnehmung (von Zerstückelung und Ganzheit, Kap. II). Vor dem Hintergrund des theoretischen Aufwandes und der illustren Namen (u. a. Marx, Freud, Lacan, Foucault) überrascht es schon, wenn die von August Langen 1934 in seiner Dissertation 11 traktierte "Rahmenschau" (S. 37) revitalisiert und später (S. 81–86) mit dem soziologischen Rahmenbegriff kurzgeschlossen wird, der allerdings keineswegs wie der von Langen etwas mit Wahrnehmung zu tun hat, sondern vom Theaterrahmen abgeleitet ist (schließlich geht es in der Soziologie um Kommunikation und Interaktion und nicht um Apperzeption / Perzeption wie bei Langen). Die Rahmenschau im Langenschen Sinne scheint auf dem Wege der >stillen Post< übermittelt worden zu sein, denn weder Schwab noch ihr Gewährsmann 12 geben die eigentliche Quelle des von ihnen benutzten Begriffs an.

Langen hatte die durch das Medium Guckkasten gekennzeichnete Rahmenschau als eine Wahrnehmung mit scharf umgrenzten Konturen dem aufklärerischen Rationalismus des 18. Jahrhunderts zugeordnet und der (protokinematographischen) Laterna magica entgegengesetzt, die nach seiner Vorstellung ein Medium der (romantischen) Unschärfe, des Verschwimmens und der trügerischen Phantome war, eine auch medientechnisch waghalsige und nicht haltbare Unterscheidung. 13

Schwab übernimmt diese Unterscheidung, kehrt aber die Bewertung um. War bei Langen die rationalistische Rahmenschau noch das Palliativ gegen romantischen Irrationalismus, so ist sie bei Schwab Inbegriff bürgerlicher zentralperspektivischer, ganzheitlicher Weltwahrnehmung, während das Nachfolgemedium der Laterna magica, der frühe Film mit seinen flackernden, zuckenden und phantomatischen Bildern, als ein Medium der avantgardistischen Zerstückelung aufgewertet wird: "Der Filmstreifen als solcher ist in diesem Sinne nichts anderes als eine Serie von symbolisierten Morden" (S. 118). Daher liebe das primitive Kino den Serienkiller (S. 115–120). Er ist gewissermaßen der subversive Bruder der Avantgarde. Der affirmative Hollywoodfilm habe aus kommerziellen Gründen die bürgerliche rationalistische Rahmenschau, den homogenisierenden, das Fragmentarische und Zerstückelte verabscheuenden Blick aus der Zentralperspektive favorisiert. Schwabs Spielfilmanalysen gehen durchgängig der Frage nach, welches Blick-Konzept bevorzugt wird, der fragmentierende Blick der subjektiven Kamera beispielsweise in "The Texas Chainsaw Massacre" oder der "klare Blick" (S. 295–313) der Totalen in Jonathan Demmes "The Silence of the Lambs" .

Auch in diesem Zusammenhang spielt "Nachts, wenn der Teufel kam" eine Schlüsselrolle. Nach Schwab ist hier die Polarität von fragmentierendem und homogenisierendem Blick auf den Punkt gebracht. Siodmak habe in jener Szene, die zeigt, wie von Lüdkes Kopf ein Gipsabdruck genommen wird, dem "nationalsozialistischen Ganzheits- und Körperwahn" (S. 167) und der aalglatten Ästhetik eine fragmentierende "rauhe" und avantgardistische Alternative entgegengehalten:

völlig überproportioniert sitzt der monströse Schädel auf Brunos entblößtem Oberkörper und die groben Spachtelspuren erscheinen wie avantgardistische Stacheln auf der Oberfläche der Skulptur. [...] Die Ordnungshüter des NS-Staates wollen sich von Bruno Lüdke ein hieb- und stichfestes Bild machen und bekommen statt dessen einen fragmentarischen Gipskopf präsentiert, der wie abgeschnitten auf einem mächtigen – arischen – Torso sitzt [...]. (S. 169 f.)

Die Film-Episode ist biographisch verbürgt. Die historische Vergipsungs-Sitzung wird von Will Berthold unter der Überschrift "So wurde der Teufel für die Nachwelt konserviert" 14 mit drei dokumentarischen Fotos illustriert. Nach der Abformung des Kopfes wurde eine Lebendbüste für das Kriminalmuseum modelliert. Auch diese äußerst realistische Büste ist erhalten. Sie dient als Totenmaske des offiziell nie verurteilten und hingerichteten Lüdke. Wir haben es mit einer Hinrichtung in effigie zu tun.

Hierfür spricht auch die Abformung der rechten Hand Lüdkes (Berthold: "Eine Pratze, an der Blut klebt"). Im Freundschaftskult des 19. Jahrhunderts spielte die (wechselseitige) Gabe von Gipsabdrücken der rechten Hand eine große Rolle als Zeichen der Verehrung. Die fetischistischen Andenken konfrontieren den Betrachter aber auch "mit dem doppeldeutigen voyeuristischen Begehren [...], das auf Aneignung des Körpers eines Anderen zielt." 15

Siodmak folgt ziemlich kritiklos der optischen Zerstückelung und Aneignung Lüdkes durch die Nazis und präsentiert den Kinozuschauern eine symbolische Hinrichtung, in deren Verlauf der lebendige Kopf durch seine Totenmaske ersetzt wird. Die Maskierung Lecters in "The Silence of the Lambs" stellt einen vergleichbaren Versuch dar, das ganz Andere stillzustellen und wenigstens visuell anzueignen. Auch in anderen von Schwab analysierten Spielfilmen treten Maskierte auf: In "Psycho" (der Sohn verkleidet sich als seine Mutter) und in "The Texas Chainsaw Massacre" (Leatherface trägt eine Ledermaske). Diese Kontinuität der Maskenmetapher im Horror-, Splatter- und Serienkiller-Film übersieht Schwab.

Antifeminismus

Einen Bestandteil der Diskursfigur Serienmörder bildet die in den 1980er Jahren verbreitete radikal feministische Auffassung, serial killing sei femicide und somit eine Domäne des (weißen) Mannes. Gegen diese These eines männlichen gender terrorism argumentiert Jenkins, daß 10 bis 15 Prozent der überführten amerikanischen Serienmörder weiblichen Geschlechts sind. 16 Gestützt auf die bei Jenkins veröffentlichten Zahlen geht Schwab von einer langen und verheimlichten Tradition "weiblicher Serienmörderinnen(!)" aus:

Die gängige Definition vom sexbesessenen Täter, der aus rein sexuell motivierter Lust seine Triebe befriedigt, war und ist mit dem traditionell gewachsenen bürgerlichen Moralvorstellungen (die der Frau solche Triebe meist sowieso abspricht), aber auch mit radikal feministischen Ideologien über das >Wesen< der Frau schlichtweg schwer zu vereinbaren. Aus diesem Grunde werden Frauen in vielen Fällen zunächst überhaupt nicht als Täter >ins Auge gefaßt< und können – gesetzt den Fall, daß sie tatsächlich als Mörderinnen ihr Unwesen treiben – dem wachen Auge des Gesetzes entgehen, da sie sich außerhalb des dominanten Blickwinkels befinden. (S. 45)

Anstatt nun die Diskursfigur Serienmörder aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und der weiblichen Alternative im Film die Ehre zu erweisen – man denke an Abel Ferraras "Ms. 45 / Angel of Vengeance / Die Frau mit der 45er Magnum" (1981), Ridley Scotts "Thelma & Louise" (1990) oder Paul Verhoevens "Basic Instinct" (1992) – beschränkt Schwab sich darauf, jegliche Herstellung des Zusammenhangs von Geschlecht und Serienmord grundsätzlich als feministisch zu denunzieren.

Tauchen sachliche und interpretatorische Differenzen auf, wie zum Beispiel zwischen ihr und Maria Tatar hinsichtlich der Einschätzung des Kindermörders Beckert in Fritz Langs "M" (Monster oder Opfer), wird die kontroverse Position mit dem Verdacht auf zugrundeliegenden Feminismus (in einer Fußnote) abqualifiziert (S. 346, Anm. 21). Tatar hatte lediglich behauptet, die Figur Beckert werde von Lang als "horrifying example of aberrant behavior" (als "Monster") eingeführt und entwickle sich im Verlauf des Films in ein "Opfer" (gesellschaftlicher Verhältnisse): "into a character connected through his passions and manias with those around him." 17

In den Müttern sehe Lang die eigentlich Schuldigen, da sie nicht in jeder Sekunde ihre Kinder überwachen, dies unterstreiche der Film durch die Schlußsequenz, in der drei schwarzgewandete, die gesamte Leinwand ausfüllende, dem Kino-Besucher zugewandte Frauen ihre Mit-Mütter selbstkritisch auffordern, besser auf ihre Kinder aufzupassen. Wo die mütterliche Überwachungspflicht verletzt werde, könne auch die väterliche Ordnungsmacht, können weder "Papa Lohmann", der ermittelnde Polizei-Kommissar, noch der zeitgleich ermittelnde "Schränker" helfen, ein dreifacher Totschläger, der >Pate< des durch die Polizeifahndung nach dem Kindermörder bedrohten kriminellen Ringvereins.

Dieser doch immerhin plausiblen Position (was daran feministisch sein soll, hat sich mir nicht erschlossen) stellt Schwab ihre eigene, wie sie einräumen muß, erst nach mehrmaliger Betrachtung des Films nachvollziehbare Behauptung entgegen, daß die Täterschaft Beckerts von Lang im Unklaren gelassen werde und lediglich ein Konstrukt des Zuschauers darstelle (S. 148 f.). Schwabs Interpretation läuft auf eine Unschuldsvermutung hinaus, was nicht ohne Ironie ist, da im nächsten, an die "M"-Analyse anschließenden Kapitel Siodmaks "Nachts, wenn der Teufel kam" herhalten muß, um einen Unschuldigen, Bruno Lüdke, schuldig zu sprechen.

Schwabs bisweilen militanter Antifeminismus ist besonders ärgerlich, weil es sich im Falle der Untersuchung von Maria Tatar um eine informative Studie zum "Lustmord" in der Weimarer Republik handelt, und er geht ins Leere, weil mittlerweile auch die (nichtfeministische) kriminologische und medienwissenschaftliche Forschung zum Serienmörderproblem immer häufiger die Frage nach der Bewerkstelligung von Geschlecht durch Gewalt stellt. 18

Fazit

Schwabs Dissertation ist die erste deutschsprachige Monographie zum Serienkillerfilm gewesen, sieht man einmal von eher enzyklopädischen Darstellungen wie Christian Fuchs' "Kino Killer" 19 ab, das muß bei der Beurteilung ihres erst 2001 erschienenen Buches selbstverständlich berücksichtigt werden. Insofern haben wir es mit einer Pionierleistung zu tun, die vieles entschuldigt. Positiv zu bewerten ist außerdem, daß die europäischen Quellen dieses angeblich amerikanischen Problems thematisiert werden. Obwohl ich mit dem Buch viel zu kämpfen hatte (es stellt mehr Fragen, als es beantwortet), habe ich es wohl gerade deswegen mit Gewinn gelesen.


Prof. Dr. Klaus Bartels
Universität Hamburg
Institut für Germanistik II
Von-Melle-Park 6
D-20146 Hamburg

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 28.10.2002
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Joachim Linder. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]



Anmerkungen

1 Mark Seltzer: Serial Killers. Death and Life in America's Wound Culture. New York u.a.: Routledge 1998; Martin Büsser: Lustmord-Mordlust. Das Sexualverbrechen als ästhetisches Sujet im 20. Jahrhundert. Mainz: Ventil 2000; Philip L. Simpson: Psycho Paths: Tracking the Serial Killer Through Contemporary American Film and Fiction. Carbondale u.a.: Southern Illinois University Press 2000 Karl Juhnke: Das Erzählmotiv des Serienmörders im Spielfilm. Eine filmwissenschaftliche Untersuchung. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Kiefer. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2001. (Zugl.: Diss., Braunschweig: Hochschule für Bildende Künste 2000). Zu Juhnke vgl. die Rezension von Joachim Linder bei IASLonline http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/linder.html (ins Netz gestellt am 26.05.2002).    zurück

2 Vgl. hierzu Gabriela Holzmann: Schaulust und Verbrechen. Eine Geschichte des Krimis als Mediengeschichte (1850–1950). Mit 76 Abbildungen. Stuttgart u.a.: Metzler 2001, S. 269–274. Vgl. die Rezension von Heike Anna Hierlwimmer bei IASLonline http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/hierlwimmer.html (ins Netz gestellt am 11.07.2002).   zurück

3 J. A. Blaauw: Kriminalistische Scharlatanerien. Bruno Lüdke – Deutschlands größter Massenmörder? In: Kriminalistik 48 (1994), S. 705–712.    zurück

4 J. A. Blaauw: Bruno Lüdke: Seriemoordenaar: De werkelijkheid achter de bekentenissen van >de grootste seriemoordenaar< uit de Duitse criminele geschiedenis. Baarn: De Fontein 1994.   zurück

5 Unter "evil kitsch" ist nach Seltzer (Anm. 1, S. 108 u. 121 f.) die massenmediale Aufbereitung spektakulärer Serienmordfälle zu verstehen. Hierzu gehören alle Formen der enzyklopädischen Sammlung (Serienmörderlexika). Regener sieht in Siodmaks Film ebenfalls ein Vehikel der Verkitschung. Vgl. Susanne Regener: Mediale Transformationen eines (vermeintlichen) Serienmörders: Der Fall Bruno Lüdke. In: Kriminologisches Journal 33 (2001), S. 7–27, hier S. 11.   zurück

6 J. A. Blaauw (Anm. 2), S. 706.   zurück

7 Susanne Regener (Anm. 5), S. 15.   zurück

8 Regener analysiert sehr eingehend und schlüssig eine dreibändige, "Album der Morde" genannte Dokumentation des Falles Lüdke, die nach dem Krieg im Berliner Kriminalmuseum ausgestellt war. Nach ihrer Auffassung war dieses Album Teil einer umfassenden, allerdings (durch die Zweifel der Hamburger Kriminalpolizei) geplatzten Kampagne mit dem Zweck, an Lüdke die Theorie des "geborenen Verbrechers" zu demonstrieren (Susanne Regener [Anm. 5], S. 13–17).   zurück

9 Susanne Regener (Anm. 5), S. 25.   zurück

10 Philip Jenkins: Using Murder. The Social Construction of Serial Homicide. New York: Aldine De Gruyter 1994.   zurück

11 August Langen: Anschauungsformen der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts (Rahmenschau und Rationalismus) Jena: Eugen Diederichs 1934.   zurück

12 Heinz Brüggemann: Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform. Frankfurt / M.: Fischer 1989. Zum Begriff der eindeutig Langen nachempfundenen Rahmenschau vgl. S. 44–68. Langen wird allerdings nirgendwo erwähnt.   zurück

13 Klaus Bartels: Proto-kinematographische Effekte der Laterna magica in Literatur und Theater des achtzehnten Jahrhunderts. In: Harro Segeberg (Hg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst (Mediengeschichte des Films 1) München: Fink 1996, S. 113–147. Zur Kritik an Langen S. 125 f.   zurück

14 Vgl. Susanne Regener (Anm. 5), S. 23.   zurück

15 Edouard Papet: Hautnah. Die Abformung des Lebens im 19. Jahrhundert. Katalog zur Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle 14. Juni bis 1. September 2002. Hamburg: Hamburger Kunsthalle 2002, S. 36 / 7.   zurück

16 Philip Jenkins (Anm. 10), S. 142 f.   zurück

17 Maria Tatar: Lustmord. Sexual Murder in Weimar Germany. Princeton u.a.: Princeton University Press 1995, p. 168.   zurück

18 Vgl. aus kriminologischer Sicht, ohne Focussierung auf Serienmörder, Joachim Kersten: Gut und (Ge)schlecht. Männlichkeit, Kultur und Kriminalität. Berlin u.a.: de Gruyter 1997. Zur amedienwissenschaftlichen Sicht ansatzweise Philip L. Simpson (Anm. 1).   zurück

19 Christian Fuchs: Kino Killer. Mörder im Film. Wien: Edition S 1995.   zurück