- Theodor M. Bardmann / Alexander Lamprecht:
Systemtheorie verstehen. Eine
multimediale Einführung in systemisches Denken. CD-ROM. Wiesbaden:
Gabler Westdeutscher Verlag 1999.
DM 128,-.
ISBN 3-531-13461-2
Vom Diskurs zum Hypertext
In einem der zehn Interviewtexte, die auf der CD-ROM Systemtheorie
verstehen versammelt sind, bemerkt der Unternehmensberater Sebastian
Koch, es gebe bestimmte Dinge, die sich der Inszenierung entziehen. Es
könnte sein, dass die Systemtheorie zu diesen Dingen gehört.
Jedenfalls ist von vornherein mit erheblichen Schwierigkeiten zu rechnen,
wenn man ihren abstrakten und komplexen Diskurs in "Eine multimediale
Einführung in systemisches Denken" umsetzen will, wie es sich die
Autoren dieses an der Fachhochschule Niederrhein entwickelten Lehr- und
Lernprogramms vorgenommen haben. Die Schwierigkeiten ergeben sich dabei nicht
nur aus der Sache selbst — also aus der Notwendigkeit, einen leicht
verständlichen Zugang zu einer oft schwer verdaulichen Materie
freizulegen. Sie ergeben sich vor allem aus dem Anspruch, die
Möglichkeiten der Multimedialität und Interaktivität für
eine Form der Selbst-Vermittlung von Theoriebausteinen zu nutzen, wie sie
literarische Medien angeblich nicht zu leisten vermögen.
Das zumindest behaupten Theodor M. Bardmann und Alexander Lamprecht in ihrer
Begleitbroschüre. "Das Vorzugsmedium Buch suggerierte den
Leserinnen und Lesern noch Linearität und Serialität, während
die Theoriekonstruktion bereits auf Zirkularität und komplexe Vernetzung
eingestellt war." Eine Beurteilung ihres Versuchs, die Systemtheorie als
Hypertext zu präsentieren und multimedial zu inszenieren, wird daher zum
einen die fachliche Kompetenz in der Sache und zum anderen die Performanz des
Mediums berücksichtigen müssen, das in der Begleitbroschüre
als eine dem Buch überlegene Alternative ausgegeben wird.
Lektürepensum CD-ROM
Was zunächst die >Sachdimension< 1 betrifft, so haben Bardmann,
Lamprecht und ihre Mitarbeiter viel Mühe darauf verwandt, der inzwischen
erreichten begrifflichen Ausdifferenzierung der Systemtheorie gerecht zu
werden. Ob man auf ihrer CD-ROM durch das umfangreiche Literaturverzeichnis
>scrollt< allein 86 der 377 Einträge verweisen auf Publikationen von
Niklas Luhmann — , ob man durch die alphabetisch geordneten
Worterklärungen >surft<, ob man die Interviewtexte oder die ihnen
beigefügten Portraits liest —: das kybernetisch geschulte Denken wird
sorgfältig dokumentiert und kommentiert, aber eben durchweg in
schriftlicher Form, so dass der Versuch, die Systemtheorie anhand dieses
Programms zu verstehen, fast ausschließlich zum Lektürepensum
gerät.
Bardmann und Lamprecht sind gewiss nicht dafür verantwortlich, dass
manche Versatzstücke der Systemtheorie — etwa ihr reduktionistischer
Zeichenbegriff — angesichts der Komplexität ihres prinzipiell
unerschöpflichen Gegenstandsbereichs hoffnungslos überfordert
wirken. Ebenso wenig kann man ihnen die idiosynkratische Verwendung
bestimmter Termini zum Vorwurf machen. Das betrifft zum Beispiel den
Medien-Begriff der Systemtheorie, der weder dem Alltagsverständnis noch
den Auffassungen entspricht, die in der Publizistik oder in der Semiotik
vertreten werden. Eine Einführung sollte auf solche
Kompatibilitäts-Probleme allerdings hinweisen, Schnittstellen zu anderen
Diskursen benennen und damit auch ein kritisches Licht auf ihren Gegenstand
werfen.
Die Problematik der CD-ROM zeigt sich freilich nicht erst dort, wo es um
ihren didaktischen Wert geht. Unter den technischen Anforderungen für
IBM-kompatible und Macintosh-Rechner, die auf dem Cover aufgelistet sind,
wird >Quicktime 4< genannt. Dazu heißt es: "Quicktime 4 ist
für beide Betriebssysteme auf dieser CD-ROM enthalten."
Entsprechend erstaunt ist man, nach dem Start des Programms die schriftliche
Mitteilung lesen zu müssen, man solle sich das Quicktime-Tool
bitteschön im Internet herunterladen, um die Bild- und Tondateien des
Programms öffnen zu können. Also: 'raus aus dem Programm, 'rein ins
Netz und unter www.apple.com den >download< der aktuellen Version von
Quicktime (5.02) nachholen. Das funktioniert problemlos, dauert ungefähr
fünf Minuten und gibt den Nutzern Gelegenheit, erst einmal durch die
Begleitbroschüre von Bardmann und Lamprecht zu >browsen<.
Nach dem Neustart von Systemtheorie verstehen erscheint auf dem
Monitor eine Menüleiste, über die man Haupttexte,
Definitionen und Interviews aufrufen kann. Wer auf
Haupttexte; klickt, hat die Auswahl zwischen dreizehn für die
Systemtheorie zentralen Begriffen wie "Kommunikation" oder
"Autopoiesis". Innerhalb der einzelnen Erläuterungen sind
bestimmte Schlüsselwörter farbig markiert; sobald der >cursor<
über diese Markierungen gleitet, öffnen sich entweder sogenannte
"infoids" mit knappen Erklärungen oder es wird ein
"link" zu einer der knapp 240 "Definitionen" hergestellt,
die auch über die entsprechenden >pull-down<-Menüs zu erreichen
sind. Unter der Rubrik Interviews finden sich zehn weitere
Textdateien im Umfang von 463 Seiten, in denen so maßgebliche Vertreter
der Systemtheorie wie Heinz von Foerster, Zygmunt Baumann oder Michel Serres
Auskunft über ihr Denken geben. Hinzu kommen nicht minder umfangreiche
Kommentare, die nach dem gleichen Prinzip als Textblöcke mit
"links" und "infoids" angelegt sind.
Allein diese Aufzählung macht deutlich, dass die CD-ROM zur Hauptsache
ein Hypertext mit vernetzten Wortdateien ist. Den 47 Graphiken, 12
Animationen und 33 Videosequenzen, in denen sich die Multimedialität des
Programms erschöpft, stehen Hunderte von Textseiten bzw. Textfenstern
gegenüber. Systemtheorie verstehen ist im Grunde ein
umfangreiches Glossar, das man sich ohne weiteres auch als gedrucktes
Nachschlagewerk vorstellen kann. Ob die Platzersparnis im Bücherregal,
die mit der CD-ROM-Edition verbunden ist, die relative Umständlichkeit
der Informationsbeschaffung rechtfertigt, mag ein jeder Nutzer im Hinblick
auf die von Luhmann exponierte >Zeitdimension< des Sinns 2 selbst entscheiden.
Hauptspeicher Buch
Schade ist auf jeden Fall, dass die Autoren und ihre Mitarbeiter so wenig
Mühe darauf verwendet haben, die spezifischen Möglichkeiten des
Computerdisplays zu nutzen, um die Entwicklungsgeschichte der Systemtheorie
oder die Zusammenhänge zwischen den Begriffen zu veranschaulichen, die
ihr Glossar enthält. Statt der vergleichsweise öden
Amateuraufnahmen (die >think tanks< werden bei ausnahmslos starrer
Kameraperspektive zumeist als Bleichgesichter im Gegenlicht
präsentiert), hätte man die Faszination des systemischen Denkens
mit sich schrittweise aufbauenden Verlaufsdiagrammen oder witzigen
Illustrationen wesentlich spannender und lehrreicher in Szene setzen
können.
Offenbar haben Bardmann und Lamprecht zu sehr auf die implizite Struktur der
CD-ROM vertraut und gar nicht die kreative Herausforderung bemerkt, die sich
aus der Sinn-Zerstreuung des theoretischen Diskurses im Hypertext ergibt.
Wenn es in ihrer Begleitbroschüre heißt: "Schon das Medium —
und nicht erst die Theoreinhalte — konfrontiert den Nutzer mit einer
Komplexität, die Selektionen unausweichlich macht. Und vielleicht ist
genau das die Lektion jenseits der hier aufrufbaren Lektionen:
Komplexität verlangt, sie durch selbstbestimmte Selektionen auf ein
handhabbares Maß zu reduzieren", so klingt das zwar trotz der
grammatikalischen Unzulänglichkeiten großartig, erweitert den
Erfahrungsschatz des Nutzers jedoch kaum über das hinaus, was er oder
sie bei jedem Einkauf im Supermarkt erleben kann. Anstatt ihrem textlastigen
Produkt mit solchen und ähnlichen Alibi-Formulierungen eine
Differenzqualität gegenüber dem angeblich bloß linearen Buch
zu vindizieren, das nach wie vor den Hauptspeicher bildet, aus dem Bardmann
und Lamprecht ihre Lehr- und Lerninhalte schöpfen, wäre es
überzeugender gewesen, die heuristischen Vorteile der Systemtheorie etwa
anhand der Medienevolution exemplarisch vorzuführen:
Wendet man zum Beispiel die erwähnten Schlüsselbegriffe der
Autopoiesis und der Kommunikation auf das System der Literatur an, so wird
deutlich, dass hier beständig Lesarten Schreibweisen und Schreibweisen
Lesarten generieren. Indem Bücher über die Lektüre hinaus zu
Anschlussoperationen führen, die wiederum Texte entstehen lassen, die
aufeinander Bezug nehmen, wird aus der Literatur selbst ein Hypertext-System
und aus dem einzelnen Buch ein Netzwerk intra- und intertextueller
Bezüge, das sich eben nicht mehr linear, sondern nur noch kybernetisch
erfassen lässt. Einem cleveren Graphiker wäre dazu bestimmt eine
anregende Animation eingefallen.
Vom Hypertext zum Diskurs?
Die Krux liegt also darin, dass Bardmann und Lamprecht die Linearität
der Buchstabenfolge mit den kybernetischen Techniken des Schreibens und
Lesens bzw. die Materie mit der theoretischen Perspektive verwechselt haben.
Auch von einem >Hypertext< zu sprechen ist nur eine heuristische Lesart vor
dem Hintergrund kontingenter Differenzierungen. Keineswegs ist ein Lehr- und
Lernprogramm durch die Technologie der CD-ROM der Gestaltungsaufgaben
enthoben, die eine "multimediale Einführung" an die
inszenatorische Phantasie ihrer Autoren stellt. Einzig und allein für
die Eröffnungssequenz haben sich Bardmann und Lamprecht eine pfiffige
Idee einfallen lassen: Sobald die Menüleiste zu sehen ist, wird den
Nutzern aus dem Off ein "Draw a distinction" souffliert. Das ist
eine hübsche Reminiszenz an Spencer Brown, die einen veranlassen soll,
den Mauszeiger über den >unmarked space< des Bildschirms zu bewegen,
damit sich die Hauptkarte mit den dreizehn Schlüsselbegriffen aufbaut.
Bezeichnenderweise wird dieser spielerische Auftakt jedoch nicht mit einer
Lehr- und Lerneinheit zur architektonischen Funktion von Spencer Browns
Konstruktionsregel verknüpft. So stellt sich insgesamt die Frage, ob die
Art und Weise, in der Bardmann und Lambrecht ihre Informationen mitteilen,
dem Verständnis des systemischen Denkens wirklich förderlich ist.
Die Zerstreuung, die Sinnzusammenhänge im Hypertext erfahren, scheint
der Diskursivität entgegen zu arbeiten, die wahrscheinlich macht, dass
der von Luhmann unterschiedene Dreischritt von der Information über die
Mitteilung zum Verstehen 3 nicht auf halbem Wege stecken bleibt.
Multimedialiät und Interaktivität können — zumindest
dergestalt, wie sie auf dieser CD-ROM zum Einsatz gelangen —, weder ein
Ersatz für die diskursive Prozess-Struktur, der eine
"Einführung" bedarf, noch für die
"Sozialdimension" 4 eines sinnverwendenden Lehr- und Lehrprogramms
sein. Daran ändert auch die Internet-Anbindung der CD-ROM wenig, wie ein
Besuch des Diskussionsforums zeigt, das man unter
www.fh-niederrhein.de/fb06/medienz/foren.htm erreichen kann. Weit davon entfernt, das
Vorzugsmedium Buch zu überholen, erweist sich die CD-ROM als digitales
Gedächtnis für Einsichten, deren Vermittlung und Vernetzung nach
wie vor dezidiert literarischer Techniken bedarf.
Dr. Matthias Bauer
Universität Mainz
Deutsches Institut – Neuere Literaturwissenschaft
Jakob-Welderweg 18
D-55128 Mainz
Ins Netz gestellt am 02.10.2001
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Anmerkungen
1 Von einer >Sachdimension< ist in der Systemtheorie "im Hinblick auf alle
Gegenstände sinnhafter Intention (in psychischen Systemen) oder Themen
sinnhafter Kommunikation (in sozialen Systemen)" die Rede. vgl. Niklas
Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. 2. Aufl.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 114. zurück
2 "Die >Zeitdimension< betrifft die Interpretation der Realität im Hinblick
auf die Differenz von Vergangenheit und Zukunft sowie, damit verbunden, die
Wahrscheinlichkeit, Aufmerksamkeit auf bestimmte Gegenstände oder Themen zu
lenken, vgl. Niklas Luhmann (Anm. 1), S. 116ff. Da sich Zeit anhand von
Aktionen interpunktieren lässt, stellt sich die Frage, was eigentlich
ökonomischer ist: der Griff ins Bücherregal, verbunden mit der Notwendigkeit,
die richtige Seite aufzuschlagen oder das >Hochbooten< von Computer und
CD-ROM bis man nach einer Reihe weiterer Mausklicks endlich die gesuchte
Definition gefunden hat. zurück
3 >Information<, >Mitteilung< und >Verstehen< stellen für Luhmann drei
Selektionspunkte dar, die über den Erfolg oder Nicht-Erfolg der Artikulation
und Rezeption sinnhafter Äußerungen entscheiden, vgl. Niklas Luhmann (Anm.
1), S. 196. zurück
4 "Die Sozialdimension betrifft das, was man jeweils als seinesgeichen, als
>alter Ego< annimmt, und artikuliert die Relevanz dieser Annahme für jede
Welterfahrung und Sinnfixierung", heißt es bei Niklas Luhmann (Anm. 1), S.
119. Die Sozialdimension erweist sich damit gerade im Hinblick auf den
pragmatischen, lebensweltlichen Sinn der Kommunikation, von ausschlaggebender
Bedeutung. Daraus folgt unter anderem, dass Verstehen sich tatsächlich vor
allem im Rahmen sozialer, dialogisch orientierter Szenen abspielt. So gesehen
liegt die von Bardmann und Lamprecht vertane Chance in der virtuellen,
interaktiven Darstellung solcher Szenen. zurück
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