Bauer über Cordie: Raum und Zeit des Vaganten

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Matthias Bauer

Weltaneignung als Fehlanzeige

  • Ansgar M. Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 19) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2001. XII, 632 S. 44 Abb. Geb. DM 296,-.
    ISBN 3-11-017011-6.


Der Schelmenroman galt im deutschsprachigen Kulturraum lange als relativ einfach gestrickte Gattung der Erzählkunst, in der lediglich Episoden aneinander gereiht werden, ohne dass sich dabei ein menschlicher Charakter oder ein philosophischer Gedanke entwickelt. Da schon Friedrich Schlegel den Wilhelm Meister (1795 / 96) zu den größten Tendenzen seines Zeitalters gerechnet hatte, fiel es der typologischen Deutung von Hegel bis Lukács leicht, im Entwicklungs-, Erziehungs- und Bildungsroman das narrative Modell der modernen Existenz und ihrer Reflexion zu sehen. Selbst die sogenannte Wiederkehr der Schelme, die durch Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1922 / 54) und Die Blechtrommel (1959) eingeleitet wurde, ließ sich noch auf dieses Modell beziehen — gelten diese Werke von Thomas Mann und Günter Grass doch als Parodie oder Kontrafaktur der Lehrjahre. Umgekehrt schien man über diesem Zusammenhang die Simplizianischen Schriften (1669 ff.) vernachlässigen zu dürfen, da kein direkter Weg von Grimmelshausen zu Goethe führt.

Erst die zunehmende Internationalisierung der Erzählforschung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat die Aufmerksamkeit der Interpreten auf die diskursive Raffinesse, die weltbildnerische Funktion und die Schlüsselrolle der >novela picaresca< im Rahmen der neuzeitlichen Romangenese gelenkt. Der Initialzündung des Lazarillo de Tormes (1554) im Siglo de oro sind laut Alejo Carpentier und Ernest Hemingway die Impulse vergleichbar, die von Büchern wie Lizardis El Periquillo Sarmiento (1819 / 31) oder Mark Twains Huckleberry Finn (1884) auf die süd- und nordamerikanische Erzählkunst ausgingen. Ähnliches kann man über den Gil Blas de Santillana (1705—35) sagen, dessen Verfasser Lesage der erste Berufsschriftsteller Frankreichs war, oder über den Russischen Gil Blas (1814 ff.) von Wassili Trofimowitsch Nareshny. Überhaupt scheint "Gil Blas" im 18.und 19. Jahrhundert ein gebräuchlicher Name für nicht-sesshafte Gestalten gewesen zu sein, was man etwa daran ablesen kann, dass Goethe die Autobiographie Johann Christoph Sachses 1822 unter dem Titel Der deutsche Gil Blas herausgab.

Entscheidend für diese und ähnliche Bezeichnungen war jeweils die Verknüpfung von Lebensbeichte und Reiseschilderung, von abenteuerlicher Handlung und Außenseiter-Perspektive, von verkehrter Welt und Gesellschaftspanorama. Gerade der Roman von Lesage, in dem diese Verknüpfung besonders überzeugend gelungen war, kann zudem als ein Werk des Übergangs vom Schelmen- zum Entwicklungsroman gedeutet werden, da sein Held sich im Gegensatz zu den pikaresken Gestalten der Renaissance- und Barockprosa erfolgreich in der zwar noch feudal bestimmten, aber schon von bürgerlichen Wertvorstellungen durchsetzten Lebenswelt seiner Zeit zu etablieren vermag.

Mit der Schlüsselrolle, die Schelmenromane bei der Begründung der neuzeitlichen Romankultur gespielt haben, rückte auch ihr Erzählformular ins Blickfeld der Forschung. Vor allem durch strukturanalytische und rezeptionsästhetische Untersuchungen konnte das Vorurteil von einer bloß episodischen Schilderung überwunden werden. Die einzelnen Streiche, die der Schelm oder seine Widersacher verüben, werden von einem ebenso parteiischen wie unzuverlässigen Ich-Erzähler berichtet — also von einem Vertrauensschwindler, dessen Lebensbeichte eine Komplementärlektüre erfordert. Das Bild der verkehrten Welt, das der Schelm entwirft, ist eine Kippfigur, die ebenso gut gegen die korrupte Gesellschaft gewendet wie auf seine eigene Korrumpierbarkeit zurückgeführt werden kann. 1

Aufschlussreiche Rückkopplungen ergaben sich bei dieser Neubewertung der pikaresken Literatur zur Romantheorie des Bachtin-Kreises. Das Konzept der Genreform-Maske schärfte den Blick für die Eigenart des "unreliable narrator" (Wayne C. Booth), als welcher der Schelm in Erscheinung tritt, während der Topos der satirisch verkehrten Welt mit den grotesken Motiven des Karnevals bestückt wurde. Als heuristisch überaus hilfreich hat sich in diesem Zusammenhang die Kategorie des Chronotopos erwiesen: Die räumliche und zeitliche Gestaltung der Schauplätze, an denen eine Geschichte spielt, ist demnach von ausschlaggebender Bedeutung für das Welt- und Menschenbild, das eine bestimmte Romangattung vermittelt und zugleich konstitutiv für den Handlungsverlauf der einzelnen Geschichte. 2

Grundlegend für den spezifischen Chronotopos des Schelmenromans ist die Verknüpfung der alltäglichen Erfahrungswelt mit der Idee eines im steten Wandel begriffenen Lebens, das sich auf den Straßen und in den Wirtshäusern, an den Rändern der Gesellschaft, abspielt. Diese Verknüpfung findet sich bereits im antiken Roman — etwa bei Apulejus, in dessen Metamorphosen die alltägliche Erfahrungswelt allerdings stark von wunderbaren Ereignissen durchsetzt ist. Diese Verschränkung realistischer und phantastischer Szenen findet sich noch im Barock — vor allem dort, wo der Schelmenroman allegorisch-religiöse oder karnevalesk-groteske Züge aufweist. Insgesamt lässt sich jedoch eine zunehmende Entzauberung der literarischen Chronotopoi beobachten, so dass es, schon rein forschungsgeschichtlich betrachtet, erhellend ist, Bachtins Studie über die Formen der Zeit im Roman, die 1937 / 38 verfasst wurde, parallel zu Erich Auerbachs Mimesis-Buch über die dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur zu lesen, das zwischen 1942 und 1945 geschrieben wurde.

Dichte Beschreibung

Auch Ansgar M. Cordie knüpft in seiner Monographie Raum und Zeit des Vaganten, an Bachtins Kategorie des Chronotopos und das Konzept der Komplementärlektüre an, um Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenromans des 17. Jahrhundert zu untersuchen, wie es im Untertitel heißt. Dazu konzentriert er sich auf vier exemplarische Fälle: Albertinus' Landtstörtzer Gusman (1615), Dürers Lauf der Welt und Spiel des Glücks (1668), Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1669) und Beers Corylo (1679 / 80). Schon diese Auswahl macht deutlich, dass Cordie keine komparatistische Studie zur Gattungsgeschichte beabsichtigt, sondern einen relativ kurzen historischen Zeitraum ausgewählt hat, um sich möglichst intensiv mit den einzelnen Texten dieser Epoche auseinandersetzen zu können. Im Ergebnis führt dies zu einer ausgesprochen "dichten Beschreibung" (S.39), in der für jeden der vier Romane mindestens hundert kleingedruckte Seiten mit zahlreichen Abbildungen reserviert sind.

Die Problematik des Buches liegt im terminologischen und theoretischen Bereich. In Cordies Argumentation werden zutreffende Beobachtungen mit irreführenden Aussagen zum eigenem Vorgehen durchsetzt und künstliche Gegensätze zwischen durchaus vereinbaren Positionen aufgebaut. Daher gilt es zunächst einmal die zentralen Begriffe der Aneignung und Vermittlung, der Beschreibung und der Auslegung zu erörtern, auf die der Verfasser rekurriert.

Was zunächst den Begriff der dichten Beschreibung betrifft, so geht er ursprünglich auf Gilbert Ryle zurück. Es war dann allerdings Clifford Geertz, der ihn zu einer kulturwissenschaftlichen Methode erhoben und diese Methode semiologisch begründet hat. Geertz ging von Ryles Einsicht aus, dass die Daten einer jeden kulturwissenschaftlichen Untersuchung "in Wirklichkeit unsere Auslegungen davon sind, wie andere Menschen ihr eigenes Tun und das ihrer Mitmenschen auslegen." 3 In diesem Sinne sind die Beobachtungsgegenstände der Ethnologie wie der Kulturanthropologie, der Literaturwissenschaft wie der Medienkunde Selbst- und Weltvermittlungsakte. Da die einzelnen Zeichensysteme und -prozesse, die damit ins Spiel kommen, auf eine gleichsam kybernetische Art und Weise ineinander greifen, die den linearen Kausalitätsbegriff überfordert, wird die Kultur insgesamt als der Kontext oder Verständnisrahmen aufgefasst, in dem es Vermittlungsakte möglichst exakt zu beschreiben und auszulegen gilt. 4 Vor diesem Hintergrund erklärt Geertz:

Die Untersuchung von Kultur besteht darin (oder sollte darin bestehen), Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen; nicht aber, den Kontinent Bedeutung zu entdecken und seine unkörperliche Landschaft zu kartographieren. 5

Dieses Plädoyer für eine dichte Beschreibung, die vorschnelle Abstraktionen von Gegenständen vermeidet, die immer schon Deutungen erfahren haben, ist freilich nicht so zu verstehen, dass sich aus der Beschreibung keine Zusammenschau, kein Überblick ergibt. Vielmehr trägt das Verfahren der Konjektur, das Geertz favorisiert, jener "Dialektik des Konkreten" Rechnung, die Karel Kosík folgendermaßen erläutert hat:

Jede Stufe der menschlichen Erkenntnis, der sinnesmäßigen oder der rationalen, und jede Art der Aneignung der Wirklichkeit ist eine Aktivität, die auf der gegenständlichen Praxis der Menschheit gründet und deshalb in diesem oder jenem Maße und Vermitteltsein mit allen übrigen verbunden ist. 6

Den Begriff der Aneignung, den Kosík von Marx entlehnt, hatte in der vormaligen DDR auch Robert Weimann aufgegriffen, um den genuinen Beitrag der Renaissance-Prosa zur Entfaltung des modernen, realistischen Welt- und Menschenbildes zu beschreiben. Cordie erklärt seine Grundbedeutung so:

Aneignung bedeutet zunächst, dass ein Mensch sich materieller Gegenstände aus seiner Umgebung bemächtigt. Um zu überleben, muss jeder Mensch sich fremde Gegenstände einverleiben, er ist also niemals unabhängig von ihnen zu denken. (S.14f.)

Es liegt auf der Hand, dass der Begriff in dieser Grundbedeutung kaum geeignet ist, die literarische Aneignung sozialpolitischer Räume und realhistorischer Ereignisse abzudecken. Da Aneignung und Vermittlung nicht voneinander zu trennen sind, da sie Leitideen und Medien involvieren und zur Transformation ihrer Gegenstände führen, hatte Weimann die modernen, literarischen Formen der Aneignung, die in einem Sprachkunstwerk möglich sind, als "ästhetische Vermittlungen zwischen Welt und Werk" 7 bestimmt, die primär im Kopf von Autor und Leser statt finden.

Gerade die realistische Aneignung der Welt im Sprachkunstwerk, die erst in der Renaissance entsteht, bedurfte einer neuartigen Vermittlung durch die Imagination, da ihr materielles Substrat das gedruckte Buch ist, das nicht einfach für sich selbst spricht. Entscheidend am Übergang vom mündlichen Vortrag zur stillen Lektüre schriftlicher Texte war,

dass sich die Darstellung von mehr Welt über den vermehrten Ausdruck des (sozialen und individuellen) Ich vollzieht. Die Aneignung der objektiven Wirklichkeit und die Vergegenständlichung der subjektiven Fähigkeit treten in ein intensives dialektisches Wechselverhältnis. 8

Erst das massenhaft gedruckte Sprachkunstwerk eröffnet die Möglichkeit, die Welt auf multiple Weisen zu lesen, indem man sie wie einen Text auffasst. Da nämlich ein und dasselbe Buch von verschiedenen Lesern unterschiedlich interpretiert werden kann, führt der Medienwechsel, zu einer

Vielfalt vermittelnder und vermittelter Bezüge, die alle widerspruchsvoll und prozesshaft, das heißt im Gefüge der erzählten Zeit und im zeitlichen Ablauf der Erzählung selbst, modifizierend aufeinander einwirken und sich auf diese Weise erst offenbaren. 9

Es ist gewiss kein Zufall, dass Weimann, diese Implikatur des Medienwechsels ausgerechnet am Prototyp des modernen Schelmenromans, am Lazarillo de Tormes, veranschaulicht hat. Danach

ist die neue Form der Fiktion undenkbar, ohne dass vom Autor wie vom Leser eine spielerische Austauschbarkeit und Zufälligkeit von Lebensschicksalen erwogen wird, die auf einem so universal-gesellschaftlichen und allgemein-menschlichen Bezugssystem beruhen, dass Autor und Leser sich das Bild eines kleinen Betteljungen vornehmen können, um sich eben auf diese Weise mehr Welt und mehr Wahrheit über sich anzueignen. 10

Es ist wichtig, diese Voraussetzungen, auf denen die Rede von einer literarischen Weltaneignung beruht, in Erinnerung zu rufen, weil Cordie bei der Kopplung dieses Begriffs mit der chronotopologischen Beschreibung einem Missverständnis unterliegt, wenn er ohne weitere Einschränkung erklärt: "Im Chronotopos findet die literarische Aneignung der realen historischen Zeit und des realen historischen Raumes statt." (S.18) Das ist so nicht richtig, da der Chronotopos zunächst eine gehalt- und gestaltneutrale Kategorie der Erzählforschung ist, die ebenso gut phantastische wie realistische Ausprägungen erfahren kann. Wäre der Ausdruck nicht bereits anderweitig besetzt, müsste man geradezu sagen: im Roman ist selbst die realistisch gezeichnete Welt ein "Genrebild". 11 Nicht erst die einzelne Erzählperspektive, schon die Gattung wirkt wie ein Okular, das bestimmte Aspekte in den Vordergrund der Betrachtung rückt und andere ausblendet. Und weil das so ist, partizipiert die Literatur durch die Anschauungsformen, die sie ihren Lesern liefert, an der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, ohne sich darin zu erschöpfen. Vielmehr stellt sie diese Anschauungsformen und die mit ihnen verbundenen Handlungsoptionen zur Disposition. Auch das lässt sich wiederum am Lazarillo de Tormes zeigen:

Pikareske Weltauslegung

Im ersten Kapitel dieses schmalen Romans wird die Titelfigur von dem blinden Bettler, den Lazarillo leiten soll und der ihn wiederum in die von Lug und Trug verkehrte Welt der zeitgenössischen Gesellschaft einführt, gebeten, sein Ohr an einen Stein zu legen — angeblich um das Getöse im Inneren der Materie zu vernehmen. Kaum hat der Ahnungslose der Aufforderung Folge geleistet, holt sein Lehrmeister zu einem gemeinen Hieb aus, damit Lazarillo Hören und Sehen vergeht. "In dieser pikaresken Urszene lernt Lazarillo", Cordie zufolge,

zwischen seinen Erwartungen und einer widrigen Wirklichkeit zu unterscheiden. Die Gegenstände weisen auf ihre Wirklichkeit dadurch hin, dass sie in ihrer Widerständigkeit mit den menschlichen Vorstellungen nicht übereinstimmen. Diese Differenz zwischen Täuschung und Enttäuschung, engano und desegano, ist eine Grundfigur des Schelmenromans und zugleich ein Hinweis auf die Wirklichkeit jenseits der Vorstellungen und Reden des Ich. (S.16)

Meiner Ansicht nach kann man Cordies Bemerkung, dass es sich hier um eine Grundfigur des Schelmenromans handelt, vorbehaltlos zustimmen. Ich würde sie allerdings etwas anders auslegen: Der Stein des Anstoßes, also der Gegenstand, der Lazarillo zu denken gibt und später dazu bringt, es dem Blinden mit gleicher Münze heimzuzahlen, ist nicht die Widerständigkeit der Materie, sondern das enttäuschte Vertrauen, das er seinem Herrn entgegengebracht hat. Indem Lazarillo seine Enttäuschung verarbeitet, wird die Kluft zwischen den Worten und den Taten bewusst, die das Handeln seiner Mitmenschen bestimmt. Die für sein Welt- und Menschenbild entscheidende Erfahrung liegt nicht darin, dass die Dinge womöglich anders als die Vorstellungen sind, die man sich von ihnen macht, sondern darin, dass man niemandem blindlings vertrauen darf. Deshalb besteht die widrige Wirklichkeit, die es von den Erwartungen zu unterscheiden gilt, nicht aus den physikalischen Gegenständen, sondern aus den perversen Spielregeln, die beinahe jeden Sprechakt zu einem Betrugsmanöver machen.

Folgerichtig betreffen die Schlüsse, die Lazarillo aus der Urszene seiner Wandlung vom tumben Toren zum durchtriebenen Vertrauensschwindler zieht, die psychologischen Mechanismen der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Als er am Ende seiner Lehrzeit seinerseits den Blinden gegen einen Brückenpfeiler laufen lässt, trägt er nicht so sehr den materiellen Umständen seiner Existenz als der Ideologie Rechnung, die ihm so schmerzhaft eingebleut wurde, denn diese Ideologie lässt dem Menschen scheinbar keine andere Wahl als sich im bellum omnia contra omnes entweder mit Gewalt oder mit List und Tücke zu behaupten.

Dass die Art und Weise, wie Lazarillo seine Einsicht ratifiziert, eine moralische Kritik provoziert, steht auf einem anderen Blatt. Worauf es zunächst ankommt, ist der Umstand, dass er sich zu der Welt, in der er existiert, reflektierend und interpretierend verhält. Deswegen besteht der entscheidende Unterschied zwischen der Urszene und jener anderen Szene, in der Lazarillo den Blinden auflaufen lässt, darin, dass er im ersten Fall gedankenlos und im zweiten vorsätzlich agiert, dass er von einem, der gar nicht erst auf die Idee kommt, Verdacht zu schöpfen, zu einer Person mutiert, die anderen Fallen stellt. Zur Debatte steht, welche Auslegung der Welt viabel ist: das fromme Märchen, demzufolge alle Menschen Unschuldslämmer sind, oder jene Legende, die Lazarillo vom Blinden übernimmt, indem er jede soziale Interaktion nach der Regel homo homini lupus est konzipiert.

Wenn sich also das Subjekt nicht erst, wie Hegel meinte, im Bildungsroman, "die Hörner abläuft" und "mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeiten derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt" 12 , so objektiviert sich seine Erfahrung im Wechselspiel von Interaktion und Interpretation, von Repulsion und Reflexion. Selbst die blutige Stirn, die man sich beim Zusammenprall mit der Wirklichkeit holt, bedarf einer kategorialen Einordnung, um in intellektueller und emotionaler, in theoretischer und pragmatischer Hinsicht relevant zu werden. Der dumpfe Schlag allein setzt weder eine veränderte Lesart noch eine veränderte Handlungsweise frei. Insofern ist es ein Kurzschluss zu meinen, dass sich die Wirklichkeit einfach anhand der Widerstände erschließe, die sie den menschlichen Vorstellungen entgegensetzt. Vielmehr ist es, ganz im Sinne von Geertz, die Auslegung dieser Widerstände, die bereits bestehende Verständnisrahmen, Rollenbilder und Handlungsmuster verändert.

Wenn Cordie also konstatiert: "Die Gegenstände weisen auf ihre Wirklichkeit dadurch hin, dass sie in ihrer Widerständigkeit mit den menschlichen Vorstellungen nicht übereinstimmen" (S.16), so beschreibt er lediglich die Ausgangslage eines semiotischen Verfahrens, in dem es darum geht, aus der kognitiven Differenz von Erwartung und Erfahrung, die durch Widerstände indiziert wird, Schlüsse zu ziehen. Schlussfolgerungen sind jedoch geistige Akte, dank denen die Welt nicht etwa so erfasst wird, wie sie an sich ist, sondern dank denen eine neue Welt-Version verfasst wird.

Gewiß: "Der Mensch respektiert, dass sein Gegenstand nicht nur in seinem Kopf existiert, sondern eigenständig und aus eigenem Recht", (S.15) doch ist Respekt eben eine Form der Bezugnahme auf Gegenstände, die sich gerade nicht ohne weiteres einverleiben lassen. Was sich der Mensch von ihnen mittels seiner Anschauungsformen und Verstandesbegriffe aneignen kann, ist, eine Interpretation. Darin ist sich die philosophische Tradition von Kant bis zum radikalen Konstruktivismus einig, und daher gilt auch für jede literarische Form der Weltaneignung, dass sie bei keiner noch so dichten Beschreibung irgendein Ding an sich vor Augen führt.

Formen der Weltenteignung

Unter diesen Vorzeichen hat es eine gewisse Ironie, dass die vier Fallstudien, die Cordie vorlegt, im Ergebnis eher auf eine Dekonstruktion des Aneignungsbegriffs denn auf eine Rekonstruktion der Erfahrungswelt hinauslaufen, die jeder empirisch orientierte Text stillschweigend voraussetzt. So ergibt die Untersuchung des Landtstörtzer Gusman, dass Albertinus den Schelmenroman nicht als Medium der Welterfahrung versteht, sondern in den Dienst einer Staatsdoktrin gestellt hat. Cordie zeigt eindrucksvoll, dass sich aus Albertinus' pikaresker Geschichtsklitterung das Idealbild eines zentralistischen Ordnungsstaates ergibt, wie er es als bayerischer Hofkanzlist von Amtswegen kannte. Nicht die Empirie, sondern die moralisch verbrämte Ideologie bestimmt die wesentlichen Züge dieses Bildes, und Cordie erklärt denn auch: "Über der moralischen Einordnung des Geschehens gerät der reale Hintergrund aus dem Blick." (S.66) Schlimmer noch:

Die Behandlung des erzählten Raums im Landstörtzer Gusman hat ihr Gegenstück in der Überformung der gewachsenen Strukturen durch eine zentral geplante Sakrallandschaft, die in ganz Bayern gleiche Verhältnisse herbeiführen und alle Untertanen auf eine einheitliche Staatsideologie einschwören sollte. Dieser Ideologie des berechenbaren, disziplinierten Untertanen dient auch die poetische Disziplinierung des spanischen pícaro durch AEGIDIUS ALBERTINUS. (S.563)

Das ist ein interessanter, intertextueller Befund, der viel über die weltanschaulichen Implikationen der chronotopologischen Gestaltung aussagt. Bezeichnenderweise liegt ihm nicht ein Vergleich zwischen Albertinus' Buch und der außerliterarischen Wirklichkeit, sondern die strukturelle und tendenziöse Übereinstimmung zwischen den spezifischen Diskursformationen zugrunde, die sich im fiktionalen Text wie in der literarisch dokumentierten Staatsdoktrin finden. Cordie bezieht sich keineswegs auf jene Widerstände, die den menschlichen Vorstellungen seitens der historischen Wirklichkeit entgegen gesetzt werden, sondern auf bestimmte Affinitäten zwischen allegorischen und ideologischen Formen, die jeweils davon leben, dass die Empirie ausgespart bleibt.

Kaum anders verhält es sich im Fall der Dürer-Interpretation, die Cordie vorlegt, obwohl er die beiden Hauptrollen des Arbeitnehmers und des Herrschers, in die Dürers Hauptfigur schlüpft, als spiegelbildlich verkehrte Entsprechungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Machtverteilung deutet: "Der Schelm als Herrscher ist die notwendige literarische Entsprechung zur Realität einer Herrschaft, die auf Schelmerei beruht." (S.328) Fragt man sich nun, wie die Kritik einer Herrschaft, die auf Schelmerei beruht, ins Werk gesetzt werden kann, so kommt man wiederum nicht umhin anzuerkennen, dass die Realität dabei durch das Perspektiv der pikaresken Literatur gesehen wird. Sie nämlich liefert den Lesern die Anschauungsformen und die Maßstäbe, die es aufgrund der von Autor und Leser spielerisch erwogenen Austauschbarkeit und Zufälligkeit aller Lebensschicksale gestatten, in den Mächtigen große und in den kleinen Leuten ohnmächtige Vertrauensschwindler zu erkennen.

Bezeichnend für den wenig entwickelten Realismus in Dürers Lauf der Welt und Spiel des Glücks ist, dass die Welt in diesem Text gar nicht als eine menschliche Gestaltungsaufgabe begriffen und mit dem Tatendrang des Helden vermittelt wird. Cordie selbst sagt es klipp und klar: "Veränderung oder Fortschritt ergeben sich nicht aus den weiten Wegen der Handlung." (S.339) Anstatt sich die Welt auf der Ebene der Handlung oder der Erzählung anzueignen, wird sie bei Dürer zum Praetext einer Allegorie, in der das Urteil über die Wirklichkeit von vornherein feststeht. Alles, was geschieht, wird am statischen Bild des sicheren Hafens gemessen.

Die Erzählung wirkt wie ein kunstvolles Uhrwerk, das die Eigenbewegung des Helden kontrolliert. Und die fernen Räume erscheinen nun als Reservoir von Erfahrungen, die für die Herstellung griffiger Sinnsprüche ausgebeutet werden könnten. (S.341)

Misst man Dürers Romans an dem Anspruch, den Kosík oder Weimann mit dem Begriff der Aneignung verbinden, so glänzt die zeitgenössische Wirklichkeit in diesem Werk durch Abwesenheit. Folgerichtig rekurriert Cordie auf andere, vergleichsweise realistische Quellen, um zu zeigen, wie weltfremd und anachronistisch Dürers Allegorie bereits bei ihrer Veröffentlichung war:

Die beginnende Weltwirtschaft lässt keinen unbestrittenen Besitz mehr zu, der lediglich im sicheren Hafen genossen werden könnte. [...] Die von unternehmerischer Konkurrenz geprägte Welt erscheint bereits dem Lob des Eigen Nutzen von 1564 als Kampfplatz der ständig zu verteidigenden Eigeninteressen. (S.341)

Grundlage von Cordies Interpretation ist also ein Textvergleich, ein Kontrast zwischen zwei unterschiedlichen Versionen der historischen Wirklichkeit. Wurde die geschichtliche Welt im Landtstörtzer Gusman zugunsten der Staatsideologie ausgeblendet, so wird sie in Dürers Roman auf einen allegorischen Topos reduziert.

Genau umgekehrt erscheint das Verhältnis von allegorischem und empirischem Gehalt im Simplicissimus Teutsch, der nur ein Jahr nach Dürers Lauf der Welt und Spiel des Glücks publiziert wurde.

Hier dienen die erzählten Räume und Zeiten nicht nur zur Exemplifikation vorgängiger allegorischer Bedeutungen, bilden mithin keinen konstruierten barocken Handlungsraum, sondern funktionieren als selbständige Erfahrungsräume, wenn sie in die zeitgenössische Wirklichkeit rückübersetzt werden. (S.338)

Die durchaus instruktive, wenn auch nicht unbedingt innovative These, die Cordie bei seiner Grimmelshausen-Interpretation verfolgt, lautet daher: "Raum und Zeit des Vaganten erschließen sich [...] durch die Ich-Werdung des Helden, die mit einem zunehmenden Gewinn und gleichzeitigen Verlust von Welt einhergeht." (S.359)

Entscheidend ist, dass Grimmelshausens Held im Verlauf seiner Lebensreise die Grenzen zwischen verschiedenen Welten überschreitet und es dabei mit Zeitgenossen zu tun bekommt, die in unterschiedlichen Epistemen leben. "Die einen planen ihre Welt nach Repräsentationen und Modellen, während die anderen ihre Welt als gegeben hinnehmen." (S.403) Dabei geht es keineswegs um einen simplen Nachvollzug fortschrittlichen Denkens: gegenüber dem distanzierten Blick und dem theoretischen Verstand der Modernen fungiert die Epoché des Knan mit ihrer Sicht auf das Naheliegende und praktisch Verwertbare als Korrektiv. (Vgl. S.437)

Mit anderen Worten: Grimmelshausens Diskursuniversum ist durch die Juxtaposition divergenter Welt-Versionen, durch die Pluralität der Einstellungen, Handlungsweisen und Rollenbilder gekennzeichnet. Die Leser sind gleichsam aufgefordert, das welterschließende Potential der einzelnen Episteme zu erkunden, indem sie reflektieren, was Simplicissimus mit ihnen gewinnt oder verliert. Grundsätzlich gilt jedoch, dass Grimmelshausens Roman empirisch orientiert ist, also von der Zuwendung zu der in sich widersprüchlichen Erfahrung lebt, die nicht mehr auf einen umfassenden, einheitlichen Begriff konvergiert.

Im Gegensatz dazu betont Cordie bei Beer: "Der Verschlossenheit des Autors gegenüber seiner zeitgenössischen Umgebung entspricht die Verschlossenheit der Erzählung gegen die zeitgenössische Realität." (S.461) Von einer Aneignung der Welt kann hier nicht einmal im übertragenen Sinn die Rede sein. Der Chronotopos des Corylo ist so wenig profiliert, dass es Cordie unmöglich erscheint, die einzelnen Schauplätze in eine "mental map" zu integrieren. (Vgl. S.510) Die Landkarte, die in Beers Romans erwähnt wird, dient denn auch

nicht dazu, einen bestimmten Ort zu finden und zu erreichen, sondern die Unterschiede, auf denen sie selbst beruht, einzuebnen. Damit wird die Landkarte zum Emblem der Vertauschbarkeit, der die Einzigartigkeit des angeeigneten Besonderen fremd bleibt. (S.539)

Mit diesem negativen Befund räumt Cordie ein, dass eine Karte zunächst einmal nichts anderes als Unterschiede verzeichnet. Seine Beer-Interpretation belegt, dass es eben wirklich die Karte ist, dank der das Territorium konstruiert wird. Enthält eine Karte keine signifikanten Unterschiede, bleibt auch das Bild, das man sich von ihrer Bezugswelt zu machen versucht, ohne Kontur. Das gilt erst recht, wenn es sich bei der Bezugswelt um ein historisches Territorium handelt, das nicht mit der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit des Interpreten identifiziert und daher auch nicht durch sie substituiert werden kann.

Immer dann also, wenn es um die Rekonstruktion historischer Zeit-Räume geht, bleibt dem Forscher de facto nichts anderes übrig, als vergleichende Quellenforschung und -kritik zu betreiben, indem er die einzelnen Schelmenromane mit anderen Dokumenten, Gemälden usw. kontrastiert. Genau dies macht Cordie ja auch, wenn er den Haushalt als politisches und poetisches Modell erörtert (Vgl. S.154ff), wenn er ebenso anschaulich wie überzeugend die Contento-Geschichte von Albertinus mit der Kopie eines Gemäldes vergleicht, das in der Münchner Residenz hängt (Vgl. S.69), wenn er die Kulissen von Schauergeschichte und Schäferroman bei Dürer mit den Dokumenten konfrontiert, die Aufschluss über das Selbstverständnis des frühneuzeitlichen Unternehmers liefern, wenn er die Epoché des Knan gegen das moderne Epistem ausspielt oder die Landkarte im Corylo als Emblem der Vertauschbarkeit deutet.

Auf diese Weise gerät Cordie die Untersuchung der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman bei Albertinus, Beer und Dürer zu einer Studie über die Entstellung, Verkehrung und Ausblendung der zeitgenössischen Wirklichkeit, da sich einzig und allein Grimmelshausens Werk positiv von der ideologischen, allegorischen oder eskapistischen Grundtendenz dieser drei Verfasser abhebt. Das mag paradox sein, bestätigt jedoch die Ausführungen von Bachtin, Auerbach und anderen zur allmählichen Verfertigung eines realistischen Welt- und Menschenbildes im Zeitalter der Glaubensspaltung. Nicht weniger paradox ist jedoch, dass Cordie ausgerechnet die Theorie attackiert, die er in seiner Interpretationspraxis permanent ratifiziert.

Künstliche Gegensätze

Im Kern geht es um die Metapher von der kognitiven Landkarte, die eine lange Tradition besitzt und sich mindestens bis auf d'Alemberts Einführung in die Enzyklopädie aus dem Jahre 1751 zurückführen lässt. Cordie unterstellt jenen Forschern, die sich dieser Metapher bedienen, um das Verhältnis von Text und Bezugswelt zu beschreiben, sie würden eine offenkundig unhaltbare These verfechten. "Literatur, so lässt sich verkürzend formulieren, sei nicht Produkt der Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit eine literarische Konstruktion." (S.2) Mit solchen und ähnlichen Paraphrasen erzeugt Cordie künstliche Gegensätze, die sich ohne weiteres auflösen lassen. Denn so wenig sich die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit in literarischen Verfahren erschöpft, so wenig widerspricht die Erkenntnis vom welterzeugender Charakter literarischer und anderer Zeichenprozesse der Tatsache, dass die Erfahrung der Wirklichkeit literarische Produktionen stimuliert und reguliert.

Fragt man sich, wie Cordie zu einer so verkürzten, undialektischen Sicht der Dinge kommen konnte, so fällt zunächst auf, dass seine Bibliographie keinen einzigen Titel jener Autoren verzeichnet, die sich der inkriminierten Metapher bedient und mit dem Realitätsbezug fiktionaler Diskurse theoretisch auseinander gesetzt haben. Anstatt sich bei Korzybsky oder Bateson, bei Russell und Whitehead, bei Peirce oder Eco, bei Goodman und Iser zu informieren, gelangt Cordie aufgrund einer einzigen, von ihm sinnentstellend wiedergegebenen Passage aus der Sekundärliteratur zu den folgenden Behauptungen:

Kartographie ist also Teil eines Aneignungsprozesses, der eine außerhalb ihrer selbst gegebene Realität verarbeitet und umgestaltet. Deshalb sind ihr Wahrheitsanspruch und ihre faktischen Folgen anhand dieser Realität nachprüfbar. Keineswegs bewegt sich menschliche Erfahrung und menschliches Handeln in einem Kosmos aus fiktiven Versionen, so dass seine geistige Welt nur aus Karten von Karten ad infinitum bestünde.

In der Fußnote, die dieser Passage folgt, heißt es: "Dies behauptet Bauer, Im Fuchsbau der Geschichten 8 im Anschluß an Goodman." (S.411)

Gegen die ersten beiden Sätze ist nichts einzuwenden. Durch das Wörtchen "keineswegs" suggeriert Cordie jedoch, dass ich den Realitätsbezug der Vermessungskunde bestritten und kognitive Karten zu Fiktionen erklärt hätte. Dazu muss man wissen, dass die von ihm kursiv gesetzte Passage bei mir im Rahmen einer Argumentation auftaucht, die sich gegen die von Daniel Eisenberg vorgebrachte Behauptung wendet, es gäbe gar keinen pikaresken Roman, weil kein einziges Werk restlos mit dem Bild übereinstimme, dass sich die Forschung von dieser Gattung gemacht habe. Ich hatte demgegenüber darauf hingewiesen, dass sich die literaturwissenschaftliche Begriffsbildung zu ihrem Gegenstand in etwa so verhält wie die Karte zum Territorium und im Anschluss an Nelson Goodman erklärt: "Da der Mensch kein von allen Versionen unabhängiges Weltmerkmal finden kann, besteht seine >geistige Welt nur aus Karten von Karten ad infinitum.< 13 Das Territorium selbst kommt also nie direkt, sondern immer nur indirekt über eine kartographische Tätigkeit in den Blick, die es im doppelten Sinn des Wortes verzeichnet." 14

Erstens habe ich also keineswegs die These vertreten, dass die geistige Welt des Menschen nur aus fiktiven Versionen bestehe, und zweitens geht es an dieser Stelle ausdrücklich und ausschließlich um die Diskontinuität von Karte und Territorium, Gattungsbegriff und Einzelwerk, die Eisenberg missachtet hat.

Da also niemand behauptet hat, die menschliche Erfahrung und das menschliche Handeln bewege sich in einem Kosmos aus fiktiven Versionen, wie Cordie unterstellt, gibt es auch nicht den künstlichen Gegensatz zwischen Illusionismus und Realismus den er aufbaut. Behauptet wird allerdings die Abhängigkeit aller Weltbilder von semiotischen Operationen. Die Pointe dieser Argumentation liegt darin, "dass die Künste als Modi der Entdeckung, Erschaffung und Erweiterung des Wissens — im umfassenden Sinne des Verstehensfortschrittes — ebenso ernst genommen werden müssen wie die Wissenschaften." 15 Gerade die fiktionale Weise der Welterzeugung scheint, Wolfgang Iser zufolge, prädestiniert zu sein, "die Operationen zu exemplifizieren, durch die Welten gemacht werden." 16 Bei dieser Exemplifikation geht es natürlich nicht um irgend eine krude Aneignung materieller Weltbestände oder darum, an die Widerständigkeit der Dinge gegenüber den Vorstellungen zu erinnern, die sich die Menschen von ihnen machen. Eher schon könnte man mit Umberto Eco sagen, dass die Operationen der Kunst darauf hinauslaufen, "uns die imaginativen Kategorien zu liefern, mittels derer wir uns in der Welt bewegen können." 17

Der Prozess der Interpretation, der von einer Karte zur nächsten gelangt, weil jede Welterzeugung mit einer Version beginnt und mit einer anderen endet 18, kann aus pragmatischen Gründen limitiert werden und das geschieht auch ständig, indem man sich auf bestimmte Konventionen, vorläufige Deutungen usw. einigt. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Semiose theoretisch nicht zu begrenzen ist. Gerade Bachtin, auf den sich Cordie ja beruft, hat das immer wieder hervorgehoben und dabei nicht zuletzt die weltbildnerische Funktion der pikaresken Literatur im Blick gehabt. Mit der empirischen Orientierung des Schelmenromans, so wie ihn der anonyme Verfasser des Lazarillo de Tormes, wie ihn Mateo Aléman und Quevedo, Grimmelshausen und Defoe, Lesage und Marivaux verstanden haben, ändert sich das neuzeitliche Bild der Welt: "Sie wird zu einer Welt, in der es kein erstes Wort (keinen idealen Anfang) gibt und in der das letzte Wort noch nicht gesprochen ist." 19

Da es in der Literatur also nicht um eine leibhaftige, gegenständliche Aneignung von Welt, sondern wie Kosík und Weimann, Iser und Goodman, Eco und Bachtin, Ryle und Geertz übereinstimmend und schlüssig dargelegt haben, um eine Vermittlung und Auslegung von Sinnmustern oder Deutungsansätzen geht, handelt es sich bei der Fiktion um einen reflexiven Modus der Bezugnahme auf die stets historisch zu relativierende Auslegung der Erfahrungswirklichkeit. Insofern ist die Wirklichkeit keine feste Größe, sondern ein Konstrukt.

Ein weiteres Missverständnis von Cordie besteht daher in der Gleichsetzung aller Welt-Versionen, über die Menschen verfügen, mit bloß "virtuellen Realitäten". Eine Welt-Version ist genau das, was ein Mensch von den Deutungsmöglichkeiten, über die er verfügt, realisiert. Fiktionalität ist nur ein spezifischer Modus, sich und anderen solche Möglichkeiten bewusst zu machen. Dieser Modus unterscheidet sich durch die Weise, in der auf Gegenstände Bezug genommen wird, von anderen Modi, aber er schafft nicht eine andere Art von Welt.

Wer sich zum Beispiel in der virtuellen Realität eines Flugsimulators bewegt, bewegt sich wirklich — im leiblichen wie im geistigen Sinn des Wortes. Nur erfahren die Schlussfolgerungen, die sich daraus ergeben, eine andere Behandlung als in der physikalischen Umwelt außerhalb des Simulators. Würde der Simulator eine ganz andere Art von Welt erzeugen, wäre es vollkommen sinnlos, im Rahmen seiner Möglichkeiten realistische Situationen durchzuspielen. Wenn man sich also fragt, was ein Simulator eigentlich vortäuscht, so ist es gerade die Widerständigkeit der Wirklichkeit unter Ausschluss ihrer mitunter fatalen Konsequenzen. Daraus folgt: der Widerstand allein ist noch kein untrügliches Realitätsanzeichen. Der Sinn einer Simulation liegt letztlich darin, diese Widerstände bewusst zu machen und in ein Unterscheidungsvermögen zu überführen — in ein Differential von situativ angemessenen und situativ unangemessenen Handlungen, das benötigt wird, um im Ernstfall ohne Zeitverlust die richtige Maßnahme zu ergreifen.

Der Simulator vermittelt also ein Handlungswissen, das sich auf reale, tatsächlich erlebbare Situationen und nicht auf irgendeine lediglich in der Einbildung bestehende Schein- oder Gegenwelt bezieht. Gleichermaßen gilt für jede literarische Szenographie, dass sie im Akt des Lesens als ein Wissen realisiert wird, das sich auf tatsächlich erlebbare Handlungssituationen beziehen lässt — eben in dem übertragenen Sinne, der Metaphern, Modellen, Fiktionen und Simulationen eignet.

Alles in allem hinterlässt die Lektüre von Cordies Buch also einen zwiespältigen Eindruck, da zahlreichen aufschlussreiche Einzelbeobachtungen, interessanten Querbezügen und Interpretationsansätzen eine in sich selbst widersprüchliche Reflexion der eigenen Interpretationspraxis und eine theoretisch überholte Kritik von Positionen gegenübersteht, die der Verfasser entweder falsch wiedergibt oder missversteht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.


Dr. Matthias Bauer
Universität Mainz
Deutsches Institut
Neuere Literaturwissenschaft
Jakob-Welderweg 18
D-55128 Mainz

Ins Netz gestellt am 19.02.2002
IASLonline

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Anmerkungen

1 Vgl. Matthias Bauer: Der Schelmenroman. Stuttgart, Weimar 1994, S. 25 ff.   zurück

2 Vgl. Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt/ M. 1989, S. 8.   zurück

3 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt / M. 1983, S. 14.   zurück

4 Vgl. Clifford Geertz (Anm. 4), S. 21.   zurück

5 Clifford Geertz (Anm. 4), S. 28.   zurück

6 Karel Kosík: Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt. Frankfurt /M. 1970, S. 23.   zurück

7 Robert Weimann (Hg.): Realismus in der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa. Berlin / Weimar 1977, S. 8.   zurück

8 Robert Weimann (Anm. 9), S. 53.   zurück

9 Robert Weimann (Anm. 9), S. 58.   zurück

10 Robert Weimann (Anm. 9), S. 97   zurück

11 Vgl. Pavel N. Medvedev : Die formale Methode in der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1967, S. 159 und S. 174.   zurück

12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hg. v. Friedrich Bassenge. 2 Bde. Berlin 1985, Hier: Bd. 1, S. 568.   zurück

13 Nelson Goodman: Vom Denken und anderen Dingen. Frankfurt / M. 1987, S. 67.   zurück

14 Matthias Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans. Stuttgart, Weimar 1993, S. 8.   zurück

15 Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung. Frankfurt am Main 1984, S. 127.   zurück

16 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt / M. 1991, S. 278.   zurück

17Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt / M. 1977. S. 281.   zurück

18 vgl. Nelson Goodman (Anm. 38), S. 121.   zurück

19 Michail Bachtin (Anm. 2), S. 240.   zurück