Becker über Hutchings: The Criminal Spectre in Law, Literature and Aesthetics

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Peter Becker

Der >Schatten< der Evidenz und
die Faszination der Oberflächlichkeit

Kurzrezension zu
  • Peter J. Hutchings: The Criminal Spectre in Law, Literature and Aesthetics. Incriminating subjects (Routledge Advances in Sociology) London, New York: Routledge 2001. 240 S. Geb. £ 60,-.
    ISBN 0415236061.


It [die Analogie zwischen der Erscheinung und dem Sein, PB] was a >truth< that required much further demonstration, demonstrations that found their way to the death camps since physiognomic discourse eventually, inevitably resulted in the racist discourse of eugenics. (S.135)

Im fünften Kapitel seines Buches setzt sich Hutchings mit Fragen der modernen Kriminalistik (modern forensics) auseinander und richtet dabei den Blick vor allem auf Photographie, Fingerabdruck und Anthropometrie. Er stellt diese neuen, modernen Techniken der Identifikation in den Kontext früherer Annäherungen an die Identität von Individuen und Gruppen, wobei er sich vor allem auf Lavater bezieht.

Das eingangs präsentierte Zitat ist Hutchings< Kommentar zu einer langen Textstelle, die er aus Lavaters "Essays on Physiognomy" zitiert. Es drückt leider sehr deutlich den Duktus von Hutchings' Buch aus. Er scheut nicht vor pointierten Verallgemeinerungen zurück, in denen er einen weiten Bogen von den "Physiognomischen Fragmenten" des Schweizer Pfarrers Lavater zu den Schergen des >Dritten Reiches< spannt. Gegen eine solche Verallgemeinerung als Provokation ist grundsätzlich nichts einzuwenden; sie kann sehr anregend wirken. Problematisch wird diese Provokation, wenn sie auf einer unzureichenden konzeptuellen Basis beruht und nicht einmal die wichtigste Literatur zur Kenntnis nimmt. 1

Im Hinblick auf die Physiognomie läßt sich dieses Defizit und seine Konsequenzen für die Argumentationsstruktur des Buches an Hutchings< kultur- und geistesgeschichtlicher Variante der Sonderwegs-These illustrieren, die eine Linie von Lavater über Lombroso (auf S.133 erscheint Lombroso als "Lavater's later disciple") und Galton hin zu der Massentötung in deutschen Konzentrationslagern zieht. Diese Linie ist bei Hutchings nur implizit enthalten und muss eher mühsam rekonstruiert werden, falls man sich der Mühe unterziehen will. Diese Mühe lohnt sich allerdings, wenn man Hutchings' Argumentation über Kriminalistik, Subjektivität und die Kontinuität resp. Diskontinuität diskursiver Praktiken verstehen will.

Lavater ist im Kapitel über Kriminalistik beinahe allgegenwärtig. Er steht als >Schatten< sowohl hinter der Anthropometrie Bertillons (S.141), als auch hinter der eugenischen Forschung. Doch wo bleiben Camper, Gall und Carus, um nur einige zusätzliche >Figuren< innerhalb des physiognomischen und phrenologischen Diskurses zu nennen. Sie bleiben ausgeklammert, weil jede systematische Reflexion über Kontinuität und Diskontinuität innerhalb der – für Hutchings Argumentation relevanten – diskursiven Praktiken des 19. Jahrhunderts die willkürlichen, auf einer höchst selektiven Lektüre einzelner Texte beruhenden Interpretationen und Genealogiebildungen gestört hätte.

Hinsichtlich der Beziehung zwischen Lavater, Galton und der Eugenik konstruiert Hutchings sogar eine absurde Diskontinuität:

However, the racial and eugenic agenda of Lavater's project was relinquished reluctantly: Galton's Finger Prints contains chapters entitled >Heredity< and >Races and Classes< which debate the genetic, racial and class specific characteristics of fingerprints, recording his failure to find any consistencies with some sense of disappointment. (S.150)

Man kann als bekannt voraussetzen, dass sich der britische Gelehrte Francis Galton für Fingerabdrücke nicht nur als Zugriff auf die soziale Identität im Sinn der Identifikation interessierte, sondern diese ebenso als Hilfsmittel zur Ermittlung der >Wertigkeit< unterschiedlicher Rassen heranziehen wollte. Diese Absicht scheiterte. Das bedeutet jedoch nicht, dass Galton sich langsam von der Eugenik verabschiedete – ganz im Gegenteil! Er verwendete andere Evidenzen und entwickelte neue Methoden, die sich als aussichtsreicher erwiesen. Deshalb ist Hutchings< Aussage in zweierlei Hinsicht falsch:

  1. Galton war sicherlich nicht derjenige, der das eugenische Projekt zögernd aufgegeben hätte. Er war vielmehr einer derjenigen Akteure, der den eugenischen Diskurs ganz wesentlich mitgestaltet hatte. Das kann man ohne Schwierigkeiten der historischen Literatur über Eugenik entnehmen, die Hutchings leider nicht konsultiert. 2

  2. >Lavaters Projekt< hatte weder eine rassistische noch eine eugenische Agenda. Das Gegenteil läßt sich nur behaupten, wenn man Lavaters Text ohne Rücksicht auf die Regeln der Hermeneutik und Diskursanalyse in einem radikalen Reduktionismus als Steinbruch für Formulierungen und Begriffe verwendet.

In meiner Kritik habe ich mich bisher nur auf einen kleinen Ausschnitt aus Hutchings Buch bezogen, dessen Schwächen mir aufgrund meiner eigenen Textkenntnis sofort deutlich geworden sind. Der bislang diskutierte Teil ist jedoch kein marginaler Bestandteil der Gesamtkonzeption, weil er in pointierter Weise die Frage nach der Formierung von Subjekten und Subjektivität im 19. Jahrhundert aufgreift, die im Mittelpunkt von Hutchings' Argumentation steht.

Zur Auseinandersetzung mit dieser Frage liefert das Konzept des Index, das ebenfalls im fünften Kapitel präsentiert wird, einen tragfähigen Ansatzpunkt. Hutchings entwickelt hier ein interessantes Argument, indem er die Entstehung von Klassifikationssystemen in Beziehung zu neuen Formen der Individualisierung und Identifikation stellt (S.135 ff.). Wenn er die Argumentation von Kapitel 5 systematisch auf dieser Konzeption aufgebaut hätte, wäre ihm die verwirrende und peinliche Konfusion von kriminalistischen und kriminologischen, physiognomischen und eugenischen Projekten erspart geblieben.

Denn aus einer semiotischen Perspektive kann man systematisch danach fragen, welche Referenzfunktion Evidenzen in bestimmten Diskursen und Praktiken haben. Daraus ergeben sich grundsätzliche Unterschiede zwischen kriminalistischen Praktiken (Fingerabdrücke und anthropometrische Messungen als eine Form des objektivierbaren Zugriffs auf Biographien, s. dazu S.142) und einem im weitesten Sinne kriminologischen Diskurs, der von dem körperlichen Zeichen auf verborgene Dispositionen schließen wollte.

Die Vermittlung zwischen dem körperlichen Zeichen und einer dadurch zu erschließenden, verhaltensstrukturierenden Disposition erfolgte in unterschiedlicher Weise. Die Unterschiede resultierten aus verschiedenen anthropologischen Prämissen, Vorstellungen von Subjektivität, Willensfreiheit und von den Beziehungen zwischen Staat, Gesellschaft und Individuen. Deshalb sind die unterschiedlichen Lesarten des Körpers bei Lavater, Gall, Lombroso und Galton signifikant für Hutchings zentrales Interesse an den Diskontinuitäten in der Konzeptualisierung von >Individuen< während des 19. Jahrhunderts. In der Einleitung (S.2) reflektiert er die Bezüge zwischen gesellschaftlichen, institutionellen und diskursiven Veränderungen, ohne diese Überlegungen systematisch für die späteren Analysen fruchtbar zu machen. Seine folgenreichen Fehlinterpretationen in der Auseinandersetzung mit Kriminalistik und Kriminologie diskreditieren daher tendenziell sein theoretisches Argument.

Hutchings Buch ist trotz aller Kritik ein anspruchsvoller und interessanter Versuch einer Diskursgeschichte, in der wichtige Diskursfelder des 19. Jahrhunderts aus einer interdisziplinären Perspektive analysiert werden. Politische Theorie (Bentham und Marx), Literatur (Dickens, Poe, Balzac und Doyle), Photographie und Film, Strafrecht und Psychiatrie, Kriminalistik, Kriminologie und Statistik, sowie Gender-Perspektiven werden unter zwei eng miteinander verbundenen Fragen analysiert:

  1. Welche Rolle spielte eine diffuse, wenn auch weithin diffundierte Vorstellung vom Kriminellen als einem moralisch-sittlichen und später konstitutionell definierten Anderen für die diskursiven und institutionellen Praktiken der bürgerlichen Gesellschaft?

  2. Welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen einzelnen Diskursfeldern und im zeitlichen Verlauf bestimmten die Auseinandersetzung unterschiedlicher Autoren mit den >Kriminellen< als den Schatten der bürgerlichen Gesellschaft?

Wie in jedem interdisziplinären Projekt besteht auch dieses Buch aus einzelnen Teilen, die in ihrer Komplexität deutliche Unterschiede aufweisen. Hutchings liefert beeindruckende Analysen der literarischen und medialen Auseinandersetzung mit dem >kriminellen< Anderen, das sich einer eindeutigen Verortung immer wieder entzog – von Dickens über Poe zu Doyle und einzelnen Filmen. Für den literatur- und medienhistorisch interessierten Leser bietet das Buch daher einiges an Anregungen. Die Analyse der anderen Diskursfelder leidet jedoch unter der Schwierigkeit des Autors, sich in mehreren spezialisierten Historiographien erfolgreich zu orientieren, sowie unter dem Problem, dass Hutchings keine klaren analytischen Schnittstellen für seine interdiskursive Analyse identifiziert. Letzteres wird auch deutlich in der Organisation des Buches und der Strukturierung der einzelnen Kapitel.

Mein stärkster Vorbehalt gegen dieses Buch beruht auf einem forschungspolitischen Unbehagen. Diskursanalytische und kulturgeschichtliche Zugänge werden durch solche Arbeiten leider nachhaltig diskreditiert. Wer sich auf Diskursanalyse einläßt und mit dem Anspruch auftritt, dadurch unser konzeptuelles und theoretisches Rüstzeug für die Auseinandersetzung mit Politik, Gesellschaft, Recht und Subjektivität des 19. Jahrhunderts zu bereichern, muss sorgfältiger recherchieren und systematischer reflektieren.


Prof. Dr. Peter Becker
Europäisches Hochschulinstitut Florenz
Dept. of History and Civilization
Badia Fiesolana
Via dei Roccettini 9
I-50016 San Domenico di Fiesole
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Ins Netz gestellt am 26.03.2002
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Anmerkungen

1 Gerade im Hinblick auf Physiognomie und Phrenologie muß man nicht unbedingt kostspielige Forschungsreisen unternehmen, um den aktuellen Stand der Forschung zu verfolgen. Es gibt hervorragende Internetseiten, in denen entsprechende Hilfestellungen geboten werden. Vgl. dazu exemplarisch John van Wyhe: The History of Phrenology on the Web (http://pages.britishlibrary.net/phrenology, letzter Zugriff 24.03.02).   zurück

2 Vgl. exemplarisch Daniel J. Kevles: In the Name of Eugenics. Genetics and the Uses of Human Heredity. New York: Knopf 1985. — Richard A. Soloway: Demography and Degeneration. Eugenics and the declining birthrate in twentieth-century Britain. Chapel Hill: University of North Carolina Press 1990. — Paul Weindling: Health, Race, and German Politics between National Unification and Nazism, 1870–1945. Cambridge: Cambridge University Press 1989. — Andrew Lyndsay Farrall: The Origins and Growth of the English Eugenics Movement, 1865–1925. New York: Garland 1985.   zurück