Becker über Vec: Die Spur des Täters

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Peter Becker

Sherlock Holmes und die
unbändige Liebe zum Maßband

  • Miloš Vec: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879-1933) (Juristische Zeitgeschichte I,12) Nomos: Baden-Baden 2002. 153 S. Geb. EUR (D) 29,-.
    ISBN 3-7890-8222-8.


Die Kriminalisten des frühen 20. Jahrhunderts sahen sich als Nachfolger und Erben der literarischen Figur des Sherlock Holmes, wie Miloš Vec in seiner überzeugenden Studie zur Geschichte der Identifikationstechniken zeigt. Er kann nachweisen, daß sich die Polizeiexperten bei der Rezeption von naturwissenschaftlichen Verfahren sogar explizit an dem Vorbild von Sherlock Holmes orientierten (S. 76 f.). Durch die kriminaltechnische Auswertung der Spuren wollten sie dem Ideal näherkommen und in einer interdisziplinären Kooperation sogar noch übertreffen.

"Alles und jeder hinterläßt eine Spur." Das war das Credo der Kriminalisten und die Grundlage sowohl der systematischen Analyse des Tatorts mit naturwissenschaftlichen Verfahren, als auch der weitreichenden Reorganisation von kriminalistischen Verfahren. Miloš Vec rekonstruiert diese Reformen auf verschiedenen Ebenen. Er berücksichtigt die Veränderungen sowohl des Rechtssystems (vor allem die neuen Anforderungen durch die freie Beweiswürdigung und die öffentliche Hauptverhandlung im Strafverfahren), als auch der naturwissenschaftlichen, medizinischen und psychologischen Diskurse, um die Bedingungen der Möglichkeit der Implementation neuer Verfahren innerhalb von Polizei und Justiz zu erklären.

Vermessen statt Befragen

Das Vorbild von Sherlock Holmes stellte für die Zeitgenossen eine Zielvorstellung für das bereit, was die Kriminalistik sein sollte – eine professionelle, spezialisierte und effiziente Form der Erhebung und Interpretation von prozeßrelevanten Daten. Dazu bedurfte es eines spezialisierten Blicks, zuverlässiger Methoden zur Erhebung und Dokumentation von Spuren und schließlich kompetenter Männer zur Deutung der Evidenzen. Anders als in den Romanen von Arthur Conan Doyle konnte keine Einzelperson diese Eigenschaften verkörpern; die kriminaltechnische Erhebung mußte daher arbeitsteilig und bürokratisch organisiert werden. Das erforderte die Standardisierung und Ent-Personalisierung des Verfahrens, um die Kommunikation zu erleichtern und den Störfaktor Mensch weitgehend auszuschalten. Noch in den 1980er Jahren betonte Horst Herold, der ehemalige Präsident des Bundeskriminalamts, daß er sich einen Strafprozeß ohne Zeugen, Sachverständigen, ja selbst ohne Richter wünschen würde – als einzige Grundlage wollte er den "wissenschaftlich nachprüfbaren, meßbaren Sachbeweis" zulassen (zitiert nach S. 79).

Diese kriminalistischen Utopien wollten die Befragung durch die Vermessung ersetzen. Sie wurden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts teilweise eingelöst, wie Miloš Vec in seiner beeindruckenden Verbindung von Diskurs-, Technik- und Institutionengeschichte zeigt. Seine Analyse vermittelt den Eindruck von der Komplexität und Kontingenz kriminalistischer Innovationen; diese Innovationen wurden durch den Zweifel der Kriminalisten an den Prämissen des traditionellen Strafverfahrens und seiner Methoden der Wahrheitsfindung angeregt. Bis zur Jahrhundertwende ging man davon aus, daß vernunftbegabte Menschen, vor allem gebildete Männer, über die Fähigkeit der Beobachtung, Erinnerung und Darstellung des Erinnerten verfügten. Ihren Aussagen schrieb man daher eine besondere Zuverlässigkeit zu. Die Forschungen der experimentellen Psychologie und die spezialisierten Studien zur Aussagepsychologie kamen zur Zeit der Jahrhundertwende allerdings zu dem erschreckenden Resultat, "daß die fehlerlose Aussage nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist" (S. 13). Noch verheerender war die Einsicht, daß gerade die Gebildeten besonders schlechte Beobachter waren und man ihren Wahrnehmungen kaum Glauben schenken konnte – sie waren aber diejenigen, die sich noch am besten artikulieren konnten.

"Herr Doktor! Ein Stück Band, das ich bei einer Durchsuchung finde, ist mir mehr wert als das Geschwätz der Verhafteten." 1 Mit dieser Aussage eines >alten Praktikers< aus den 1930er Jahren läßt sich die von Miloš Vec skizzierte Reaktion der Kriminalisten auf das Dilemma der Aussagepsychologie anschaulich charakterisieren. Die Hinwendung zu den >Realien< resultierte aus der Begeisterung für scheinbar neutrale und rein >objektive< Methoden der Wahrheitsfindung angesichts willentlicher und unbewußter Täuschungen durch Verdächtige und Zeugen.

Biometrik und Rechtsstaat

Die neuen, scheinbar rein objektiven Methoden dienten sowohl zur Rekonstruktion des exklusiven Wissens von Täter und Opfer als auch zur Feststellung der Identität jener Verdächtiger, die einen falschen Namen angenommen hatten. Miloš Vec konzentriert sich in seiner Studie auf die Identifikationstechniken, reflektiert deren Einführung allerdings vor dem Hintergrund dieser neuen Objektivierungsstrategien in anderen Bereichen kriminalistischen Arbeitens. Durch eine diskursanalytische Zugangsweise vermeidet er, eine Erfolgsgeschichte der kriminalistischen Modernisierung zu schreiben. Mit einer subtilen und analytischen Lektüre der zeitgenössischen Fachpublizistik rekonstruiert er nicht die Vorläufer des späteren mainstreams, sondern folgt dem neuen wissenschaftlichen Dispositiv in allen seinen Verästelungen. Dabei stößt er auf eine große Zahl heute teilweise ausgestorbener Spezies naturwissenschaftlicher Identifikationsstrategien, wie der Osteologie, Iknophalangometrie, Ophtalmometrie, Dermatotypie, Venoskopie und der Klassifikation von Riech- und Geschmacksfunktionen (S. 21 ff.).

Der Diskurs um die Reform von Identifikationstechniken entstand aus dem spezifischen Problem der Kriminalisten des 19. Jahrhunderts. Zwar verfolgte man auch damals flüchtige Täter, aber die wichtigste Herausforderung war die Feststellung der >wahren< Identität von jenen Personen, die man aufgrund von Übertretungen bzw. Vergehen in polizeilichen Gewahrsam genommen hatte. Sobald sich ihre Lebensgeschichte als unhaltbar erwies, nahm man eine Verbindung zur kriminellen Gegenwelt an und war umso nachhaltiger an der Klärung ihrer sozialen Identität interessiert. Erst die Einführung von verbesserten Kommunikationsformen zwischen den Justiz- und Polizeibehörden, sowie die von Vec analysierten technischen Verfahren ermöglichten eine erfolgreichere Ermittlung von Rückfalltätern, d.h. von jenen Personen, die einen falschen Namen dazu benutzen, ihren früheren kriminellen Lebenswandel zu verschleiern.

Das Buch von Miloš Vec analysiert die unterschiedlichen Strategien zur Verbesserung der Identifikation. Er konzentriert sich dabei auf die Bertillonage, d.h. die Identifikation anhand von Körpermaßen und auf die Daktyloskopie. Für beide Verfahren diskutiert er die philosophischen Grundlagen der Individualisierung – das biometrische Credo: "Die Natur wiederholt sich nicht" (S. 61) –, die konkreten Verfahrensformen und deren Implementation innerhalb eines bestehenden bürokratischen Apparates sowie eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Vor allem seine systematische Reflexion über die potentielle Spannung zwischen polizeilicher Effizienz und rechtsstaatlichen Garantien von bürgerlichen Grundrechten leistet einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte von kriminalistischen Innovationen.

Die zahlreichen Bücher und Aufsätze aus der Zeit der Jahrhundertwende und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Miloš Vec in seiner Studie berücksichtigt, vermitteln einen ersten Eindruck von der Rezeption der Daktyloskopie innerhalb und außerhalb des Polizeiapparates (S. 86 ff.). Der Erfolg des Fingerabdrucks als Grundlage der eindeutigen Identifikation weckte das Verlangen der Kriminalisten nach einer möglichst vollständigen Erfassung aller Menschen. Denn nur die Dokumentation auch der nicht – bzw. noch nicht – straffällig gewordenen Menschen konnte die immanente Beschränkung des Verfahrens überwinden: Fingerabdrücke, die man am Tatort gefunden hatte, konnten nur mit denjenigen von bereits erkennungsdienstlich erfaßten Personen verglichen werden. Die Projekte zur >Volksdaktyloskopie<, die einen Ausweg aus diesem Dilemma durch die Erfassung aller Menschen suchten, mußten jedoch scheitern, weil sie weder mit den rechtsstaatlichen Grundlagen noch mit der politischen Kultur vereinbar waren (S. 105 ff.).

Expertenpolitik

Das Buch von Miloš Vec ist ein gelungener Versuch einer Kulturgeschichte der Kriminalistik, in der verfahrensrechtliche Fragen der Anerkennung von Fingerabdrücken als Beweismittel und das grundsätzliche Problem der Fingerabdrucknahme als möglicher Eingriff in die Grundrechte einer Person in Bezug gesetzt werden zu einem natur-, medizin- und rechtswissenschaftlichen Diskurs. Seine Überlegungen zur Implementation der kriminalistischen Innovationen öffnen den Blick auf wichtige neue Entwicklungen in den Praktiken von governance:

Die Einführung der Daktyloskopie auf dem Weg von Ministerialverordnungen folgte einem weit verbreiteten Muster – der Delegation von Normsetzungskompetenz an die Exekutive. Anhand von Daktyloskopie und Anthropometrie als polizeiliche Verfahren demonstriert Miloš Vec eine weitere Besonderheit in der Entwicklung des Rechtsstaats seit dem späten 19. Jahrhunderts. Wesentliche Normen und Standards wurden nicht mehr von der Legislative, sondern von Expertengruppen entwickelt (S. 99 ff.). Im Hinblick auf die neuen polizeilichen Methoden der Personenidentifikation handelte es sich bei den Experten vor allem um Angehörige der Strafverfolgungsinstitutionen, die sich auf nationalen und internationalen Konferenzen trafen, um Standards zu entwickeln und den Informationsaustausch effizienter zu gestalten.

Miloš Vec vermittelt durch seine >archäologische< Strategie ungewohnte Einsichten in die widersprüchliche Position der Kriminalistik zum Zeitpunkt ihrer Neudefinition als >wissenschaftliches< Verfahren. Ein Teil dieses Widerspruchs betraf die eigenwillige Kombination von Wissenschaftsgläubigkeit und der expliziten Orientierung an einer literarischen Fiktion; diese Verbindung wurde ermöglicht durch das Bedürfnis der Kriminalisten nach einer "Verobjektivierung der Wahrnehmung" (S. 25), wofür die natur- und medizinwissenschaftlichen Verfahren die Methoden, die Figur des Sherlock Holmes das niemals erreichbare Ideal eines kompetenten und desinteressierten Fachmanns bereitstellten.

Miloš Vec hat eine spannende Studie zu den Polizeitechniken des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorgelegt, die uns nicht nur Antworten auf wichtige Fragen der Technik- und Rechtsentwicklung, sondern auch Anregungen für weitere Forschungen gibt. Er benutzt ein elaboriertes diskurs- und institutionengeschichtliches Instrumentarium, um die Denkexperimente wie Karrierestrategien von Praktikern als einen Beitrag zur technologischen Aufrüstung der Polizeibehörden seit dem späten 19. Jahrhundert zu verstehen. Die Präsentation seines Arguments ist ansprechend und die Illustrationen gekonnt in die Darstellung integriert – keine Pflichtlektüre, sondern ein intellektueller Genuß.


Prof. Dr. Peter Becker
Europäisches Hochschulinstitut Florenz
Dept. of History and Civilization
Badia Fiesolana
Via dei Roccettini 9
I-50016 San Domenico di Fiesole

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Ins Netz gestellt am 08.06.2003
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Anmerkungen

1 Heinrich Dehmal: Die Hilfsmittel der modernen Kriminalpolizei. In: Oskar Daranyi (Hg.): Der österreichische Bundes-Kriminalbeamte. Gedenkwerk anläßlich des 80jährigen Bestandes des Kriminalbeamtenkorps Österreichs. Wien: Verlag für Polizeiliche Fachliteratur 1933, S. 253–354, hier S. 256.   zurück