Bendrath über Crystall: Gustav Frenssen

IASLonline


Christian Bendrath

Kulturprotestantismus im trivialen
Unterhaltungsroman. Andreas Crystalls
theologisch-literaturtheoretische Studie
zu Gustav Frenssen

  • Andreas Crystall: Gustav Frenssen. Sein Weg vom Kulturprotestantismus zum Nationalsozialismus (Religiöse Kulturen der Moderne 10) Gütersloh: Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus 2002. 519 S. Geb. EUR (D) 69,-.
    ISBN 3-579-02609-7.


1. Das Paradox des Untertitels –
eine doppelte Forschungsperspektive

Andreas Crystall hat die dieser Rezension zugrunde liegende Arbeit über den dithmarscher Volksschriftsteller Gustav Frenssen auf Anregung des Kieler Kirchenhistorikers Gottfried Maron als kirchenhistorische Dissertation angefertigt (S. 13 f.). Sie liegt seit Ende 2002 im Druck vor, und zwar dank ihrer Aufnahme in eine genuin theologiegeschichtliche Reihe (S. 14). Damit einher geht eine gewisse Verschiebung des erkenntnisleitenden Interesses.

Die Kieler theologische Fakultät empfand als "spiritus rector" der Crystall'schen Doktorarbeit ursprünglich wohl eine regional bedingte Zuständigkeit für einen bisher noch "unerledigten Fall" der Kirchengeschichte Schleswig-Holsteins, wie seinerzeit Arno Schmidt in Frenssen einen "unerledigten Fall" für die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts sah (S. 15 ff., 491 ff.).

Ein norddeutscher Pfarrer mutiert seit 1901 endgültig zu einem religiösen Heimatschriftsteller sowie völkisch-sozialen Bestsellerautor mit Weltruhm, der sich im Dritten Reich dann ganz auf die Seite der deutschgläubigen Ersatzreligion des nationalsozialistischen Weltanschauungsstaates schlägt. Gustav Frenssen stirbt 1945 und ist seitdem in Vergessenheit geraten. Er bekümmert heute anläßlich von Straßenumbenennungen vor allem Kommunalpolitiker und Lokalhistoriker, die den im Dritten Reich zur Ikone eines vorbildlichen nationalsozialistischen Schriftstellers hochstilisierten Frenssen verständlicher Weise aus dem in Straßennamen sich darstellenden "kollektiven Gedächtnis" ihrer freiheitlich-demokratischen Kommunen streichen wollen (S. 16).

Gegen diese nationalpädagogisch motivierte, aber letztlich doch ambivalent bleibende Entsorgung der unrühmlichen Aspekte an der jüngeren deutschen Vergangenheit, sofern sie sich in Straßennamen niedergeschlagen hat, haben sich die Kieler Kirchenhistoriker um Gottfried Maron im Hinblick auf die in ihre Zuständigkeit fallende kirchliche Zeitgeschichte Schleswig-Holsteins gesträubt. Anstatt den Deckmantel des Vergessens über diesem in seiner letzten Lebensphase so problematischen Schriftsteller zu belassen, wie er seit 1945 war, haben sie eine ideologiekritische Historisierung des Phänomens Gustav Frenssen angeregt. Es galt ihnen, nicht allein das Endergebnis des intellektuellen Werdegangs Frenssens im schleswig-holsteinischen Kirchenkampf zur Zeit des Dritten Reiches wahrzunehmen, sondern besonders dessen hochkomplexe Vorgeschichte (S. 19 ff.).

Die Herausgeber der Reihe "Religiöse Kulturen der Moderne" Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger haben angesichts dieser Vorgeschichte des erst in seiner letzten Lebensphase nationalsozialistisch gewordenen Frenssen in Crystalls Arbeit einen erhellenden Beitrag zur Ausleuchtung des "lunatic fringe" des Kulturprotestantismus im ausgehenden Kaiserreich und in der Weimarer Republik gesehen. Frenssen erschien ihnen als populärer Vertreter eines eigenwilligen dogmenfreien Christentums im Umfeld der liberaltheologischen Zeitschrift "Die christliche Welt" von Martin Rade. Wegen dieses religiösen Populismus bot Crystalls Arbeit über Frenssen in ihren Augen die einzigartige Möglichkeit, die vom akademischen Flügel des Kulturprotestantismus wohl eher unbeabsichtigte Breitenwirkung der rational sowie historisch aufgeklärten Frömmigkeit der liberalen Theologie jenseits akademischer oder genuin bildungsbürgerlicher Milieus an einem konkreten Fallbeispiel zu studieren (S. 25–27).

Crystall wird mit diesem doppelten Interesse an einer sowohl regional kirchenhistorischen, als auch global theologiehistorischen sowie religionssoziologischen Gustav-Frenssen-Forschung fertig, da er beide Forschungsperspektiven geschickt miteinander zu verbinden versteht. Die Pointe seiner Untersuchung ist, daß der im Untertitel angekündigte "Weg" Frenssens "vom Kulturprotestantismus zum Nationalsozialismus" weder bruchlos noch zwingend notwendig auf "Hitler – ein deutsches Verhängnis" (E. Niekisch) hinausläuft (S. 394 ff., 491 ff.). Vielmehr verhalte es sich mit diesem "Weg" Frenssens zu einem deutschgläubigen Führerkult paradoxerweise so, daß der religiöse Heimatschriftsteller und völkisch-soziale Bestsellerautor bis 1933 immer wieder versucht habe, dem in die Säkularisierungskrise geratenen kirchlichen Christentum zu einer neuen Lebensrelevanz als privatreligiöse Weltanschauung für "moderne Menschen" (F. Niebergall; S. 145 ff.) zu verhelfen (S. 100 ff., 195 ff., 270 ff., 303 ff.).

Dafür habe Frenssen vielfältige Anleihen bei der kulturprotestantischen Transformation der dogmatischen Vorstellungsgehalte der kirchlichen Bekenntnistradition gemacht. Es sei ihm primär darum gegangen, das Christentum mit dem historisch sowie kultursoziologisch aufgeklärten Wahrheitsbewußtsein von Neuzeit und Moderne zu versöhnen, um auf dem Wege einer kritisch-konstruktiven Anknüpfung an christliche Vorstellungsgehalte im Sinne einer radikalen Ethisierung derselben die bleibende Geltung einer christlichen Lebenseinstellung gerade auch in der krisengeschüttelten Moderne herauszustellen.

Die Notwendigkeit einer Rückbindung dieser weltfrommen Lebenseinstellung an Kirche, Bibel und Bekenntnis habe Frenssen freilich eher kritisch gesehen. Um eine erneute Verkirchlichung der Massen sei es seinem volksmissionarischen Impetus nicht gegangen, wohl aber um deren Rückgewinnung für ein alltagsnahes, elementar lebenspraktisches Christentum der Tat, das sich als Privatreligion und individuelle Weltanschauung ohne kirchliche Vermittlung in freier Zustimmung und Ablehnung unmittelbar am biblischen Lebensbild Jesu orientiere (S. 208 ff.).

Ab 1933 sei Frenssens kirchenkritische, aber durchaus noch christliche Privatreligion dann jedoch in eine allgemeine Christentumskritik umgeschlagen. Er habe durch die vulgärnietzscheanische und sozialdarwinistische Reduktion all seiner früheren weltanschaulichen Überlegungen auf einen rassebiologischen Vitalismus fortan im Christentum nur noch die Ursache einer prinzipiell lebensfeindlichen Entfremdung gesehen, von der das deutsche Volk sich in seinem angeblichen Überlebenskampf total zu befreien habe (S. 444 ff.).

Diese anhand der sorgfältigen Rekonstruktion von Frenssens religiös-weltanschaulicher Entwicklung greifbare Diskontinuität eröffnet für Crystall eine doppelte Möglichkeit:

  1. Zum einen kann das Phänomen Gustav Frenssen historisiert werden; seine lineare und zwangsläufige Entwicklung zum nationalsozialistischen Musterideologen wird als verhängnisvolle Selbststilisierung des sich an den Nationalsozialismus anbiedernden siebzigjährigen Schriftstellers entlarvt (S. 397 ff., 419 ff.), durch die die bisherige Historiographie sich dazu habe verleiten lassen, Frenssens geistige Entwicklung zum Nationalsozialisten trotz seines an sich uneinheitlichen Lebenswerkes ganz unter das Schema "Bereitstellung-Erfüllung" (S. 396) zu stellen und durch diese lineare Homogenisierung andere politische sowie religiös-weltanschauliche Optionen Frenssens in der Zeit der Weimarer Republik zu übersehen oder doch zu gering zu gewichten (S. 307 ff., 334 ff.).
  2. Zum anderen kann das Phänomen des Kulturprotestantismus in sozialgeschichtlicher Perspektive neu vermessen werden; seine Erforschung bleibt nicht auf die universitären Repräsentanten (A. von Harnack, E. Troeltsch, M. Rade) und das von ihnen bediente bildungsbürgerliche Milieu beschränkt, sondern kann auf breite Volksmassen im In- und Ausland ausgeweitet werden, die durch das populistisch-popularisierende Wirken Frenssens im Medium seiner trivialen Unterhaltungsromane mit dem Denkstil liberaler Theologie in Berührung gekommen sind (S. 75 ff., 166 ff.).

2. Eine kurze Inhaltsangabe
zur Gliederung, zum Gedankengang
und zur Methodik der Untersuchung

Um am Untersuchungsgegenstand Frenssen diesen beiden Möglichkeiten gerecht zu werden, geht Crystall auf folgende Weise vor. Er gliedert den Lebensweg Gustav Frenssens in einzelne Abschnitte, die jeweils für sich sorgfältig kontextualisiert werden. Nur auf diesem Wege kann er sicherstellen, daß Frenssens geistige Entwicklungsschritte nicht vorschnell "ex eventu" beurteilt werden und damit in ihrer "vielspältigen" Eigenbedeutung zur Geltung kommen. Zudem werden durch die Abstinenz gegenüber einer Frenssens Leben künstlich homogenisierenden Einheitsschau die vielfältigen lebensgeschichtlichen Kontingenzen deutlich, denen eine moderne Intellektuellenbiographie in besonderem Maße unterliegt.

Crystall beginnt mit der religiösen Sozialisation Frenssens in einer ländlichen Kirchlichkeit, die über die gut gebildeten Landpfarrer interessanter Weise bereits von der aufklärerischen Theologie und Frömmigkeit Albrecht Ritschls beeinflußt ist (S. 38 ff.), so daß Frenssen bei seinem kirchlichen Examen sich nur unwillig auf den Supranaturalismus der vom Kieler Landeskirchenamt als Normallehre festgehaltenen lutherischen Bekenntnisdogmatik einläßt (S. 57 ff., 61 ff.). Crystall arbeitet für die Jahre 1863–1903, Frenssens erstem Lebensabschnitt von der Geburt bis zum freiwilligen Rückzug aus dem Pfarramt (S. 38–194), konsequent heraus, daß der Pluralismus der universitären Theologie und der in den Großstädten jenseits der Landeskirchenämter gelebten Religion sich im ländlichen Raum widerspiegelt (S. 64 ff., 105 ff., 108 ff.).

So kommt es nicht von Ungefähr, daß Frenssen als überhaupt nicht weltabgeschiedener Landpfarrer unter den prägenden Einfluß der von Martin Rade herausgegebenen Zeitschrift "Die christliche Welt" gerät (S. 75 ff.) und deren liberaltheologisches Profil in "Dorfpredigten" mit einer modernen sozialethisch am Lebensbild des historischen Jesus orientierten Volksfrömmigkeit umsetzt, die 1899, 1900 / 01 und 1902 in drei Bänden und 1903 noch einmal in einem Band bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen mit hohen Auflagenzahlen verlegt werden (S. 116 ff.).

Daß Frenssen auf dem Höhepunkt seines Wirkens als liberaltheologisch geprägter und prägender Dorfpfarrer das Pfarramt aufgibt, ist eine der oben angesprochenen lebensgeschichtlichen Kontingenzen (S. 174 ff.). Frenssen riskiert 1903 nach dem gigantischen Erfolg seines Romans "Jörn Uhl" von 1901 den Schritt vom kirchlich alimentierten Dorfpfarrer zum freien Schriftsteller. Trotz einer fortan erheblich schärfer gewordenen Kritik am kirchlichen Christentum mit seiner lebensfernen Bekenntnisdogmatik (S. 195 ff.) bleibt Frenssen als religiöser Heimatschriftsteller sowie völkisch-sozialer Bestsellerautor einem modernisierten sowie völkisch inkulturierten Christentumsverständnis treu (S. 270 ff., S. 303 ff.)

Die Kirchenbindung dieses radikal individualistischen Christentums ist in diesem zweiten Lebensabschnitt Frenssens nun freilich äußerst lose; seine Transformation der traditionell an das Bekenntnis gebundenen Kirchen- und Gemeindefrömmigkeit trägt eindeutig privat- sowie naturreligiöse Züge (S. 200 ff.). Daher predige er ab jetzt anstatt auf der Kanzel oder in praktisch-theologischen Erbauungsschriften im Medium des trivialen Unterhaltungsromans, sagt Frenssen, seine literarischen Fähigkeiten realistisch einschätzend (S. 102), von sich selbst (S. 156 ff., 193 f.).

Dieser zweite Lebensabschnitt reicht Crystall zufolge von 1903–1933 (S. 195–415). Aus dieser biographischen Epoche fällt einzig Frenssens agitatorisches Wirken an der "Heimatfront" während des 1. Weltkrieges etwas heraus; und zwar in dem Sinne, daß hier ein erstes Mal ein gefährlicher nationalchauvinistischer Überschwang auftaucht, der jedoch, gemessen an den Entgleisungen anderer deutscher sowie europäischer Intellektueller unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges, noch im Rahmen bleibt (S. 286 ff.). So kommt es wiederum nicht von Ungefähr, daß Frenssen mit seinem 1921 erschienenen Roman "Der Pastor von Poggsee" für die Weimarer Republik Partei ergreift und, im Unterschied zur radikalen Rechten, eine anteilige Kriegsschuld Deutschlands einräumt (S. 307 ff.).

Darüberhinaus reist Frenssen 1922 auf Einladung der Interessenvertretung der Deutsch-Amerikaner durch die USA; und zwar in halboffizieller kulturpolitischer Funktion, um das durch den Weltkrieg angeschlagene Image Deutschlands in der amerikanischen Öffentlichkeit aufzubessern. Seine "Briefe aus Amerika", die 1923 als literarisches Reisetagebuch erscheinen, zeigen einen von der Freiheit und Weite der Neuen Welt begeisterten, gegenüber den sozialen und ökologischen Problemen gleichwohl keineswegs blinden Schriftsteller, der über die bisweilen abgeschieden wirkende Dorfromantik seiner Romane weit hinauswächst, mitten hinein in die weltpolitischen Zusammenhänge der jungen Republik (S. 334 ff.).

Crystall arbeitet sich Werk für Werk durch Frenssens Werkbiographie, und zwar so, daß er nicht allein eine kurze Inhaltsangabe der einzelnen Schriften bietet, sondern diese jeweils auf ihren religiösen Gehalt hin perspektiviert. Es ist Crystall bei jedem Werk vordringlich darum zu tun, die für Frenssen typische Transformation christlicher Vorstellungsgehalte in eine durch Heimatbindung affektiv aufgeladene Moralreligion herauszuarbeiten und diese im Rahmen sonstiger liberaltheologischer sowie kulturprotestantischer Transformationen zu kontextualisieren.

Hinzu kommt jeweils eine Darstellung der kritischen Rezensionen, die Frenssen zum einen in "Die christlichen Welt", zum anderen in der konservativen Kirchenpresse erhielt (z. B. S. 182 ff., 224 ff., 331 ff.).

Weitere Hintergrundinformationen zur weltanschaulichen sowie volkspädagogischen Zielsetzung der Romane bietet die Korrespondenz Frenssens mit seinem Verleger (S. 27 ff.).

Abgerundet werden die werkbiographischen Einzeluntersuchungen durch statistisches Material zur Auflagenentwicklung sowie zu den Honorarabrechnungen, so daß auch sozialgeschichtliche Aspekte am Phänomen der trivialen Unterhaltungsliteratur Frenssens nicht zu kurz kommen.

Diese sozialgeschichtliche Nüchternheit ermöglicht Crystall eine entwaffnende Erklärung, warum der siebzig Jahre alte Erfolgsschriftsteller, seine politischen Optionen aus der Zeit der Weimarer Republik Lügen strafend (immerhin bekundet Frenssen in seinen "Briefen aus Amerika" 1923 eine gewisse nähe zur deutschen Sozialdemokratie sowie zum Reichspräsidenten Friedrich Ebert!), sich 1933 bis 1945 zur Errichtung der nationalsozialistischen Gesinnungsdiktatur bereitwillig herleiht (S. 397 ff.). Frenssen war durch die Weltwirtschaftskrise von 1929 sowie durch seinen aufwendigen Lebensstil mehr oder weniger bankrott. Er brauchte dringend Geld, und zwar durch einen neuen Bestseller.

Sein Verleger Müller-Grote spielt in dieser für Frenssen existentiell bedrohlichen Situation seinerseits eine recht dubiose Rolle (S. 400 ff.). Auch er hofft Anfang 1933 den drastisch gesunkenen Buchabsatz der Grote'schen Verlagsbuchhandlung mit Hilfe der Liaison zwischen Frenssen und dem nationalsozialistischen Zeitgeist aufzubessern, obwohl er am Vorabend der nationalsozialistischen Machtübernahme Frenssen noch zum wohlverdienten literarischen Ruhestand geraten hatte. Der erfolgsverwöhnte Frenssen jedoch stilisiert sich nicht zuletzt deshalb zum Nazi-Ideologen der ersten Stunde, weil er, seinem bisher aufgrund ethisch vertretbarer politischer Verhältnisse eher unproblematischen Opportunismus als Trivialschriftsteller folgend, um jeden Preis am Puls der Zeit bzw. bei den Einstellungen der Volksmasse bleiben will. Das muß sich in der nun ethisch hochproblematischen Situation einer sich in Deutschland installierenden mörderischen Gesinnungsdiktatur zwangsläufig verhängnisvoll auswirken, weil Frenssen gegenüber der neuen Massenbewegung keine Kritikfähigkeit mehr besitzt (S. 419 ff., 436 ff.).

Was nun in dieser, Crystalls Einteilung zufolge, dritten und letzten Lebensphase Frenssens an Romanen, Erzählungen und Bühnenstücken sowie an ideologischen Pamphleten entsteht, bezeichnet Arno Schmidt zutreffend als "literarische Greueltaten" (S. 421). Gottseidank verlege sich Frenssen schnell ganz und gar auf das Pamphletschreiben, so daß die nicht ganz so stark entgleiste Erzählprosa gemessen am sonstigen Werk Frenssens ein relativ geringes Gewicht erhalte (S. 421 ff.). Crystall stellt jedoch schonungslos heraus, auf welch entsetzlich niedrigem Niveau Frenssen, seine eigene christliche Privatreligion über Bord werfend, den Führerkult zur neuheidnischen Volksreligion hochstilisiert: "Der Glaube der Nordmark" von 1936 fungiere dabei als neue Dogmatik eines Deutschglaubens à la Jakob Wilhelm Hauer, den Frenssen nach dessen Untergang im wirkungslosen Sektierertum beerbe (S. 444 ff. 449 ff.), "Der Weg unseres Volkes" von 1938 als völkische Anti-Kirchengeschichte (S. 482 ff.) und die im selben Jahr erschienene "Lebenskunde" als vulgär rassistische und primitiv eugenische Ethik (S. 486 ff.).

Inwieweit diese Machwerke Frenssens von der breiten Masse des Volkes noch gelesen worden sind, muß Crystall offenlassen. Immerhin stellt er deutlich heraus, daß die hohen Auflagen durch Parteistellen und staatliche Institutionen zustande gekommen sind und das Buch, z. B. zur nationalsozialistischen Jugendweihe, verschenkt wurde. Es kann also gut sein, daß diese Bücher Frenssens – ähnlich wie Alfred Rosenbergs "Mythus des XX. Jahrhunderts" – auf den meisten Bücherborden ungelesen verstaubten (S. 462 ff., 470 ff.).

Genau gelesen wurden sie aber von den Vertretern der "Bekennenden Kirche" (S. 466 ff., 472 ff.). Die Frenssen ohnehin schon reserviert gegenüberstehenden Theologen sehen nun all ihre Befürchtungen bestätigt. Allerdings streichen sie heraus, daß Frenssens nun übertrieben rassistischer Deutschglaube die neuen Machthaber wohl vergessen machen solle, daß er in der Weimarer Republik weltanschaulich ganz anders optiert habe. Das hat Folgen: Frenssens Veröffentlichungen unterliegen fortan einer strikten Zensur (S. 353 ff., 382, 480). Der Schriftsteller wird sogar von nationalsozialistischer Seite offen des Opportunismus geziehen und als unsicherer Kantonist angegriffen.

Frenssens als Autobiographie gedachter "Lebensbericht" von 1941 gerät somit zu einem erschreckenden Zeugnis eines um den Nachweis seiner nationalsozialistischen Rechtgläubigkeit ringenden Mannes, der teils verängstigt, teils zornig darum bemüht ist, nicht mit der völkisch-sozialen Opposition gegenüber dem Nationalsozialismus identifiziert zu werden. Zwischen den Zeilen enthält seine ängstliche Apologie eine mit einer gewissen Arroganz vorgetragene Kritik an den Gesinnungswächtern der neuen Weltanschauung. Frenssen weist die Kritik an seiner Person mit einem beleidigten Unterton zurück: Er habe lange genug gelebt und sich lange vor der nationalsozialistischen Bewegung mit seiner Tendenzliteratur für eine weltanschaulich Neuorientierung der Menschen engagiert; er brauche sich daher nichts sagen zu lassen, zumal der Nationalsozialismus selber der weltanschaulichen Orientierung durch ihn bedürfe (S. 30 ff., 385 ff.). Zu einer längst überfälligen Distanzierung des Schriftstellers vom Dritten Reich reichen diese Irritationen jedoch nicht mehr. Im Altersstarrsinn befangen geht Frenssen mit dem Dritten Reich unter und reißt sein gesamtes bisheriges Lebenswerk mit in diesen Orkus hinein (S. 490).

Crystall schließt mit einer ganz kurzen Bilanz, in der er noch einmal die Ambivalenz und Vielschichtigkeit des Phänomens Frenssen unterstreicht, die sogar in der letzten Lebensphase noch deutlich werde, wenngleich sie auch durch die unerträgliche Selbstilisierung zu einem rein nationalsozialistischen Schriftsteller fast ganz überdeckt sei (S. 491 ff.).

Der Untertitel der Crystall'schen Untersuchung, der von Frenssens "Weg vom Kulturprotestantismus zum Nationalsozialismus" spricht, ist also endgültig dahingehend zu verstehen, daß er nur durch individuelle Brüche, subjektive Paradoxien und lebensgeschichtliche Kontingenzen zustande kommt. Crystall wäre vollkommen mißverstanden, wenn man seinen Untertitel so verstünde, als sei Frenssens kulturprotestantische Sozialisation für seine Anfälligkeit für den Nationalsozialismus verantwortlich zu machen. Im Gegenteil habe Frenssen dieselbe durch seine Parteinahme für den Nationalsozialismus Lügen gestraft. Nur in dem Maße, wie Frenssen kulturprotestantische Positionen auf fehlerhafte Weise mit völkisch-sozialen Positionen amalgamiert habe, könne von einer gewissen Anfälligkeit gesprochen werden (S. 71 f., 83 ff., 87 ff., 254 ff.).

3. Frenssen als paradigmatischer Vertreter
eines national- sowie sozial-liberalen
"lunatic fringe" des Kulturprotestantismus

Der Schwerpunkt der Studie von Andreas Crystall zu Gustav Frenssen liegt eindeutig bei dessen Verortung am rechtsintellektuellen Rand des diskursiven Milieus des Kulturprotestantismus (S. 75–396). Crystall zeigt auf, wie Frenssen die wesentlichen Momente liberaler Theologie, wie sie ihm über das Medium von Martin Rades "Die christliche Welt" und deren Buchempfehlungen zugänglich geworden sind, rezipiert hat.

Er habe sich die "Leben-Jesu-Theologie" seit F. Schleiermacher und D. F. Strauß erschlossen und vor allem in der systematischen Gestaltung Adolf von Harnacks zu eigen gemacht (S. 81 ff., 206 ff.). Der historische Jesus werde somit auch von Frenssen unter dem "Goldbrokat" der metaphysischen Spekulationen der dogmatischen Christologie freigelegt und durch die radikale Dogmenkritik als sittliches Vorbild für "moderne Menschen" (F. Niebergall; S. 145 ff.) zugänglich gemacht (S. 122 ff., 218 ff.). Selbst der historische Jesus werde von der historischen Kritik nicht verschont. Frenssen weise, wie Johannes Weiß und Albert Schweitzer, den apokalyptischen Akosmismus Jesu als historisch kontingent zurück (S. 123 ff., 220 ff., 250 ff., 259 ff.). Nicht alle Jesusworte könnten somit die gleiche Geltung für sich beanspruchen.

Ebenso rezipiere Frenssen die typisch kulturprotestantische Ethisierung der Religion, wie sie durch Ritschls Reich-Gottes-Begriff angebahnt worden sei (S. 95 ff.). Luthers Berufs- und Arbeitsbegriff und Kants kategorischer Imperativ fungierten auch bei Frenssen als Orientierungspunkte einer alltagsnahen sowie lebenspraktischen christlichen Weltgestaltung (S. 220 ff.). Frenssen verbinde genau wie die gesamte Ritschl-Schule mit dem Programm der sittlichen Weltgestaltung den aus der Aufklärungstheologie J. S. Semlers stammenden Perfektibilitätsgedanken (S. 95 ff.), den Gedanken einer tätigen Vervollkommnung der Welt zur "christlichen Welt" à la Martin Rade.

Frenssen setze den Semler'schen Perfektibilitätsgedanken in seinen Romanen und Erzählungen sowie in seinen Dorfpredigten sogar recht entschieden der Krisenrhetorik des ausgehenden Kaiserreichs sowie der Weimarer Republik entgegen. Er neige weder angesichts der in Stadt und Land gleichermaßen akuten sozialen Probleme der Industrialisierung, noch angesichts der Kriegsnot zu einem apokalyptischen Katastrophismus, sondern ermuntere seine Leser genauso standhaft im Glauben wie seine Romanfiguren zwischen "Sorgen und Särgen" (S. 168) hindurchzugehen.

Frenssen verbleibe nicht im kulturprotestantischen sowie liberaltheologischen "juste milieu", sondern bilde eher dessen "lunatic fringe". Das habe folgenden Grund: Frenssen beziehe den aufklärungstheologischen Perfektibilitätsgedanken nicht nur auf die tätige Verbesserung der Menschenwelt zu einer "christlichen Welt", sondern auch auf das Christentum in seiner weltanschaulichen Identität. Hier bleibe er nicht bei einer radikal historisierenden Dogmenkritik stehen, sondern gehe über die Ethisierung des Christentums hinaus zu dessen Ethnisierung, sprich zu dessen Germanisierung im Sinne von Arthur Bonus (S. 83 ff., 87 ff.).

Das sittliche Vorbild des historischen Jesus und seine Reich-Gottes-Predigt blieben nicht die einzigen Bezugspunkte der Weltfrömmigkeit von Frenssens Privatreligion. Das Reich Gottes identifiziere er z. B. in seinem 1905 erschienenen Roman "Hilligenlei" (heiliges Land) mit der Heimat, der Erde, dem Volk, ja sogar mit dem Blut als hochgradig problematischer Metapher für ein heimatverbundenen Lebensentwurf (S. 200 ff.). Die Bekehrungserlebnisse seiner Romanfiguren bezögen sich nicht nur auf ein gut kantianisches Pathos und Ethos der tätigen Weltgestaltung, sondern eben auch besonders auf die Wiederentdeckung der Heimat als unabdingbare Voraussetzung, Kraft- und Offenbarungsquelle einer sittlich-religiösen Lebensbemeisterung (S. 108 ff.).

Für diesen substanzialistischen Heimat- und Volksbegriff finde Frenssen bei den geistigen Führungspersönlichkeiten des Kulturprotestantismus wie Harnack oder Troeltsch keinen Anhalt. Einzig F. Naumanns national sowie sozial geprägter Liberalismus (S. 91 f.) oder Stöckers sozial ausgerichteter Nationalchauvinismus dürften Frenssen dazu bewegt haben, ideelle Anleihen bei dem radikal germanisierten Christentum etwa eines Paul de Lagarde (S. 86) sowie Arthur Bonus (S. 87 ff.) zu machen und sich diese Anleihen von einem ins Völkische umgebogenen Goethe als Privatreligion im Sinne eines christlich-neuheidnischen Synkretismus absegnen zu lassen (S: 83–86). Diesem verhängnisvollen "völkisch-religiösen" (S. 7) Überschwang Frenssens gegenüber hätte Crystall nun leicht folgende, genuin liberaltheologische sowie kulturprotestantische Kritik vortragen können, was er leider unterläßt:

Die bei Frenssen stattfindende Amalgamierung der kulturprotestantischen Leben-Jesu- und Reich-Gottes-Theologie mit einer unmittelbaren Volks- und Heimatreligiosität bzw. mit einer privatreligiösen "Blut und Boden"-Frömmigkeit ist vor allem deshalb so problematisch, weil Frenssen die strikte Bindung der liberalen Theologie an die neukantianische Epistemologie intellektuell unterläuft und dadurch die historistische Dogmenkritik von der allgemeinen Erkenntniskritik abkoppelt, so daß nun erst Heimat und Volk in vorkritischer Naivität und Sentimentalität als unmittelbare Erfahrungsgewißheiten fungieren können. Der Nimbus von Volk und Heimat wird von Frenssen als naturalistisch-realistische Tatsache hingenommen, ohne daß die affektive Volk- und Heimatbindung ihrerseits noch einmal historisiert würde, und zwar als hochkomplexe Bedeutungszuschreibung des "kollektiven Gedächtnisses" vor Ort der mündlichen sowie schriftlichen Überlieferung der Volkspoesie, die ihrerseits vielfältige Brüche und Diskontinuitäten aufweist.

Genau um eine derartige Historisierung vermeintlicher Selbstevidenzen und anscheinend substanzieller Gegebenheiten war es dem liberaltheologischen sowie kulturprotestantischen Historismus aber immer zu tun, so daß Frenssen deutlich hinter dessen erkenntnistheoretischem sowie kulturwissenschaftlichem Problemniveau zurückbleibt. Aufgrund dieser Reduktion des Programms liberaltheologischer Dogmenkritik, die vor einem vermeintlich selbstevidenten Heimatgefühl halt macht, kommt Frenssens Anfälligkeit für den nationalsozialistischen Rassenwahn dann tatsächlich nicht von Ungefähr.

Crystall führt diese genuin liberaltheologische bzw. kulturprotestantische Kritik an Frenssen im Rahmen seiner eigenen Kommentierung seines Untersuchungsgegenstandes nicht aus. Er beschränkt sich stattdessen auf eine klassische dogmatische Kritik der am äußersten rechten Rand des Kulturprotestantismus stehenden Privatreligion Frenssens. Diese übertrage nämlich den "cum grano salis" auch noch von der Ritschl-Schule geteilten Erlösungs- und Versöhnungsgedanken in unzulässiger Weise von Jesus als dem Christus auf die Heimat (S. 108 ff.). Daraus ergebe sich eine unzulässige Identifikation von Christus und Heimat, durch die Natur und Gnade nicht mehr hinreichend voneinander unterschieden würden.

Ohne diese "kategoriale Differenz" (W. Härle) von Natur und Gnade komme es aber zu einem vom orthodoxen Luthertum immer zu Recht bekämpften brachialen Synergismus: Frenssens Romanfiguren müßten sich die Gnade Gottes durch ihre sittlichen Taten erwerben, indem sie ihre Naturanlagen nutzten. Crystall zeigt in seiner Kommentierung somit, daß er an dem radikalen Sünden- bzw. Erbsündenbegriff der lutherischen Bekenntnisdogmatik und der darauf bezogenen metaphysischen Christologie sowie sakramental vermittelten Soteriologie festhalten möchte (S. 127 ff.).

Problematisch an dieser für einen lutherischen Theologen durchaus nachvollziehbaren Kommentierung Crystalls ist lediglich, daß Frenssen dadurch an Kategorien gemessen wird, die ihm selbst schlechterdings nicht mehr plausibel erscheinen konnten. Hinsichtlich der Entdramatisierung der zum Quietismus verleitenden lutherischen Sündenlehre sowie hinsichtlich der Ethisierung des Christentums folgte Frenssen nämlich lediglich dem Duktus der neuzeitlichen Aufklärungstheologie (S. 146 f., 161–166; bes. S. 162 f.). Wie deren Kritik an der unzulässigen Amalgamierung von Dogmenkritik und Heimatkult zutreffender hätte ausfallen können, ist im vorangegangenen Absatz bereits skizziert worden.

4. Völkisch-sozial –
Heimatkult und Sozialkritik

Die Nähe Frenssens zu Friedrich Naumann geht auf ihre gemeinsame Mitgliedschaft im von Naumann 1896 in Erfurt gegründeten "Nationalsozialen Verein" zurück (S. 91 ff.). Dieser hatte die Funktion, das sozialethische Engagement der "Inneren Mission" über den engeren kirchlichen Horizont weit hinausgehend in eine moderne, nationalstaatlich organisierte Sozialpolitik umzusetzen (S. 90 ff.). Crystall arbeitet nun an drei Punkten heraus, wie dieses national- sowie sozial-liberale Engagement Frenssens sich in dessen trivialen Unterhaltungsromanen niederschlägt:

  1. Zum ersten in einer deutlichen Sozialkritik, vor allem am hoffnungslosen Schicksal der landlos gewordenen Landarbeiter, die durch Frenssens Romanfiguren zu einem sozialen Aufstieg zum Kleinbauerntum angeregt und von der Abwanderung in die Städte oder gar in die Neue Welt abgehalten werden sollen (S.104 ff. 156ff. 274f. 307 ff.);
  2. zum zweiten in einer ebenso deutlichen lebensreformerischen Moralkritik, vor allem gegenüber der Ausgrenzung lediger Mütter ("Jungweibernot" S. 205 f., 321 ff.), denen Frenssen durch die sexuell selbstbestimmten Frauengestalten, die überall in seinen Romanen auftreten, zu gesellschaftlicher Anerkennung verhelfen will (was ihm vor allem in der konservativen Kirchenpresse des ausgehenden Kaiserreiches sowie später im Nationalsozialismus als unsittliche Werbung für die freie Liebe und die Auflösung der Ehe ausgelegt wird! S. 69–71);
  3. zum dritten in einer deutlichen Kritik an der Grausamkeit kolonialistischer sowie nationalstaatlicher Kriegspolitik, deren für konkrete Einzelschicksale fatale Auswirkungen Frenssen zur Abschreckung und Anmahnung von antimilitaristischer Besonnenheit seinen Lesern nahebringt, und zwar durch die naturalistische Schilderung des Leidens einfacher Soldaten, Verwundeter, Kriegsgefangener und Spätheimkehrer (S. 270 ff., 297 ff.,
    307 ff.).

5. Naturalismus und Idealisierung –
Dorfpredigten im Gewand
trivialer Unterhaltungsromane

Der literaturwissenschaftliche Aspekt der Frenssen'schen Werkbiographie gerät bei dem ganz auf sein religiös-sozialethisches Wirken abgestellten Untersuchungsansatz Crystalls etwas kurz. Das ist bedauerlich, da das Faszinierende an Frenssen als Schriftsteller nicht einfach in der volksmissionarischen und christlich apologetischen Instrumentalisierung von zeitgenössischer Literatur im Allgemeinen besteht, sondern ganz spezifisch in der Nutzung des trivialen Unterhaltungsromans als Tendenzliteratur zum Zweck der Propagierung eines modernen, privatreligiösen Christentums.

Frenssen hat eben dieses Genre des trivialen Unterhaltungsromans mit Bravour beherrscht und, in volkspädagogischer Absicht, sogar auf ein relativ hohes Niveau gebracht, auf dem es an die zeitgenössische Hochliteratur heranreichen konnte. Immerhin ist Frenssen 1912 ernsthaft für den Literaturnobelpreis im Gespräch, der dann aber Gerhard Hauptmann verliehen wird, obwohl Knut Hamsun und Selma Lagerlöf sich für Frenssen stark gemacht hatten (S. 276 f.). Die Verleihung des Literaturnobelpreises hätte Frenssens literarischem Schaffen sicherlich zuviel der Ehre angetan, denn Frenssen trennt von einem Vertreter der Hochliteratur wie Hauptmann eben doch die vulgärromantische Schwülstigkeit seiner Wortwahl und Sprachbilder. Hier verbleibt er auf dem Gartenlauben-Niveau der heimatkunstbewegten Volksschriftsteller (S. 102).

Die an der gleichzeitigen Aussicht beider Schriftsteller auf den Literaturnobelpreis auffällige Nähe Frenssens zu Hauptmann kommt jedoch nicht von Ungefähr. Immerhin schreibt Frenssen seine Unterhaltungsromane ganz im Stil eines an Hauptmanns "Bahnwärter Thiel" erinnernden Naturalismus. Seine Figuren erscheinen, wenn auch bisweilen holzschnittartig typisiert und stilisiert, durchaus milieunah, also als einfache Landleute, Landarbeiter, Bauern, Dorfpastoren, Handwerker, Auswanderer und Rückkehrer. Sie wirken zudem eigentümlich gebrochen, sei es im unmittelbarsten Sinne des Wortes durch körperliche Gebrechen, sei es durch Schicksalsschläge, die sie so gar nicht in heldenhaftem Glanz erstrahlen lassen. Stolz können Frenssens Romanfiguren nur aufgrund ihrer Duldsamkeit und Demut sein (S. 167 f.); sie schreiten nirgends wie Jungsiegfried daher, wie es bei einem völkischen Trivialschriftsteller zu erwarten gewesen wäre.

6. Abschließende Würdigung und offene Fragen

Crystalls äußerst solide gearbeitete Werkbiographie zu Gustav Frenssen bietet auf exemplarische Weise einen ausgezeichneten Beitrag zur Sozialgeschichte des kirchenfernen Christentums in Norddeutschland sowie darüberhinaus. Es gelingt ihm zudem, anhand von Frenssens christlich naturreligiösen sowie christlich privatreligiösen Heimatkult das Phänomen des Kulturprotestantismus insofern neu zu vermessen, als er an dessen äußerstem rechten Rand eine ganz ungewöhnliche Breitenwirkung liberaltheologischer Positionen und Begriffe aufzeigen kann, die, leider Gottes, auf verhängnisvolle Weise völkisch kontaminiert waren.

Trotzdem schlägt Crystall eine neues Kapitel der Gustav-Frenssen-Forschung auf, indem er dessen Lebenswerk aus den Klauen seines unrühmlichen Endes befreit und die lebensgeschichtlichen Brüche und intellektuellen Inkonsequenzen in Frenssens Biographie scharf herausarbeitet. Anstelle einer Exkulpierung wird Frenssens Sündenfall zum nationalsozialistischen "poeta laureata" umso schärfer deutlich, da aus blankem Opportunismus und aus nackter Geldgier eine nationalliberale bis sozialdemokratische Option (S. 94 f.) zugunsten der konstitutionellen Monarchie sowie der Weimarer Republik auf das Schändlichste verraten wird.

Die sozialgeschichtliche Methode der Crystall'schen Arbeit ermöglicht gerade an diesem Punkt aufgrund der ausgezeichneten Quellenkenntnis ihres Autors einen kritisch ernüchternden Blick auf das Phänomen Frenssen, handelt es sich doch um einen Mann aus armen Verhältnissen, der als junger Pfarrer hoch verschuldet war, dann zu erheblichem Reichtum kam und 1932 wieder vor dem finanziellen Ruin stand. Das wirtschaftliche Auf und Ab, das Frenssen mit vielen Menschen aus dem ländlichen Raum sowie aus seiner allgemeinen Zeitgenossenschaft teilt, steht in direkter Korrelation zu seinem auffälligen Schlingerkurs zwischen den linken und rechten politischen Optionen, der nie ganz aufhört.

Die Kritik fällt dem äußerst lehrreichen und lesenswerten Buch Crystalls entsprechend recht kurz aus: Der geneigte Leser hätte sich bisweilen gewünscht, manches, wenn auch noch so aussagekräftige Zitat nicht gleich vier bis fünf Mal vorgeführt zu bekommen. Auch andere Redundanzen im Textverlauf wären durchaus vermeidbar gewesen (z. B. S. 152ff. = 465). Des Weiteren hätten die Auflagenstatistiken zugunsten einer etwas längeren Inhaltsangabe der einzelnen Werke gekürzt werden können. Auch die kritischen Rezensionen, die ohne großen Aussagegehalt trotzdem "in extenso" zitiert und referiert werden, könnten eine radikale Kürzung gut vertragen, zumal sie ohnedies recht sterotyp ausfallen, weil sie sich schon früh auf Frenssens sexuelle Libertinage festgelegt haben.

Sowohl literaturwissenschaftliche als auch theologiegeschichtliche Argumentationsweisen sowie deutende Kommentare hätten dieser intellektualgeschichtlich signifikanten Biographie ebenfalls gut getan, die gerade als kirchenhistorische Arbeit eine zu strikte Abstinenz gegenüber systematischen Fragestellungen obwalten läßt. Im Unterschied zu diesen eher kleinen Kritikpunkten scheint mir jedoch die Hauptschwäche von Crystalls Buch im Fehlen eines Personenregisters zu bestehen, das für die Lesbarkeit einer so materialreichen historischen Untersuchung einfach ein unabdingbares Hilfsmittel ist.

Viele Fragen bleiben angesichts der Komplexität des Gegenstandes auch nach 495 Seiten Lektüre offen: Wer war jener eigentümliche Numme Numsen (S. 429), durch den Frenssen in seiner verhängnisvollen Fehlentscheidung als nationalsozialistischer Musterautor zu firmieren so stark befördert wurde? Was um alles in der Welt hat einen US-Amerikaner, der Frenssens Romane ja in englischer Übersetzung lesen konnte, am dithmarschener Lokalkolorit derartig begeistert, daß eine Übersetzung ins Englische erfolgreich war? Wie ist Frenssens typisch deutschtümelnder, romantisch-sentimentalischer Heimatkult gerade in der eher nüchternen oder gar ironischen angelsächsischen Literaturlandschaft aufgenommen worden? Wie konnte angesichts der offensichtlichen Urbanität des ländlichen Raumes in Frenssens Romanen sowie in seiner eigenen realen religiösen Sozialisation überhaupt jemals das unausrottbare Klischee eines schlechthinnigen "Stadt-Land-Gegensatzes" aufkommen? Wie ist die von Frenssen bemerkte Stadtflucht des glücklosen Industrieproletariats in den ländlichen Raum als Gegenbewegung zur Landflucht der Landarbeiter und glücklosen Kleinbauern zu gewichten? Wie kommt Frenssen als intellektuell relativ einfach gestrickter Volksschriftsteller darauf, seinen autobiographischen Ich-Roman "Otto Babendiek" (S. 367 ff.) auf der Basis von Charles Dickens' "David Copperfield" zu modellieren, wenn man von der oberflächlichen naturalistischen Parallele einmal absieht?

Die Beantwortung all dieser Fragen bleibt der weiteren Gustav-Frenssen-Forschung vorbehalten, die Andreas Crystall jedoch um mehrere Meilensteine erfolgreich vorangebracht hat.


Dr. Christian Bendrath
Ludwig-Maximilians-Universität München
Abteilung für Systematische Theologie
Schellingstr. 3 / III Vg
D-80799 München
Homepage

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 18.08.2003
IASLonline

IASLonline ISSN 1612-0442
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Alf Christophersen. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück | Partner ]