Bendrath über Süselbeck: Arno Schmidts und Gustav Frenssen

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Christian Bendrath

Irrungen, Wirrungen
in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts
– Arno Schmidts problematisches Verhältnis
zu Gustav Frenssen

  • Jan Süselbeck: "Arse=tillery + Säcksualität". Arno Schmidts kritische Auseinandersetzung mit Gustav Frenssen. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2001. 198 S. Kart. EUR (D) 24,50.
    ISBN 3-89528-337-1.


Süselbecks Fragestellung:
Was interessiert Arno Schmidt eigentlich
an Gustav Frenssen?

Jan Süselbeck ist derzeit an der FU Berlin mit einer Dissertation zu Arno Schmidt und Thomas Bernhard beschäftigt. Im Rahmen seiner Forschungen zu Arno Schmidt ist er auf dessen ungewöhnlich langen Essay zum 100. Geburtstag von Gustav Frenssen 1963 gestoßen, den Schmidt 1965 im dritten Band seiner Funk-Essays aufgenommen hat. 1 Für Süselbecks Wahrnehmung von Arno Schmidt als eines genuin linksintellektuellen Schriftstellers will dessen besonders ausgeprägtes Interesse an dem rechtsgerichteten Verfasser trivialer Unterhaltungsromane im ausgehenden Kaiserreich sowie in der Weimarer Republik Gustav Frenssen nicht ins Bild passen.

In der Debatte um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland Mitte der 1950er Jahre hat sich Arno Schmidt nämlich mit seinem leidenschaftlichen Antimilitarismus als gesellschaftskritischer Publizist hervorgetan. Sodann hat er sich Anfang der 1960er Jahre mit seiner psychoanalytischen Studie zu Karl Mays Leben und Werk, vor allem zu dessen literarisch nur sehr ungeschickt sublimierter Homosexualität, einen unzweideutigen Ruf als radikaler Kritiker des bürgerlichen Kulturbetriebes in der Bundesrepublik Deutschland erworben. Aufgrund seiner stilistischen Eigenwilligkeiten und Eigenmächtigkeiten im Umgang mit der deutschen Sprache galt er schließlich in den Jahren der Restauration während der Ära Adenauer als literarischer Avantgardist. Alles in allem entspricht Schmidt, zumal Ende der 1950er / Anfang der 1960er Jahre, daher sicherlich eher dem Bild eines linksintellektuellen Schriftstellers als dem eines unentschiedenen Wanderers zwischen den sich in der werdenden Bundesrepublik wieder neu herauskristallisierenden politischen Lagern.

Es fällt trotz alledem jedoch auf, dass Schmidt sich in den 1970er Jahren angesichts des Terrorismusproblems von den 68er Revolutionären trotz all seiner Vorbehalte gegenüber den antikommunistischen Phobien im bürgerlichen Lager immer recht vehement distanziert hat. Arno Schmidt hält offensichtlich am Totalitarismus- sowie Freiheitsbegriff der 1950er Jahre mit deren gleichmäßiger Kritik aller linken und rechten Totalitarismen fest.

All diese Beobachtungen können in Süselbecks Augen Schmidts kritische Sympathie für Frenssen jedoch nicht verständlich machen, da Frenssens politische Parteinahme für den Nationalsozialismus jede Sympathie eines sonst so kritischen Schriftstellers wie Schmidt hätte ausschließen müssen. Der 1863 geborene Frenssen stirbt 1945 als >poeta laureatus< des 3. Reiches, an das er sich seit 1933 mit politischen Pamphleten regelrecht angebiedert hat. Abgesehen von seinen offen rassistischen und antisemitischen Beiträgen zur pseudoreligiösen Ideologie des Nationalsozialismus ist Frenssen zudem vor 1933 nichts anderes gewesen als ein sehr erfolgreicher Schreiber recht trivialer völkisch-religiöser Unterhaltungsromane aus der norddeutschen Provinz.

Dieser politische und dieser literarische Sachverhalt trennen Arno Schmidt und Gustav Frenssen in den Augen Süselbecks so fundamental, dass er fragt: "Was fesselte Arno Schmidt trotz aller Bedenken an einen völkischen Heimatliteraten?" (S. 12) Der Beantwortung dieser Frage ist Süselbecks hier zu besprechende literaturwissenschaftliche Studie gewidmet, die er aus seinem Promotionsvorhaben ausgegliedert und 2001 separat veröffentlicht hat.

Die zwei Methoden Süselbecks:
Rekonstruktion der Intertextualität
und psychoanalytische Literaturhermeneutik

Süselbeck bringt zur Beantwortung seiner literaturgeschichtlich überaus interessanten Leitfrage unterschiedliche Methoden in Anschlag. Zunächst einmal fragt Süselbeck nach der Intertextualität zwischen den Werken Frenssens und Schmidts. Dabei konzentriert er sich zum einen auf die Wiederaufnahme der Theologiekritik Frenssens bei Schmidt (S. 18 ff.). Zum anderen arbeitet er die biographische Selbststilisierung Schmidts nach prototypischen Strukturen in der Biographie Frenssens heraus, insbesondere hinsichtlich dessen Rückzugs in die norddeutsche Provinz nach Barlt, die im Rückzug Schmidts nach Bargfeld eine antitypische Entsprechung findet (S. 59 ff.).

Sodann ist es Süselbeck darum zu tun, in der Art von Schmidts psychoanalytischer Karl-May-Studie (S. 146 ff.) nun die Werke Frenssens systematisch auf verdrängte Homophilie hin zu analysieren (S. 163 ff.). Hierbei übernimmt Süselbeck die psychoanalytische Hermeneutik Schmidts, genauer dessen in die Literaturtheorie importierte Hermeneutik der Freud'schen Traumdeutung, die Schmidt selber allerdings nur auf Karl May und, eigenartiger Weise, nicht auf Frenssen anwendet, obwohl sich dies in den Augen Süselbecks geradezu aufgedrängt habe (S. 161, 171, 174, 176, 181).

Von daher handelt es sich bei dieser zweiten von Süselbeck verwendeten Methode um eine produktive Fortschreibung Schmidt'scher Literaturhermeneutik, die mit Schmidt über Schmidt hinauszudenken versucht. Süselbeck nimmt an, Schmidt habe wohl aus volkspädagogischen Gründen auf eine seiner Karl May-Studie analoge sexualpsychologische Untersuchung Frenssens verzichtet, da sein Funk-Essay sonst nur zu einer weiteren Verdrängung Frenssens und seiner politischen Ambivalenz im Literaturbetrieb der jungen Bundesrepublik beigetragen hätte
(S. 186).

Süselbecks Kritik
am unkritischen Frenssenbild Arno Schmidts

Bereits an seiner intertextuellen Analyse der Motivrezeption Schmidts von Strukturen und Motiven Frenssens wird deutlich, was Süselbeck an Schmidts Umgang mit Frenssen kritisiert: Süselbeck hält nämlich Schmidts kritisch-konstruktive Rehabilitierung Frenssens gerade in volkspädagogischer Hinsicht für höchst problematisch. Bei dem sich in seinem Alterswerk als ein leidenschaftlicher Nationalsozialist der ersten Stunde präsentierenden Frenssen habe es zur Zeit der Weimarer Republik, wie Schmidt zu Unrecht annehme, keine als demokratisch einzustufende Schaffensphase gegeben. Schmidts Wahrnehmung von Frenssens Veröffentlichungen während der 1920er Jahre sei vielmehr auf eine inkonsequente, in ihrer Einäugigkeit sogar manipulative Faschismuskritik Schmidts zurückzuführen (S. 57 ff., 65 ff.).

Um diese gefährliche Nähe Schmidts, trotz dessen lautstarken Antimilitarismus, zu faschistischen Gedankenmustern und rassistischen Grundeinstellungen Frenssens plausibel zu machen, wendet Süselbeck die Forschungsergebnisse von Theweleits psychoanalytischer Studie zur von diesem sogenannten deutschen Freikorpsliteratur der 1920er und frühen 1930er Jahre 2 sowohl auf Frenssen, als auch auf Schmidt selbst an (S. 121 ff. u. 123 ff., bes. S. 133 ff.).

Süselbeck bemüht sich um den Nachweis, wie viel rassistisches und protofaschistisches Gedankengut Schmidt gerade in den von ihm als postnationalistisch und antiimperialistisch geschätzten Werken Frenssens, wie z. B. in dessen Großroman Otto Babendiek von 1926 oder in dessen mit Grübeleien überschriebenen literarischen Tagebüchern, schlichtweg übersehen habe (S. 65 ff.). Süselbeck zeiht Schmidt in Bezug auf dessen Frenssenbild offen einer diesem selbst vielleicht unbewusst gebliebenen Geschichtsklitterung (S. 62–64, 82, 122, 127, 162, 188).

Süselbeck wird darüber hinaus nicht müde, immer wieder die unsensible, weil unkritisiert belassene Fortschreibung antisemitischer und rassistischer Klischees deutscher kleinbürgerlicher Ideologien bei Schmidt zu beklagen (S. 90, 105 Anm. 291, S. 132 f., 133 ff., 188). Dass diese Klischees bei Schmidt nur in fiktionalen und hochironischen, ja bitterböse gemeinten satirischen Zusammenhängen auftauchen (S. 90 Anm. 251, S. 145), tut der Vehemenz von Süselbecks Anklage gegen Arno Schmidt keinen Abbruch: Nach Auschwitz fordert Süselbeck auch in ironischen und satirischen Werkpassagen deutscher Gegenwartsliteratur ein höheres Maß an moralischer Sensibilität, als das seines Ermessens von Arno Schmidt dargebotene (S. 133 ff., 140 ff., 152).

Süselbecks äußerst kritische Revision
des von Schmidt geschönten Frenssenbildes

Das Frenssenbild Süselbecks ist von allen Brüchen und biographischen Inkonsequenzen, die herauszuarbeiten Schmidt so wichtig waren, vollständig bereinigt. Von Frenssens Dorfpredigten von 1903 (S. 20 ff.) bis hin zu dessen nationalsozialistisch geprägter Autobiographie Lebensbericht von 1940 rekonstruiert Süselbeck eine sich immer weiter radikalisierende völkisch-nationalistische, rassistische sowie antisemitische Grundhaltung, die nicht von einer öffentlichen Einräumung der deutschen Schuld am Ersten Weltkrieg sowie von einer positiven Wahrnehmung der Weimarer Republik unterbrochen worden sei. Immerhin habe Frenssen auch in der Weimarer Republik den aggressiven Nationalismus des ausgehenden Kaiserreiches apologetisch schönzureden versucht und eine revanchistische Einstellung zum Versailler Vertrag öffentlich vertreten (S. 65 ff., bes. S. 74, S. 77 ff.).

Die von Süselbeck zur Widerlegung des gegenteiligen Votums Schmidts herangezogenen Belege sind auf den ersten Blick überzeugend. Trotzdem verwundert in diesem Zusammenhang Süselbecks eigene Feststellung, dass Frenssens Lebensbericht von 1940, in dem er sich als Zeit seines langen Lebens bereits treuen Nationalsozialisten zu präsentieren versucht, eine eher problematische Quelle sei (S. 27 Anm. 46, S. 67 Anm. 182).

Frenssen konzipiert seine Autobiographie nämlich als eine groß angelegte Apologie: Er habe im Unterschied zu nationalsozialistischen Angriffen gegenüber seiner politischen Positionen während der Weimarer Republik angeblich nie eine deutsche Schuld am Ersten Weltkrieg eingeräumt und sei auch nie für eine generelle Liberalisierung der bürgerlichen Ehemoral zugunsten alleinerziehender Mütter eingetreten. Diese nachträgliche Selbststilisierung der Werkbiographie Frenssens im Sinne einer hanebüchenen nationalsozialistischen politischen Korrektheit kann, wie von Schmidt durchaus überzeugend herausgearbeitet wird, nachweislich nicht stimmen.

So unzweideutig nationalsozialistisch, wie Süselbeck ihn zeichnet, ist Frenssen von seiner politischen Zeitgenossenschaft wohl doch nicht wahrgenommen worden (das räumt Süselbeck zwischenzeitlich sogar ein; vgl. S. 72). Anders ließe sich Frenssens geradezu ängstliche Selbstverteidigung in seinem Lebensbericht auch gar nicht erklären. An dieser Stelle hätte es in Süselbecks Untersuchung einer kritischen Ernüchterung durch eine historische Methode bedurft, die Frenssen nicht ausschließlich >ex eventu< beurteilt (besonders deutlich S. 22).

Frenssens und Schmidts Jesusbilder:
Führer und ressentimentgeladener Fanatiker

Dass Frenssens Jesusbild in den Dorfpredigten sowie im ersten Bestseller
Jörn Uhl von 1901 mit dem nationalsozialistischen Führerkult bereits völlig identisch sei, wie Süselbeck anhand von Theweleits Analyse des diktatorischen Blicks als >tertium comparationis< nachzuweisen versucht (S. 21 ff., bes. S. 30–34), stellt, gemessen an der gewiss völlig naiven sowie unhistorischen, aber in allen politischen Lagern Deutschlands sowie in allen europäischen Gesellschaften üblichen Vereinnahmung des irdischen Jesus Ende des 19. Jahrhunderts, eine problematische Verkürzung wesentlich komplexerer theologiegeschichtlicher Sachverhalte dar (S. 35 ff., 38 ff., 41 ff.). Mit einer diesbezüglichen Differenzierung zwischen dem Führungsanspruch des Frenssen'schen Jesus und dem nationalsozialistischen Führerkult wäre Frenssen selbst noch lange nicht exkulpiert, wie Süselbeck offenbar befürchtet.

Frenssens religiöse Mobilmachung der deutschen Gesellschaft angesichts der Modernisierungskrise mit einer völkischen Sozialromantik bleibt für sich betrachtet ja schon problematisch genug. Um diese Problematik sauber herauszuarbeiten, ist aber die völkisch-religiöse Mobilmachung Frenssens historisch präziser zu kontextualisieren, nämlich in der europaweiten Krisenrhetorik angesichts der Auflösung traditioneller sozialer Ordnungsmuster im Zeitalter der fortgeschrittenen Industrialisierung.

Wie das Beispiel anderer europäischer Gesellschaften zeigt, musste diese Krisenrhetorik nicht zwangsläufig auf einen nationalen Sozialismus mit einem "eliminatorischen Antisemitismus" (Goldhagen) wie den in dieser Hinsicht einzigartigen deutschen Nationalsozialismus hinauslaufen. Süselbecks direkte Linie von Frenssens ideologischem Jesusbild zu Hitler ist für eine besonnene Wahrnehmung der Wirkungsgeschichte literarischer Werke zu monokausal und für eine jederzeit notwendige Schärfung des gesellschaftspolitischen Verantwortungsbewusstseins von Autoren und Lesern zu deterministisch.

In Bezug auf Arno Schmidts Jesusbild (S. 50 ff.) klagt Süselbeck demgegenüber selbst, völlig zu Recht, ein höheres Differenzierungsniveau ein. Schmidt zeichnet Jesus nämlich, im Sinne der gängigen Christentumskritik von Kelsos bis Nietzsche, als einen völlig unintellektuellen sowie ressentimentgeladenen Fanatiker, in dem die lebensfeindliche religiöse Intoleranz des späteren Christentums in Kirche, Staat und Gesellschaft bereits angelegt sei. Mit dieser Jesus- und Christentumskritik einher gehe bei Schmidt ein offensichtlich antislawischer Affekt gegenüber Dostojewski, dessen jesusartige Romanfiguren Schmidt als moralinsauer einstufe (S. 51, 55). Weder Dostojewski noch der irdische Jesus seien von dieser Polemik Schmidts getroffen. Darin ist Süselbeck nur beizupflichten, zumal besonders Schmidt sich von der bundesrepublikanischen Russenphobie der Adenauerzeit, trotz all seiner Kritik an deren reaktionärem Katholizismus, offenbar nur unzureichend distanziert hat (S. 51 Anm. 124).

Positive Würdigung.
Ein gelungener Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte

Bis zu diesem Punkt ist die Lektüre von Süselbecks Studie äußerst anregend und hochgradig informativ. Dass seine Frenssenkritik zugleich eine eingehende Schmidtkritik beinhaltet, die höchst problematische Risse in Schmidts Selbstbild als eines angeblich eindeutig linksintellektuellen Avantgardisten schonungslos offen legt, ermöglicht eine überfällige kritische Revision der Literaturgeschichte der werdenden Bundesrepublik hinsichtlich hochproblematischer Kontinuitäten in der unbewussten Fortschreibung rassistischer Klischees sowie des "autoritären Charakters", wie dieser von dem aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten sozialpsychologischen Zweig der Frankfurter Schule an der deutschen politischen Mentalität so deutlich herausgearbeitet worden ist.

Wenn man einmal absieht von der Tatsache, dass der dort beklagte Untertanengeist nicht unbedingt typisch deutsch sein muss, sondern vielmehr ein allgemeines Problem politischer Herrschaft in Neuzeit und Moderne darstellt, ist der "autoritäre Charakter" bei Frenssens politischer Sozialisation im deutschen Obrigkeitsstaat des ausgehenden Kaiserreichs kaum anders zu erwarten; bei Schmidt aber fällt er besonders unangenehm auf, und zwar gerade dann, wenn dieser sich hinsichtlich seiner eigenen widerstandslosen Teilnahme am Zweiten Weltkrieg als unschuldiges Opfer militaristischer Zeitläufe herauszureden versucht (S. 123 ff., bes. S. 135 ff. u. 140 ff.). Hierdurch erreicht Süselbeck eine dringend erforderliche Korrektur zugunsten einer kritisch ernüchterten Wahrnehmung und Würdigung Arno Schmidts.

"Aber, Wehe, wehe!', wenn ich auf das Ende sehe."
Zum Umgang mit psychoanalytischer Literaturhermeneutik

Über den Rest von Süselbecks Studie (S. 163–186, auch bereits S. 34) sollte allerdings besser der Mantel des Schweigens gebreitet werden. Die psychoanalytische Entlarvung verdrängter homophiler Wünsche, die sich in Frenssens literarischer Phantasie, insbesondere in seinen Landschaftsbeschreibungen sowie in seinen Gewaltdarstellungen, angeblich unwillkürlich niederschlagen, und zwar in von Freud für typisch gehaltenen psychosexuellen Symbolen, missrät Süselbeck zu einer hochspekulativen, weil willkürlich assoziierenden Allegorese.

Frenssens Texte sagen angeblich etwas ganz anderes, als sie meinen. Was sie aber meinen, weiß Süselbeck kraft seiner a priori feststehenden Ferndiagnose: Der Psychotiker Frenssen (S. 28 f.) betreibe eine hochgradig pathologische Verdrängung und Abwehr seiner homophilen Primärimpulse. Zu dieser völlig arbiträren Ferndiagnose, die bar jeder sorgsamen psychiatrischen Differenzialdiagnose von einem der medizinischen Psychologie unkundigen Literaturwissenschaftler ins Blaue hinein aufgestellt wird, bieten weder Frenssens Biographie einen hinreichend eindeutigen Anhaltspunkt, noch seine Texte, deren augenscheinlicher Naturalismus jede Spekulation über sogenannte Tiefenstrukturen verbieten sollte, weil die Interpretation sonst ihren Gegenstand verfehlt.

Süselbeck müsste allein schon aus literaturwissenschaftlichen Überlegungen heraus hinsichtlich seiner äußerst naiven Handhabung der psychoanalytischen Literaturhermeneutik mehr Selbstkritik obwalten lassen. Erstens ist die unvermittelte Anwendung der Freud'schen Traumdeutung auf literarisch produzierte Texte vom gegenwärtigen Diskurs überholt, da die einseitige Pathologisierung eines Autors auf eine andere Personen pathologisierende Perspektive des Interpreten hin befragt werden muss.

Der Literaturkritiker operiert unwillkürlich mit ihm unbewussten Gegenübertragungen auf die ihm als Leser begegnenden Übertragungen des impliziten Autors, der mit dem empirischen Autor niemals direkt identifiziert werden kann. Das Modell >Übertragung – Gegenübertragung< hat deshalb zu Recht einen naiven, weil allein autorfixierten Gebrauch der psychoanalytischen Literaturhermeneutik abgelöst. Jedoch auch dieses Modell hat seine Schwächen: Ohne fachkundige psychotherapeutische Begleitung bzw. Supervision dürfte es einem allein an seinem Schreibtisch arbeitenden Literaturkritiker schwer fallen, sich seine unbewussten Gegenübertragungen bewusst zu machen, verhindern dies doch die unvermeidbaren Widerstände gegen eine unzensierte Selbstwahrnehmung.

Überhaupt ist die Autorfiktion aus heutiger Sicht, insbesondere seit der Entdeckung der >intentional fallacy< im postmodernen Literaturdiskurs, doch sehr in Frage zu stellen. Der Rückschluss aus einem literarischen Kunstwerk auf bewusste oder unbewusste Intentionen eines empirischen Autors bleibt trotz minutiöser Rekonstruktion der Werkentstehung aus Korrespondenz und Tagebüchern immer mit Spekulationen behaftet. Briefe und Tagebücher offenbaren ihrerseits nur temporäre sowie von willkürlichen Selbststilisierungen niemals freie Selbstkommentierungen, durch die ein Schriftsteller der metaphorischen Bedeutungsfülle eines literarischen Textes sekundär Herr zu werden versucht, indem er die Bedeutungsvielfalt auf eine angebliche Normabsicht reduziert.

Wie sehr solche auktoriale Reduktionen der unwillkürlichen, weil undisziplinierbaren sowie unreglementierbaren Bedeutungspluralität von literarischen Kunstwerken an eben diesen vorbeigehen, wird in geradezu paradigmatischer Weise an Peter Weiss' Selbstkommentierung und mehrfacher Überarbeitung seines Theaterstücks Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade deutlich. Geradezu verzweifelt versucht Weiss die Bedeutungsanarchie dieses Meisterwerks des absurden Theaters auf die Rationalität einer orthodox marxistischen Gesellschaftsanalyse festzulegen und vergewaltigt durch diesen brachialen Reduktionismus seinen eigenen, von ihm selbst und seinen Gesinnungen sowie Gesinnungswandeln aber immer zu unterscheidenden, weil bedeutungsautonomen Text.

Arno Schmidt spielt demgegenüber virtuos mit der prinzipiellen Unerkennbarkeit eines empirischen Autors in seinen Werken. Sogar im essayistischen Werk stilisiert er seine Biographie, sooft er kann, nach Maßgabe der von ihm beschriebenen Autoren. Durch sein von Süselbeck zutreffend als "Biographiensymphonie" (S. 14) benanntes Verfahren verschwimmen dem Leser schnell die Konturen zwischen dem von Schmidt dargestellten Autor und ihm selbst. Wer ist nun wer? Für Schmidts fiktionale Texte gilt das umso mehr. Schon der implizite Autor der Schmidt'schen Texte ist kaum als ein einzelnes Subjekt bzw. eine einzige Person dingfest zu machen, erscheint er doch nur in vielfältigen ironischen Brechungen. Wie sollten da, jenseits manifester Selbstaussagen, zuverlässige Rückschlüsse auf den einen empirischen Autor getätigt werden können?

Eine derartige literaturtheoretische Ernüchterung hätte Süselbeck davor bewahren können, seine in literaturgeschichtlicher Hinsicht so wertvolle Studie zu Frenssen und Schmidt auf den letzten gut zwanzig Seiten in eine durch eine willkürliche Allegorese hergestellte, weil ohne jeden psychologisch triftigen Grund völlig frei assoziierte Genitalzonen-, Analzonen- und Triebhermeneutik einmünden zu lassen.

Nichtsdestoweniger sei Süselbecks Studie trotz ihres äußerst schwachen Endes jedem Interessenten an einer kritisch revidierten Literaturgeschichte der werdenden Bundesrepublik empfohlen.


Dr. Christian Bendrath
Ludwig-Maximilians-Universität München
Abteilung für Systematische Theologie
Schellingstr. 3 / III Vgb.
D - 80799 München

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Ins Netz gestellt am 25.01.2004
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Alf Christophersen. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


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Anmerkungen

1 Vgl. Arno Schmidt: Ein unerledigter Fall. Zum 100. Geburtstag von Gustav Frenssen. In: ders.: Die Ritter vom Geist. Von vergessenen Kollegen. Karlsruhe 1965, S. 90–165.   zurück

2 Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. Teile 1 & 2 in einem Band. München u. a. 2000, hier bes. Teil 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors.   zurück