Berndt über Mainberger: Die Kunst des Aufzählens

IASLonline


Frauke Berndt

Usw. usf. – Funktionen
der literarischen Aufzählung

  • Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 22). Berlin / New York: Walter de Gruyter 2003. 364 S. / X Geb. EUR (D) 118,-.
    ISBN 3-11-017246-1.


Rhetorik und Medialität der Aufzählung

Georges Perecs Bedauern, die "zeitgenössische Literatur" habe, "bis auf ganz seltene Ausnahmen (Butor), die Kunst des Aufzählens vergessen", nimmt Mainberger zum Anlaß, nach dem Erbe jener "Listen Rabelais'", der "Linnésche[n] Aufzählung der Fische in Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren" oder der "Aufzählung aller Geographen, die Australien erforscht haben, in Die Kinder des Kapitän Grant", zu suchen (S. 1). 1 Das Ergebnis läßt sich sehen – und aufzählen: "Italo Calvino, William Gass, Allen Ginsberg, Julian Barnes, Hubert Fichte, Edoardo Sanguineti" sind die zeitgenössischen, "Joyce und Virginia Woolf, H. H. Jahnn, George, Rilke, Benn, Brecht, Beckett, Céline, Gadda, Borges und viele andere" die Autoren des 20. Jahrhunderts, die mit "Vorfahren, Verwandten und Wahlverwandten" auf einer Liste stehen. Sie reicht bis auf die Ursprünge literarisch-schriftlicher Überlieferung zurück und versammelt "nicht nur Jules Verne und Rabelais, nicht nur Homer und die Bibel, sondern auch Whitman und Flaubert, Sterne und Quevedo, die Bhagavadgita, die Sumerische Königsliste ..." (S. 2).

Nicht der Abgrenzung von Aufzählung und Literatur – den Funktionen der Aufzählung in der Literatur gilt Mainbergers Interesse. Auf der Grundlage einer rhetorischen Definition der >enumeratio<, die sie mit Lausberg als koordinierende Variante der >accumulatio< bestimmt, greift sie für die systematische Begründung ihres Interesses zum einen über den traditionellen Gegenstandsbereich der Rhetorik hinaus:

Was in dieser Arbeit >Aufzählungen< heißt, deckt sich nicht mit >enumeratio< und >accumulatio< und überschneidet sich mit anderen rhetorischen Figuren. [...] Einzelne Termini der Rhetorik werden daher eine Rolle spielen, definieren aber nicht den Gegenstand.

Zum anderen grenzt Mainberger die Aufzählung gegen den Katalog und die Liste ab. Während sie den Katalog "mit dem Anspruch auf Vollständigkeit" definiert (S. 5), versieht sie die Liste mit einem medialen Index: "Liste und Tabelle sind Gegebenheiten des Mediums Schrift" (S. 6). Schließlich blendet das Interesse an den Funktionen sowohl den Bereich des Mathematischen als auch medientechnische, historische sowie wissenschaftsgeschichtliche Aspekte des Aufzählens aus.

Mit Wittgenstein unterscheidet Mainberger dagegen verschiedene "Diskurstypen" bzw. "enumerative Spiele", die sie im performativen Sinn "als Tätigkeiten" des Aufzählens voraussetzt. Deren "Beobachtungen" führen zu den sieben "eher
tentativ[en], gelegentlich auch metaphorisch formulierte[n] Überlegungen", die den Funktionsanalysen der literarischen Aufzählung vorausgehen (S. 7): 2

  1. Distinktion und Egalisierung der Elemente
  2. Integration und Desintegration der Elemente
  3. Wiederholung der Operation (Algorithmus der Aufzählung)
  4. Unersetzbarkeit der Aufzählung
  5. Typen der Reihenbildung
    1. Endliche, erschöpfend darzustellende Reihen
    2. Unendliche, nicht erschöpfend darzustellende Reihen
    3. Endliche, aber empirisch kaum zu erfassende, deshalb nicht erschöpfend darzustellende Reihen

  6. Spannung von Koordination und Subordination der Elemente
  7. Aufzählung als das >Andere< der Rede

Mit Hilfe dieser >tentativen Systematik< sichtet die versierte Komparatistin nicht nur die Literatur der Moderne, vor allem der französischen und italienischen, sondern die sogenannte Weltliteratur und stellt ihre Studie – von A wie Aischylos bis Z wie Zola – auf eine in ihrer Breite äußerst beeindruckende und überzeugende Materialbasis.

Optimistische Taxonomie

Die "Kunst des Aufzählens" soll die "Fülle der Leistungen, zu denen Aufzählungen fähig sind", dokumentieren; und Mainberger dokumentiert sie gewissermaßen vor Ort, weil sie "die enumerativen Praktiken" der Literatur nicht "analytisch still[...]stellen", dafür ">in actu<" studieren will (S. 15). Diese gruppieren sich um (magische) sieben Argumentationsorte, die technische, mediale, philosophische und mythologische Indizes erhalten:

  1. Aufzählung und Lektüre
  2. Klassifizieren, Definieren, Beschreiben
  3. Buch- und Gedächtnistechnisches
  4. Methodisierungen der Erkenntnis und des Lebens
  5. postulative Aufzählungen
  6. Zeit, Erinnerung, Werden
  7. Diktionen des Passionellen und Rituellen

Dabei liegt der Arbeit eigentlich eine doppelte Ordnung zugrunde. Mainberger kombiniert nämlich die systematische Ordnung durch Sachbegriffe mit einer nicht auf den ersten Blick erkennbaren paradigmatischen durch Autorennamen. Die Argumentationsstrategien der Studie lassen sich daher am besten nachstellen, wenn man einerseits – syntagmatisch – die Struktur eines Abschnitts innerhalb der >tentativen Systematik<, andererseits – paradigmatisch – die Argumentationsbildung am Ort eines Autorennamens verfolgt. Ich wähle zu diesem Zweck den in systematischer Hinsicht zentralen zweiten Abschnitt "Klassifizieren, Definieren, Beschreiben" aus der ersten Hälfte der Studie, aus der zweiten Hälfte hingegen einen Autornamen, der immer wieder den Fluchtpunkt der Argumentationsbildung darstellt: den italienischen >Klassiker der Moderne< Carlo Emilio Gadda.

Syntagmatisch:
"II Klassifizieren, Definieren, Beschreiben"

Mainbergers >tentative Systematik< basiert auf dem Prinzip der Akkumulation. In diesem Sinne versammeln sechs von sieben Abschnittsüberschriften mindestens zwei, zweimal sogar drei Begriffe. Im zweiten Abschnitt firmieren diese Begriffe in der wörtlichen Wiederholung – d.h. in der Doppelung als über- und untergeordneter Begriff – die einzelnen Kapitel. Dieser Taxonomie liegen weder Deduktion noch Induktion zugrunde; vielmehr konstruiert Mainberger Reihen, deren Hierarchie sie als Effekt der Darstellung kalkuliert. Jeder Unterbegriff kann innerhalb der Abschnitte seinerseits in ein oder mehrere (Unter-)Unterbegriffe aufgeteilt werden und diese wiederum in (Unter-, Unter-)Unterbegriffe usw., so daß der Argumentation, wie der zweite Abschnitt zeigt, eine bis zum Fünffachen gestaffelte Gliederung zugrunde liegt.

1. EbeneII Klassifizieren, Definieren, Beschreiben
2. EbeneKlassifizieren
3. Ebene 1) Selektion und Umqualifizierung: Zu Perec / Bober, "Récits d'Ellis Island"
2) Taxonomien
4. EbeneKlassifikation als Gegenstand und Mittel von Kämpfen
Verschiedene Bezugssysteme
– Wissenschaft vs. Erfahrungswissen: Ichthyologie bei Verne und Melville
– Augenblickslust vs. Systemambition: Mozart / Da Pontes Don Giovanno und M[é]rimées Don Juan
Wider ein Klischeebild vom Klassifizieren
3) Koordination als Transgression geltender Einteilungen
Heterogene Aufzählungen als Topos des >Fremden<
Monstrosität
Kitsch
Definieren
[...]
Beschreiben

Die daraus resultierende kleinteilige Struktur markiert die eigentlichen Orte der Argumentationsbildung, die Mainberger jeweils an die Analyse eines oder mehrerer Beispiele bindet. Mit allen Konsequenzen für die Anlage der Arbeit kalkuliert, ja man möchte meinen inszeniert Mainberger dabei einen Diskurs, in dem sich Thema und Durchführung immer wieder annähern, was weder Argumentationsbildung noch -stil unberührt läßt. Mainberger handelt nicht nur vom Aufzählen, sondern zählt die Beispiele, die ihre Argumentationsbasis darstellen, aus Überzeugung auf – und zwar unermüdlich und allenthalben. Diese werden nämlich innerhalb der >tentativen Systematik< ohne historische Indizierung nach dem Prinzip der Ähnlichkeit miteinander verknüpft und bilden am Ort des Begriffes synchrone Tableaus, die ihrerseits eine Reihe und schließlich das Gesamttableau der Arbeit bilden.

Diese Strategie zeichnet auch die Architektur des zweiten Abschnittes aus: Am Argumentationsort "Klassifizieren" führt die Interferenz von Systematik und >exemplum< z.B. kreisförmig von Georges Perec zu Perec und integriert in den Kyklos ein Aborigines-Idiom, Shakespeare, Mozart, Jules Verne, Prosper Mérimée, Hermann Melville, Karl Valentin sowie die NS-Propagandistik.

Sehr ausführlich – und d.h. in diesem Buch auf vier Seiten – analysiert Mainberger zunächst unter dem Aspekt "Selektion und Umqualifizierung" die Aufzählungen in Perecs Récits d'Ellis Island. Histoires d'errance et d'espoir, um die politischen Konsequenzen der Klassifikation als Selektionsprozeß vorzuführen: "[E]ine Liste aufstellen oder eine Klasse bilden, heißt eine Grenze ziehen und also unter einem bestimmten Aspekt die einen >bejahen<, die anderen >verneinen<" (S. 37). Daß solche Listen Urteile sprechen, ja unter Umständen über Leben und Tod entscheiden, zeigt eine solche ebenso imaginäre wie reale Grenze, wie sie die Amerikaner mit Ellis Island von 1892–1924 für die (unterprivilegierten) europäischen Emigranten errichtet haben. Die Grenzüberschreitung ist nicht nur mit bürokratischen Schreib- und Transkriptionsprozessen – etwa der Namen der polnischen Emigranten –, sondern auch mit qualitativen Umwertungen verbunden: "Der neue Name im amerikanischen Paß besiegelt die Umqualifizierung" (S. 39). Aus dieser Verbindung von historischem Datum und medialer Praxis leitet Mainberger ihr poetologisches Argument ab, das Geschichte (histoire) und Diskurs des Enumerativen bei Perec verbindet:

Auch das Schreiben über Ellis Island ist eine Umqualifizierung, eine Umwandlung, hier ein Versuch, aus dem Schweigen über Millionen von Geschichten Andeutungen wenigstens auf einige wenige zu machen – und nicht zuletzt auf die eigene (S. 41).

Die politischen Implikationen sind es, welche die Aspekte "Selektion und Umqualifizierung" mit demjenigen der "Taxonomien" verbinden. Mainberger macht auf das "Prinzip der Unifizierung" aufmerksam, das etwa auf den Schildern und Plakaten im NS-Deutschland gang und gäbe war: "Für Juden und Hunde verboten" (S. 44). Der argumentative Sprung von solchen "[p]olemische[n] Klassifikationen" (S. 45), die Mainberger am Ort "Taxonomien" unter "Klassifikation als Gegenstand und Mittel von Kämpfen" auflistet, zu Vernes "Vingt mille lieues sous les mers" setzt erhebliches Abstraktionsvermögen voraus. Der Streit zwischen Conseil und Ned Land darüber, ob Fische nach Art und Gattung oder nach dem Kriterium eßbar / nicht eßbar eingeteilt werden sollten, veranschaulicht die Techniken "Verschiedene[r] Bezugssysteme" – und zwar hier die Opposition "Wissenschaft vs. Erfahrungswissen". Verne und Melville ("Moby Dick") zeigen, daß bei "Klassifikationen alles auf die Wahl der Kategorien ankommt" (S. 47).

Der nächste Sprung – er behandelt den Aspekt der "Augenblickslust vs. Systemkombination" am Ort "Verschiedene Bezugssysteme" – ordnet die weiblichen Eroberungen Don Giovannis aus Mozarts gleichnamiger Oper in die Reihe der Argumente ein. Das Beispiel zeigt, wie "Ordnungsaspekte der Aufzählung wechseln" können (S. 50) bzw. wie ihnen unter Umständen – Mainberger integriert als nächstes Beispiel Mérimées "Les Âmes du Purgatoire" – so wie den Eroberungen Don Juans sogar die "Ambition zum System" zugrunde liegen können (S. 51). Dabei macht sie darauf aufmerksam, daß das Aufzählen Figuren und Handlung bestimmt: "Die Initiative scheint von der Liste auszugehen, aber die Macht der Tabelle verbirgt – und indiziert – hier nur die der Gesellschaft" (S. 52).

Der Kreis zu Perec schließt sich, wenn Mainberger mit dem nächsten Punkt – "Wider ein Klischeebild vom Klassifizieren" – die Reihe der "Taxonomien" abschließt. Winckler, der Held in Perecs "La Vie mode d'emploi", seines Zeichens leidenschaftlicher Sammler, brandmarkt jede Einteilung als Willkür, jede Klassifikation als absurdes Unterfangen: "Wer Klassenbildung auf die Frage nach gemeinsamen Merkmalen an den Elementen reduziert, unterstellt sich einem rationalistischen Diktat" (S. 53). Doch dient Winckler der Argumentation nur als Sprungbrett, damit Mainberger im Rekurs auf Lakoff und Eco darüber nachdenken kann: "Was tun wir also, wenn wir klassifizieren, und zwar sinnvoll, d.h. so, daß es Erkenntnis bedeutet?" (S. 54) Die Beantwortung dieser Frage führt sie zur grundsätzlichen Korrelation von Klassifizieren, Denken und Sprechen, die Mainberger am Beispiel der Einteilung der Dinge qua Sprache im Dyirbal (einer australischen Aborigines-Sprache) vorführt und an Perecs selbstreflexive Abhandlung über das Ordnen "Penser / Classer" anschließt:

"Wincklers Problem entgeht der Verfasser dabei, indem er, wie in den literarischen Texten, Struktur und Komposition nach Maßgabe einer >contrainte< schafft. Die Abschnitte sind mit den 24 Buchstaben des Alphabets versehen; diese tauchen in der Reihenfolge auf, in der sie (ohne ihre Wiederholung) in der französischen Übersetzung der siebten Erzählung aus Calvinos >Se una notte d'inverno un viaggiatore< vorkommen (S. 59).

Mit dem letzten Aspekt des "Klassifizieren[s]", der "Koordination als Transgression geltender Einteilungen" integriert Mainberger das >Andere< der Aufzählung: "Klassifikationen sind Entscheidungen und als solche schaffen sie zugleich das, was sich nicht in ihre Einteilungen fügt". Das Interesse gilt dem "Abfallprodukt allen Ordnens", das "die Einteilungen als solche stört" (S. 61). Kein Wunder, daß genau dieses >Andere< jenes Verfahren provoziert, das den Abfall ausgesondert hat: "Heterogene Aufzählungen als Topos des >Fremden<". Sie finden sich im "Eintopf[]" der Hexen aus Shakespeares "Macbeth" ebenso wie in der hybriden Einheit (S. 65), die Karl Valentin im Couplet "Rezept zum komischen Salat" herstellt; sie präsentieren sich schließlich nicht nur in der "Monstrosität", sondern auch im "Kitsch". Die enge Verknüpfung dieser Aspekte des Aufzählens mit dem Thema des Essens zeigt darüber hinaus Mainbergers Verfahren der pointierten Mehrfachcodierung. Denn wie in vielen anderen Kapiteln auch korreliert sie die Argumentationsorte des Aufzählens mit anderen Diskursen – hier mit demjenigen des Essens, der sexuellen Lust und des Ekels –, Derivaten der komplexen Geschichte des ästhetischen Urteils also. 3

Die Studie argumentiert – so möchte ich die Ergebnisse der syntagmatischen Lektüre zusammenfassen – innerhalb einer topischen, >tentativen Systematik< des Klassifizierens. In synchronen Tableaus werden Reihen gebildet, deren Elemente selektiert und egalisiert werden. Das Verfahren nimmt sowohl große historische und thematische Sprünge in Kauf als auch erhebliche Vereinfachungen der rekrutierten Textbeispiele. Innerhalb der Systematik werden die einzelnen Punkte weder argumentativ abgeleitet noch aneinander angeschlossen; Mainberger setzt sie im Vertrauen auf die Evidenz des >exemplums< voraus.

Paradigmatisch:
Carlo Emilio Gadda (1893–1973)

Mit der >tentativen Systematik< konkurrieren die thematischen Schwerpunkte – z.B. wird das Thema Essen in "IV Methodisierungen der Erkenntnis und des Lebens" / "Prospektive Aufzählungen: Zeit- und Handlungspläne" / "2) Rezepte" weiterverfolgt; das Thema "I Aufzählung und Lektüre" in "VI Zeit, Erinnerung, Werden" / "Aufzählen und / oder Erzählen". Doch es sind weniger die diskursgeschichtlichen als vielmehr die autorenbezogenen Schwerpunkte, welche die syntagmatische um eine paradigmatische Ordnung der Argumentation ergänzen.

Unendlich viele Namen ruft Mainberger auf, um nur kurz bei ihnen zu verweilen. Außer bei den antiken Aufzählern Hesiod und Homer hält sie lediglich bei "Georges Perec, Hubert Fichte, Nietzsche, Roland Barthes" einmal länger inne bzw. rekrutiert ihre Textbeispiele immer wieder bei diesen Autoren. "Die >Elemente einer Poetik des Enumerativen< sind", bemerkt Mainberger, " aus Lektüren und aus dem Dialog mit einer Reihe von Autoren hervorgegangen" (S. 16). Dadurch erhält die Studie Ansätze historischer Tiefenschärfe – immerhin eine der garantierten Funktionen des Autornamens. Carlo Emilio Gadda ist in dieser Reihe nicht genannt, wird aber in der Argumentation so oft angesteuert, daß Mainberger ihm ca. 20 Seiten widmet, die einzelne Werke zusammenhängend behandeln (die namentlichen und kurzen Erwähnungen einmal nicht mitgerechnet) – ein Befund, der deshalb bemerkenswert ist, weil auf Perec nur die Hälfte, auf Fichte ein Viertel der quantitativen Aufmerksamkeit entfällt (lediglich Nietzsche erfährt eine Gadda vergleichbare Beachtung).

Gaddas experimentelle Praxis steht für die poetologischen Implikationen des Aufzählens in der emphatischen Moderne. 4 An fünf Orten der >tentativen Systematik< sucht Mainberger Gadda auf, der sowohl in Paratexten als auch in den Erzählungen selbst im Dienste einer regelrechten Poetik der Digression aufzählt. 5 Diese Poetik präpariert Mainberger aus den Schriften und Anmerkungen der Erzählungen ("III Buch- und Gedächtnistechnisches" / "Enumerative Paratexte" / "3) Listen in Anmerkungen"): "Aufzählung und Anmerkung unterbrechen beide den narrativen oder diskursiven Fluß", erläutert sie und weist darauf hin, daß Gaddas Anmerkungen "nach seiner eigenen Aussage die Handlung mit Bedeutungen und Motivationen [...] >orchestrieren<" (S. 131). In der letzten Erzählung des Zyklus< L'Adalgisa. Disegni milanesi, L'Adalgisa, deren achte Fußnote sich über mehrere Seiten erstreckt, werden "Listenprinzip" und "Stenogrammstil" selbstreflexiv (S. 132). Ein dem 19. Jahrhundert verpflichteter Autor wie Gadda imitiert und ironisiert Positivismus und Historismus:

Wissenschaftlich aufbereitet, ist die wissenschaftliche Epoche nun da, wo sie hingehört, eingeholt von ihren eigenen Errungenschaften: im historischen Museum oder einem entsprechenden Katalogwerk, und sie erscheint in dieser Präsentation als das, was sie einst hinter sich ließ: als Sammlung von Kuriositäten und Exotica (S. 133).

Das Profil der modernen Poetik der Digression schärft Mainberger in der Analyse von Quando il Girolamo ha smesso..., der zweiten Erzählung von L'Adalgisa. Disegni milanesi ("VI Zeit, Erinnerung, Werden" / "Aufzählen und / oder Erzählen" / "4) Suada, Redemaschine, Geschwätz"). Denn in dieser Erzählung verwendet Gadda die Aufzählung nicht nur in den Fußnoten, sondern auch in einem Erzählen, das – "stets vom >flatus vocis< bedroht" (S. 248) – zeitliche und kausale Strukturen suspendiert. "Die ganze Suada exemplifiziert derart eine Rhetorik der Alogik" (S. 247). Sie steht im Dienst hochkomplexer Zusammenhänge in einer Welt, deren Darstellung sich der rationalistischen Vereinfachung entzieht. "Der digressive Stil trägt dem Rechnung," weiß Mainberger und schließt auf das Gesamtwerk: "und nicht zuletzt ist die Fragmentarität aller seiner Romane eine Folge davon" (S. 248).

Daß Gadda daher als "Rabelais-Schüler" tituliert wird (S. 266), versieht die Poetik der Digression mit einem intertextuellen Index ("VI Zeit, Erinnerung, Werden" / "Genealogien" / "1) Genealogien in modernen Romanen"). So schleust Gadda nicht nur Rabelais< Genealogien in seine Texte ein, sondern nutzt auch die digressiv-aufzählende Genealogie in "Un >concerto< di centoventi professori", der achten Erzählung von L'Adalgisa. Disegni milanesi, in grotesker und komischer Absicht.

Auf der Ebene der Sprache erzeugen die Auflösung und Vermischung der Kategorien – vom Makkaronisieren über die nach wechselnden Regeln assoziierten Wortreihungen bis zu den nur noch spielenden Klangrekurrenzen – Komik und immer wieder wuchernde Vielbezüglichkeit" (S. 269).

Das >Andere< der Aufzählung bildet dabei das >Andere< der Genealogie ab, deren lineare Funktion ein "Gaddascher >groviglio<" überlagert: "Dessen Verzweigungen und Verflechtungen hintertreiben ganz offensichtlich jede Möglichkeit rationaler Kontrolle und Ordnung". "I ritagli di tempo", die sechste Erzählung von L'Adalgisa. Disegni milanesi, verbindet mit der Kritik an der Genealogie diejenige an der modernen Administration, deren Bürokratie in der Konfrontation mit "exuberanter, archaisch-anarchischer Fruchtbarkeit" versagt. Die Beispiele erlauben es Mainberger wiederum in einer poetologischen Wendung, die Geschichte (histoire) auf den Diskurs abzubilden: "Und das entspricht auch Gaddas schriftstellerischer Produktion: Die gleichen Personen erhalten bei ihm in den verschiedenen Stadien der Arbeit verschiedene Namen, aber es kommt auch vor, daß zwei Texte, die nichts miteinander zu tun haben, den gleichen Titel tragen. Die Zugehörigkeit der Namen zu ihren Trägern ist instabil wie deren Identität, und das aus einer Hypertrophie der Verknüpfung" (S. 270).

Die abschließende Engführung der Poetik der Digression mit der Tautologie greift noch einmal "Un >concerto< di centoventi professori" auf ("VI Zeit, Erinnerung, Werden" / "Gedenken: Aufzählung als monumentale Form" / "1) Helden und Heldinnen"). Daß "genealogische[] Zusammenhänge durch Wiederholung und übermäßige Beziehungen verwirrend und grotesk wirken", zeichnet nämlich jene die Chronik imitierenden Familiennamen aus, "so auch das, was von einem epischen Gedenken übrig sein mag" (S. 277). Mainberger beobachtet, daß "[a]lle zum Einsatz kommenden rhetorischen Verfahren – Multiplikation, Wiederhholung, Variation – [...] hier im Dienst der Amplifikation" stehen (S. 278). Im Hinblick auf Gaddas Gesamtwerk verklammern die verschiedenen Formen und Funktionen der Aufzählung tatsächlich sehr heterogene Elemente der Poetik der Digression ("VII Diktionen des Passionellen und Rituellen" / "3) Loben und Schimpfen als Kunst des Aufzählens"), so daß Mainberger schließlich noch zeigen kann, wie die beiden Genre des Lobes und der Satire, im Modus des Aufzählens vorgetragen, in Quando il Girolamo ha smesso... in eins fallen: "Die karikierende Beschreibung hat oft genug auch etwas von einer Hommage" (S. 327).

Die Multifunktionalität des Aufzählens in Gaddas Poetik der Digression, so möchte ich die Ergebnisse der paradigmatischen Lektüre zusammenfassen, lassen den Ertrag einer differenzierten, poetologisch, rhetorisch und erkenntnistheoretisch fundierten Analyse erahnen. Daß Mainberger ihn argumentativ nicht erwirtschaften kann – und wohl auch gar nicht will –, liegt an der additiven Kürze der Darstellung.

Pessimistische Taxonomie

Mit der Seiten- und in gewisser Weise auch Erbsenzählerei – eine Seite Ichthyologie, zwanzig Seiten Gadda – steht die entscheidende Frage zur Diskussion: Welche Ordnung gibt der "Kunst des Aufzählens" jenen argumentativen Halt, den die wissenschaftsrhetorischen Spielregeln verlangen: die >tentative systematische< oder die rudimentäre paradigmatische?

Die Ausführungen in diesem Buch sind keine Geschichte des Aufzählens. Ich studiere dies nicht am Faden der Chronologie und versuche nicht, eine Geschichte von Entwicklung, Niedergang, Verdrängung und Wiederkehr o.ä. zu erzählen (S. 13f.).

Was Mainberger ihrer Arbeit selbstbewußt voranstellt, verweist auf deren grundlegendes Problem: den Verzicht auf eine historische Profilierung oder Indizierung. "Eine Untersuchung zu Aufzählungen >von den Anfängen bis in die Gegenwart<" (S. 14), da hat die Autorin Recht, ist weder der Sache angemessen noch in sonstiger Hinsicht wünschenswert.

Der Königsweg liegt nahe: Wer den historischen Weg ablehnt, dem bleibt nur der systematische. Bei der scharfen Ablehnung des traditionellen, geistesgeschichtlichen Weges erstaunt es freilich, wenn auch die systematische Profilierung des Themas zurückgewiesen wird. Mainberger schränkt dabei die Möglichkeiten einer Systematik der Aufzählung in bedenkenswerter Weise ein. Da gibt es auf der einen Seite die "systematische und vollständige Typologie" (S. 15), auf der anderen die Einschränkung auf partikulare Interessen: "Ähnliche Probleme ergeben sich auch, wenn man sich, anders als ich es hier tue, auf einen einzelnen Aspekt des Phänomens beschränkt, also die Frage nach den Aufzählungen thematisch eingrenzt".

Mit der Entscheidung zwischen Geschichte und Systematik wirft Mainberger alle "schwierige[n] Fragen" auf (S. 14), die am Anfang eines jeden größeren Forschungsvorhabens stehen und die – da hilft alles nichts – spätestens am Ende eines jeden größeren Forschungsvorhabens gelöst sein müssen. Mit ihrer Beantwortung hat sie sich bewußt gegen solche Lösungsversuche entschieden, die eine historisch indizierte Systematik der Aufzählung oder eine systematisch indizierte Geschichte der Aufzählung darstellen würden. "Elemente zu einer Poetik des Enumerativen" tituliert Mainberger den gewählten dritten Weg, dessen Probleme programmiert sind:

Ich setze daher immer wieder neu und von verschiedenen Seiten her an. Die einzelnen Kapitel sind keine Abhandlungen, sondern beleuchten den jeweiligen Problemkreis eher schlaglichtartig oder suchen ihn von Texten aus zu erhellen. Sie sind relativ eigenständig, und nicht alle müssen in der hier vorliegenden Reihenfolge gelesen werden. Die verschiedenen Phänomene überschneiden sich zuweilen auch; dann geht ein Thema im folgenden oder in einem anderen Abschnitt weiter. Die Überschriften haben ebenfalls weniger etikettierenden als hinweisenden Charakter (S. 15 f.).

Ihren Lösungsversuch versteht Mainberger als "Antwort auf die Frage, warum es überhaupt so viele davon [von den Aufzählungen, F.B.] gibt, und etwas von diesem außerordentlichen Reichtum soll hier zur Anschauung kommen [...]; denn jener Reichtum liegt in dem, was Aufzählungen alles tun und wie sie das jeweils tun, und er zeigt sich in konkreten Situationen" (S. 15). Doch wenn Mainberger derart aufs Ganze geht, dann muß sie dieses Ganze auch argumentativ bewältigen. Denn das "Feld ist nahezu unübersehbar" (S. 62), und seine Bearbeitung wirft ungleich größere Probleme auf als sie skrupulösere Lösungsversuche, etwa die Korrelation von Systematik und Diskursgeschichte der Aufzählung in der europäischen Moderne (möglicherweise mit den systematisch indizierten Schwerpunkten Nietzsche – Perec – Gadda), bereithalten würden.

Der Gestus des Tentativen, mit dem Mainberger die eigene Taxonomie immer wieder zur Disposition stellt, verhindert nicht bloß eine autoritäre Typologie; er verhindert jegliche Systematik, die als Integral des Materials dienen könnte, damit es nicht lediglich Funktionen der literarischen Aufzählung auflistet – irgendwo, irgendwann, irgendwie. Bedenkenswerterweise geht dieser Gestus mit der entschiedenen Aufwertung der Autorin einher, die nun qua persona die integrativen Funktionen einer Systematik garantieren will – bzw. sie vice versa als Funktion der Lektüre an den Leser delegiert. Dadurch entsteht der Eindruck, als nähere sich die Studie den Techniken ihres literarischen Gegenstandes an: "Der Leser ist mit tentativen Praktiken konfrontiert und muß sich seinen eigenen Reim auf das Vorgelegte machen; das Fragen nach Denken und Ordnen geht an ihn selbst über" (S. 61). Die Ähnlichkeiten von Thema und Durchführung fallen nicht zuletzt auch dort auf, wo Mainberger erklärt: "Das Netz der wechselseitigen Beziehungen zwischen den Problemen und Aspekten versuchen die Querverweise anzudeuten; das Register soll darüber hinaus andere Lektüren ermöglichen, als das Inhaltsverzeichnis und die Abfolge der Kapitel sie bieten" (S. 16). Denn fast wortwörtlich löst Mainberger damit ein, was sie im Abschnitt als Funktion des Registers bestimmt hat (>"III Buch- und Gedächtnistechnisches" / "Enumerative Paratexte" / "4) Inhaltsverzeichnisse, Register"<):

Der Leser zumal ist in gewissen Grenzen frei, nicht nur anhand des Registers auszuwählen, was ihn interessiert und welche vorhandenen Verknüpfungen er nachvollziehen will, sondern möglicherweise auch andere als in dem jeweiligen Werk vorgesehene Verbindungen herzustellen (S. 136).

Mit der "Kunst des Aufzählens" hat sich Mainberger im Hinblick auf die Organisation und Darstellung der "Elemente zu einer Poetik des Enumerativen" offenbar für die Performanz jenes dritten Typus der von ihr beschriebenen Reihenbildung entschieden. Neben der prinzipiell endlichen und der prinzipiell unendlichen Reihe sind die Elemente dieses dritten Typus "zwar nicht prinzipiell unendlich, aber >empirisch kaum zu zählen<" (S. 10): "Vollständig aufzuzählen und so zu einem abgeschlossenen, befriedigenden Totum zu gelangen oder aber aufzählend in ein (relatives) Unendliches und Offenes zu treiben [,] sind zwei grundsätzliche Möglichkeiten des Enumerativen" (S. 11). Darin, daß Mainberger diese Möglichkeiten voll auszuschöpfen versucht, liegt das grundsätzliche Problem der Studie, deren Strukturen zu schwach markiert sind, als daß man ihnen den hohen Anspruch der Dialektik von Setzung und Ent-Setzung zumuten möchte.


Dr. Frauke Berndt
Johann Wolfgang Goethe-Universität
Institut für Deutsche Sprache und Literatur II
Grüneburgplatz 1
D-60629 Frankfurt am Main
Homepage

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 22.08.2003
IASLonline

IASLonline ISSN 1612-0442
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Martin Stingelin. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück | Partner ]

Anmerkungen

1 Kursivierte Fachbegriffe und fremdsprachliche Begriffe sowie Hervorhebungen im Original sind in einfache, kursivierte Titel in doppelten Anführungszeichen transkribiert.   zurück

2 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Grammatik. Hg. von Rush Rhees. Suhrkamp: Frankfurt / M. 1977.   zurück

3 Vgl. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Suhrkamp: Frankfurt / M. 1999.   zurück

4 Zum Begriff der emphatischen Moderne vgl. Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Niemeyer: Tübingen 1994.   zurück

5 Vgl. Carlo Emilio Gadda: Opera. Hg. von Dante Isella. 5 Bde. Garzanti: Mailand 1988 ff.   zurück