Beßlich über Mehring: Thomas Mann als Philosoph

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Barbara Beßlich

Thomas Mann als Philosoph

  • Reinhard Mehring: Thomas Mann. Künstler und Philosoph. München: Wilhelm Fink 2001. 233 S. Kart. € 30,60.
    ISBN 3-770-53589-8.


Wenn das Thema "Thomas Mann und die Philosophie" zur Sprache kommt, so fallen immer und als erstes die Namen Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche. Es scheint fast selbstverständlich, daß es sich hierbei um ein rezeptionsgeschichtliches Phänomen handelt, das es quellenkritisch oder mit dem Mittel der intertextuellen Analyse zu behandeln gilt. 1 Man nimmt an, daß zur Untersuchung ansteht, wer den Eklektiker Thomas Mann in seinem Denken wie beeinflußt hat. Geht man über das omnipräsente Dreigestirn Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Richard Wagner hinaus, so fallen für die 1920er Jahre gemeinhin Namen wie Johann Jakob Bachofen, Alfred Baeumler und Oswald Spengler, für den späten Thomas Mann wird gern Theodor W. Adorno in die Pflicht genommen. Am Rande tauchen dann noch Namen auf wie Søren Kierkegaard oder Max Weber.

Auf die Idee, Thomas Mann als originären Philosophen zu betrachten, kamen bisher wenige. Reinhard Mehring unternimmt nun diesen Versuch in seiner Habilitationsschrift, die im Wintersemester 1999 / 2000 vom Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde und in überarbeiteter Fassung gedruckt vorliegt. Ein handliches Buch von wohltuender Kürze.

Gedichtete Philosophie

Mehring hat keinerlei quellenkritische oder intertextuelle Absichten und will seine Arbeit weder als literarhistorisches noch als philosophiegeschichtliches Unternehmen verstanden wissen. Thomas Manns Denken wird nicht zur Philosophie seiner Zeit ins Verhältnis gesetzt, sondern soll unter Verzicht solcher Kontextualisierungen "immanent rekonstruiert und nicht weiter in die Geschichte politischer Intellektueller eingeordnet" (S.15) werden.

Mehring geht es um nichts weniger als um den "Versuch einer politisch-philosophischen Gesamtdeutung" (S.12) von Thomas Manns Werk. Er begreift Manns Dichtung insgesamt als eine "politische Philosophie im Sinne der Frage nach den humanen Möglichkeiten und den historisch-politischen Bedingungen eines moralisch verantwortlichen und gemeinschaftlich guten Lebens" (S.12). Er zielt auf das Werk in toto, auf die nicht-fiktionalen Texte ebenso wie auf die Romane und Novellen, das Fiorenza-Drama und die verstreute Lyrik. All dies liest Mehring als philosophische Texte.

Zentral ist für die Fragestellung der Begriff der "Lebensführung", der daran erinnert, wie Mehrings Doktorvater, Wilhelm Hennis, Max Webers Werk mit Hilfe dieses Begriffs neu aufschlüsselte. 2 Mehrings Studie ist dreigeteilt; der Aufbau entspricht seiner gestaffelten These. Er geht davon aus,

daß Mann seine Lebensführungsproblematik in seinen Novellen und kleineren Romanen mit der ethisch-anthropologischen Frage nach der Möglichkeit gelingenden Lebens schrittweise erkundet, diese Problemperspektive in seinen großen Romanen in die Frage nach historisch-politischen Rahmenbedingungen zurückstellt und dann in seiner politischen Essayistik engagierte Konsequenzen zieht. (S.19)

Diese Dreiteilung wird als ein Aufstieg begriffen, an deren Anfang eine Frage und an deren Ende eine Antwort steht. Der allgemeinen ethischen Frage nach dem guten und richtigen Leben folgt eine konkrete politische Antwort. Für Mehring handelt es sich dabei um eine "Bildungsgeschichte philosophischer Selbstverantwortung eines sich problematischen Individuums zum politischen Menschen" (S.15).

Novellistische Lebenskunst

In seinem ersten großen Teil "Künstlertum und Lebenskunst" beschäftigt sich Mehring chronologisch mit den Novellen und, wie er es nennt, "kleineren Romanen" Thomas Manns. Königliche Hoheit, Lotte in Weimar und Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull sind also mit von der Partie.

Die Novellensammlung Der kleine Herr Friedemann von 1896 interpretiert Mehring unter der Frage nach dem Problem der Daseinsstabilisierung. Den Erzählungen sei ein Thema gemeinsam, nämlich die "Unmöglichkeit bloßen Dahinlebens und die Notwendigkeit einer willentlich bestimmten Lebensführung unter einer Idee vom Glück; sie [i.e. die Novellen] erzählen von der Notwendigkeit einer Idee gelingenden Lebens" (S.25).

Thomas Manns zweite Novellensammlung Tristan (1903) wird in derselben Manier, Erzählung für Erzählung, durchgegangen, nur leider fehlt die titelgebende Novelle in der Interpretation: Tristan wird lediglich mit zwei Sätzen gestreift (S.27). Dafür wendet sich Mehring um so intensiver Tonio Kröger zu und deutet die Erzählung als Reaktion auf die in der ersten Novellensammlung aufgeworfene Frage nach einer notwendigen Lebensführungsidee. Das Künstlertum werde hier als eine mögliche Lösung und Lebensform vorgeschlagen. – Die Novellensammlung Das Wunderkind (1914) führe unterschiedliche Typen der Humanität vor. In seinen Künstlernovellen entwickelt Thomas Mann "diverse Kategorien gelingenden Lebens und gelangt zur Auffassung des Existenzvollzugs als Identitätsvollzugs. Dies führt ihn zur Problematisierung des Selbstseins im Mitsein" (S.71), man könnte auch sagen, die Frage nach der Vereinbarkeit von persönlichem Glück des Künstlers und der gesellschaftlichen Wohlfahrt rückt ins Zentrum des Interesses.

Sehr erhellend schildert Mehring den Ersten Weltkrieg nicht als Grund einer künstlerischen Krise, sondern eher als Katalysator eines Neuanfangs. Der Krieg ist für Thomas Mann gleichzeitig ein Anlaß zur Selbstvergewisserung und auch ein Weg aus der künstlerischen Krise. Vieles von dieser poetologischen Funktionalisierung des Kriegs findet sich in den Betrachtungen eines Unpolitischen, aber auch schon in den Gedanken im Kriege.

In diesem Teil, der sich nach der Voraussage der Einleitung mit den "Novellen und kleineren Romanen" beschäftigen sollte, steht auch ein Abschnitt zu Fiorenza, dem Savonarola-Drama von Thomas Mann von 1905, dem nie ein wirklicher Erfolg beschert wurde. Hier, so Mehring, entwickelt Mann ein Konzept von Theatralizität und Repräsentation, das er dann in Königlicher Hoheit fortführt. Hier gehe es um eine "Entscheidung zwischen Kunst und Religion als alternative Gestaltungsformen des – unter dem Gesichtspunkt seines Wertes für das Leben gedachten – Willens zur Macht" (S.37).

Thomas Manns Fürsten-Roman Königliche Hoheit wird – so einleuchtend wie naheliegend und in der Thomas Mann-Forschung altbewährt – mit dem Begriff der "Repräsentation" interpretiert. Der Felix Krull, wegen seiner frühen Entstehungsphase hier eingeschoben, wird als "Paradigma glückenden Lebens" vorgeführt, wobei in satirischer Verfremdung bereits die Spannung von individueller Glückseligkeit und gesellschaftlicher Ordnung zum Thema werde. Damit habe Thomas Mann einen "ethischen Zugang und eine philosophische Perspektive auf anthropologische Befunde" (S.45) genommen:

Manns erste ethisch-anthropologische Aussage ist die These von der Repräsentation als Vollzugsform der Lebensführung. Mann entdeckt damit so etwas wie die Exzentrizität und "exzentrische Positionalität" (H. Plessner) des Menschen und beschreibt sie in Polaritäten wie Intimität und Öffentlichkeit, Wachheit und Schlaf, Jugend und Alter. In seinem weiteren Werk hält er diese Thesen zum Identitätsvollzug fest. (S. 45)

Die Bedeutung der Mitwelt für das persönliche Glück rücke von nun an mehr in das Zentrum des Interesses. Diese Mitwelt sei zunächst familial im Hexameter-Epos vom Gesang vom Kindchen (1919) und in der Erzählung Unordnung und frühes Leid (1925), öffne sich aber in Mario und der Zauberer (1930) auf eine zeitgeschichtliche Deutungsebene hin.

Der Goethe-Roman Lotte in Weimar (1939) gestaltet nicht mehr das Leiden des Künstlers an sich selbst, sondern das Leiden der Mitwelt an der Größe des Künstlers. Bei der Wiederaufnahme des Felix Krull betont Mehring das Unzeitgemäße des Themas für den späten Thomas Mann, der mit Krulls "Pan-Erotik und Juwelendiebstahl" sich wieder entfernt von den großen politischen Fragen, die im Doktor Faustus zur Debatte standen.

Politik im Roman

Erst im großen Roman, so Mehrings These, wird die Frage nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Lebensführung politisch-historisch konkret bei Thomas Mann. In seinem zweiten Teil stehen mithin die Buddenbrooks, Der Zauberberg, die Josephs-Romane und der Doktor Faustus auf dem interpretatorischen Programm. Sie alle werden als "zeithermeneutische Romane" begriffen: "Damit sind Romane gemeint, die National- und Zeitgeschichte unter der utopischen Perspektive einer Bildungs- bzw. Humanitätsidee auf politische Gründe zurückführen"(S. 82). Mehring versucht nachzuweisen, daß Thomas Mann die deutsche "Nationalgeschichte unter der Frage nach den Chancen gelingenden Lebens dichterisch gestaltet" (S.122).

In den Buddenbrooks wirkt eine solche politische Interpretation eher bemüht, denn die 1848er Revolution und die Reichsgründung 1870 / 71 sind zwar im Roman präsent, stehen aber zu dem "Verfall einer Familie" doch nur in sehr indirekter Beziehung. Auch wenn der alte Johann Buddenbrook Napoleon bewundert und sich für die Juli-Monarchie in Frankreich begeistert, und auch wenn Thomas Buddenbrook späterhin Senator wird, begleiten diese politischen Meinungen und Ämter lediglich eine Handlung, die mehr durch europäische Décadence-Konzepte und durch Manns Schopenhauer-Lektüre bestimmt ist als durch konkrete politische Vorstellungen oder gar nationalstaatliche Utopien. Hier erweist sich Mehrings Separierung des Textkorpus nach Gattungen eher als hinderlich: Die Buddenbrooks hätten stimmiger im ersten Teil mit Begriffen wie >Daseinsstabilisierung<, >Repräsentation< und >Künstlertum< interpretiert werden können als mit einem Politisierungs-Konzept.

Für den Zauberberg ist Mehrings Ansatz wieder äußerst ertragreich. Der Roman expliziere das Problem der Individuation in der pädagogischen Provinz des Sanatoriums. Hans Castorp wird hier zum Vorkämpfer einer neuen Konzeption vom Menschen. Sein "Schneetraum" steht dabei im Mittelpunkt der Interpretation. Die Möglichkeit der Bildung in konfuser Zeit stehe zur Diskussion: "Gute Politik wäre eine Gegenmacht zur Konfusion der Zeit" (S.99). Mehring betont dabei das Heraustreten aus dem rein familiären Kreis der Buddenbrooks in die politischen Gefilde des Zauberbergs, die in den Diskussionen zwischen Naphta und Settembrini die "große Konfusion" der Weltanschauungsscharmützel der Weimarer Republik spiegelten. Allein – von diesen erfährt man wenig, denn, so Mehring, Thomas Mann "fragt nicht ernsthaft nach dem analytischen und konstruktiven Gehalt dieser politischen Ideen, sondern deutet sie agonal als >Gedanken im Kriege<" (S.95). Die Dichotomie als Formprinzip ist für Mehring interessanter als deren inhaltliche Besetzung.

Der Doktor Faustus präsentiert die "große Konfusion" als Klage. Führte der Zauberberg die deutsche Nationalgeschichte bis zum Ersten Weltkrieg, so erzählt der Doktor Faustus von der Zeit bis 1945. Dabei halte Thomas Mann an seiner politisch-philosophischen Frage nach den Chancen gelingender Individuation fest. Die religiöse Deutung der Geschichte und die Diabolisierung des Nationalsozialismus im Roman wird von Mehring beeindruckend analysiert. Eingängig erläutert Mehring, wie sich die Geistesgeschichte zur Seelengeschichte Deutschlands verwandelt. Die Einordnung Adrian Leverkühns als konservativer Revolutionär bleibt dem gegenüber allerdings etwas blaß. Das liegt am werkimmanenten Programm Mehrings, das Kontextualisierungen des Werks ausschließt. Thomas Manns Schilderung der deutschen Geschichte verortet Mehring als

nationalgeschichtliche Sonderwegsthese. In ihrer starken Version einer folgerechten Entwicklung von Luther zu Hitler historisch fragwürdig, ist sie doch appellativ-politisch akzeptabel. Denn der "Durchbruch zur Welt" ist ein Gebot jeder politischen Ethik und Vernunft. Mann macht die deutsche Nation für Hitler verantwortlich, geht auf die Anfänge des deutschen Sonderwegs zurück und allegorisiert die religiös überspannte "Welteinsamkeit" durch Leverkühns Teufelspakt. (S.123)

Joseph und seine Brüder wird, das chronologische Vorgehen unterbrechend, nach dem Doktor Faustus als "Roman der Antwort" begriffen.

Die Fortschrittslinie des Romans zielt auf den >politisch-theologischen< Zusammenhang von religiöser Universalisierung und Individualisierung und politischer Zentralisierung und Pazifierung ab. (S.151)

Im Josephs-Roman präsentiere Thomas Mann eine "Utopie von der Politik als Medium humaner Selbstbestimmung" (S.152). Aber es ist eine Rückprojektion in Mythos und Religion, keine Auseinandersetzung mit der Gegenwart wie im Zauberberg oder den Buddenbrooks. Die Einsicht in diese Diskrepanz "zwischen moralisch-politischen Forderungen und den Verhältnissen führt ihn [i.e. Thomas Mann] ins politische Engagement" (S.152).

Essayistisches Engagement

Die zivilisationskritischen und kulturkriegerischen Essays Thomas Manns aus dem Ersten Weltkrieg handelt Mehring eher knapp ab, um sich dann ausführlich den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) zu widmen:

In diesem ausufernden, arabesken Großessay, den Thomas Mann selbst ein "Bleibsel" der Kriegsjahre nannte (auch einen "Erguß oder ein Memorandum, ein Inventar, ein Diarium oder eine Chronik"), sieht Mehring ein Amalgam von persönlichem und nationalem Ethos. Mehring betont den persönlichen Hintergrund, den Bruderzwist mit Heinrich Mann, der in der antonomastischen Gestalt des "Zivilisationsliteraten" das Feindbild des Buchs illustriert. Zwar polemisiere Thomas Mann gegen den französischen Katholizismus und rühme den Protestantismus als spezifisch deutsch, aber Mehring akzentuiert, "daß Mann das >nationale Ethos< nicht mit dem Protestantismus gleichsetzt. Es geht ihm nicht um die Selbstbehauptung des Protestantismus, sondern um die antagonistische Entwicklung der europäischen Humanität" (S.163).

Thomas Manns Absage an einen staatsbezogenen Politikbegriff in den Betrachtungen eines Unpolitischen beurteilt Mehring als die Substitution einer zu engen "Definition der Politik (als >Lehre vom Staat<) durch eine zu weite (als >Gegenteil von Ästhetizismus<)" (S.170). Das antidemokratische Bekenntnis Thomas Manns in den Betrachtungen arbeitet Mehring urteilssicher und behutsam heraus, und er unterscheidet sich dabei wohltuend von anderen Analysen der Betrachtungen, bei denen das bundesrepublikanisch politisch-korrekte Verdikt über den >reaktionären Monarchisten< Thomas Mann oft die Bestandsaufnahme überdeckt. Die Betrachtungen entwickeln kein konkret politisches Programm, und diese Vagheit und Unbestimmtheit deutet Mehring stimmig als potentielle "Offenheit gegenüber den geschichtlichen Entwicklungen" (S.180).

Thomas Manns Unterscheidung zwischen Staat und Nation und seine primäre Sorge um die Nation, und nicht um den Staat, ermöglicht ihm dann 1922 ein vernunftrepublikanisches Bekenntnis zur neuen Republik der alten Nation. Die Bewahrung nationaler Identität jenseits staatlicher Form bildet für Mehring das Ziel und Zentrum von Thomas Manns politischer Publizistik. Dazu gesellt sich das Plädoyer für Deutschland als europäischer Mittler zwischen Ost und West. Erst 1930 wird für Thomas Mann aus der Republik mehr als nur eine Form der Nation. Mit neuer Verve verteidigt Thomas Mann die "soziale Republik" als Integrationsmöglichkeit gegen die zur Massenpartei aufgestiegene NSDAP. Seine Befürwortung des "stabilisierenden und pazifistischen Ausgleichs führt ihn an die Seite der Sozialdemokratie" (S.194).

Mehring analysiert, wie Thomas Mann den Begriff der >Revolution< auf die >Machtergreifung< der Nationalsozialisten anwendet und wie er nach einem weltanschaulichen Extrakt des Nationalsozialismus fahndet. Den Willen zum Krieg wertet Thomas Mann dabei als entscheidendes Element. Thomas Manns Analyse des Nationalsozialismus kategorisiert Mehring zugleich als wichtige Etappe in der zunehmenden Politisierung und Moralisierung des Werks Thomas Manns. Mit der Etablierung des Nationalsozialismus und der Frontstellung Thomas Manns gegen ihn schärft sich das politische Vokabular, werden die Kategorien philosophisch eindeutiger und neu bewertet: Thomas Mann entdeckt "den moralischen Sinn politischer Grundbegriffe neu, begreift die friedliche Entwicklung der >Menschenwürde< als Sinnprinzip der Demokratie, fordert die Selbstbehauptung als >militante Demokratie< und gelangt zur Affirmation der Politik als >Teil des humanen Problems<" (S.223). Im Zentrum von Thomas Manns politischer Philosophie sieht Mehring

die moralphilosophische Legitimierung guter Politik, die Unterscheidung des Politikbegriffs vom Staatsbegriff, die >etatistische< Option für die Regierbarkeit, die Affirmation der Republik als legitime Staatsform, die strategische Unterstützung der Sozialdemokratie als Staatspartei Weimars, die moralisch-politische Option gegen den Nationalsozialismus und für die Emigration, die Einsicht in die Kriegstreiberei des Nationalsozialismus und die Unvermeidlichkeit eines >gerechten Krieges<, die >kulturellen< (soziomoralischen) Voraussetzungen politischer Verfassung, die Forderung nach einer supranationalen europäischen Verfassungsgestaltung, die Ablehnung des >Kalten Krieges< als Hindernis, die Zurückweisung der endgeschichtlichen Betrachtung der Nachkriegslage, das Vertrauen auf die Menschen als moralisch-politische Subjekte. (S.223)

Ein neuer Klassiker des politischen Denkens?

All dies weist Thomas Mann für Mehring mitnichten als politischen Naivling und im Staatsgeschäft "unwissenden Magier" aus, sondern belegt im Gegenteil ein so feines politisches Sensorium, daß Thomas Mann als politischer Philosoph des 20. Jahrhunderts eine herausragende Stellung einnehme:

Kaum ein anderer >Klassiker< des jüngsten politischen Denkens akzeptiert derart konsequent den Teilnahmestandpunkt politischen Denkens, bietet derart ausgreifende philosophische Begründungen des Verhältnisses von Moral und Politik, hat einen ähnlich tragenden Politikbegriff, exponiert seine Urteile annähernd so wirksam, entwickelt derart vertretbare Positionen. (S.223)

Um diese These überprüfen zu können, hätte sich ein skizzenhafter Vergleich mit anderen Klassikern des politischen Denkens im 20. Jahrhundert angeboten. Schade, daß Mehring darauf verzichtet. Gleichwohl erweist sich dieser letzte große Teil von Mehrings Analyse als der gehaltvollste. Die Interpretation von Thomas Manns zeitkritischer Essayistik bildet das Glanzstück in Mehrings Werk. Hier beeindruckt Mehring mit der Sicherheit und Differenziertheit seines Urteils. Der explizit politische Thomas Mann und die Interpretation nicht-fiktionaler Texte scheinen dem Autor am besten zu liegen.

Vielleicht hängt das auch mit den methodischen Problemen zusammen, die umgekehrt in den beiden ersten Teilen mit der philosophischen Interpretation literarisch-fiktionaler Texte virulent werden. Der Deutungsüberschuß eines poetischen Textes macht seine Qualität aus. Die semantische Mehrdeutigkeit eines wissenschaftlichen Textes hingegen wird als Mangel an Genauigkeit gewertet. Eindeutigkeit ist in wissenschaftlicher Hinsicht ein Gewinn, in literarischer nur bedingt. Insofern Philosophie als Wissenschaft betrieben wird, kann es bei der philosophischen Auswertung literarischer Texte zu interpretatorischen Problemen kommen. Was poetisch offen bleiben kann, verlangt in der philosophischen Auswertung nach Festlegung und Eindeutigkeit. Ob aber beispielsweise nun Naphta, Settembrini, Peeperkorn oder Hans Castorp im Zauberberg philosophisch "Recht haben", läßt der Text sehr bewußt in der Schwebe. Mehring spricht diese interpretatorischen Nöte in seinem bündigen Ausblick über das Verhältnis von "Künstlerphilosoph und Philosophenkönig" (S.224–230) an. Und was er sagt, mag als Anreiz dienen, an diesen methodischen Kniffligkeiten weiter zu denken.

Mehrings Habilitation präsentiert einen neuen Blick auf Thomas Mann, der vor allem für die politische Essayistik wichtige Ergebnisse liefert. Thomas Manns Denken wird von den unbestreitbaren Abhängigkeiten zu anderen Philosophen freigelegt, und als Solitär betrachtet gewinnt das Werk in der Analyse Mehrings eine eigene philosophische Leuchtkraft.


Dr. Barbara Beßlich
Albert-Ludwigs-Universität
Deutsches Seminar II
Werthmannplatz
D-79085 Freiburg i. Br.

Ins Netz gestellt am 12.03.2002
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Anmerkungen

1Vgl. etwa den Eintrag im Thomas-Mann-Handbuch von Børge Kristiansen: Thomas Mann und die Philosophie. In: Helmut Koopmann (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3., aktualisierte Auflage, Stuttgart: Alfred Kröner 2001, S.259–283.   zurück

2 Vgl. Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung. Tübingen: Mohr 1987.   zurück