- Stephen D. Dowden / Meike G. Werner (Hgg.): German Literature, Jewish Critics. The Brandeis Symposion
(Studies in German Literature, Linguistics, and Culture) Rochester, New York: Camden House 2002.
321 S. EUR (D) 70,-.
ISBN 1-57113-158-2.
In den hier abgedruckten Vorträgen und Diskussionen des
Brandeis Symposions von 1997 geht es um einen besonderen Aspekt der
germanistischen Fachgeschichte: um das Verhältnis von
"deutscher" Literatur und "jüdischer"
Literaturwissenschaft, wie es in den 1930er Jahren vor allem in den USA
ausgeprägt wurde und heute, wenn auch in anderer Weise, immer noch hohe
Relevanz besitzt. An sich ist das Thema nicht neu, aber die Herangehensweise
ist es, die unter den diskursiven Bedingungen von 1997 die Geschichte der
deutschen Wissenschaftsemigration aus Hitler-Deutschland anders
perspektivieren und erschließen kann. Das hat meines Erachtens zwei
Gründe:
blickt die Historiographie der Germanistik / German
Studies Ende der 1990er Jahre auf eine längere Forschungs-Geschichte
zurück und vermag sich, selbst wenn die Phase der Materialsicherung noch
nicht völlig abgeschlossen ist, dem Wagnis der Selbstreflexion zu
stellen. So entsteht jenes produktive Gemisch kultursoziologischer,
-psychologischer, politischer, biographischer und
institutionengeschichtlicher Fragen, dem sich das Brandeis Symposion widmet:
In den Blick rückt der Wissenschaftler, der nicht abzuspalten ist von
der Bürde seiner Herkunft und Identitätsproblematik; in den Blick
rückt die Universität als Schauplatz der internationalen
Machtpolitik, der großen Wissenschaftsmigrationen des 20. Jahrhunderts
und der >identity-politics< im Hintergrund von Stellen-Besetzungen; und
nicht zuletzt geht es um die Wissenschaft als keineswegs neutrales Ensemble
und Organ von Erkenntnissen, sondern als historisch geprägtes und
seinerseits politikmächtiges, von den Nöten und Illusionen derer,
die sie betreiben, gezeichnetes Instrument.
Die beiden Herausgeber Meike Werner und Steve Dowden haben diese
verschiedenen Aspekte in ihrem Vorwort ebenso knapp wie brillant beleuchtet,
und sie haben ein übriges getan: nämlich ihr
wissenschaftsgeschichtliches Thema im Modus des Gesprächs
präsentiert. Im Gefolge der sieben zentralen Vorträge werden
jeweils Respondenzen, "panelists commentaries" und
Diskussionsbeiträge abgedruckt und von den Herausgebern vorbildlich
annotiert, um den Leser wie einen weiteren Gesprächsteilnehmer mit den
Voraussetzungen und Subtexten der Diskussion vertraut zu machen. Gehört
es doch wesentlich zu den Charakterzügen der Literatur- /
Kulturwissenschaft, dass sie sich nicht scheut, als diskursives Ereignis
aufzutreten und Widerspruch und Kritik zu den Grundlagen ihrer Existenz zu
rechnen.
ist die Debatte um den Holocaust seit den 1990er
Jahren in ein neues Stadium getreten, eine Debatte, die in vielerlei
Ausprägungen im Zentrum aller Beiträge zum Thema German
Literature, Jewish Critics steht. Im Zuge von Paradigmenwechseln, die
sich mit den Schlagworten >lingustic turn< und >performative
turn< kennzeichnen lassen, rücken amerikanische, europäische und
israelische Perspektiven auf das globale Trauma der Judenvernichtung
näher zusammen. Und mehr noch: Weil nationale oder
generationenspezifische Unterschiede der >Erinnerung< und
Erinnerungspolitik anerkannt werden, zerbricht nicht nur die Vorstellung
einer >großen Erzählung< über den Holocaust, zu der es
Normen und von der es Abweichungen gibt, sondern es tut sich eine neue
Dimension der Erkenntnis auf, für die diese Unterschiede unerhört
produktiv sind. So scheint es, als könne sogar die maßgebliche
Streitfrage des deutschen "Historikerstreites" von 1986 – ob der
Holocaust im Sinne einer negativen Eschatologie außerhalb der
Geschichte stehe oder ob er in diese, zusammen mit anderen Genoziden,
eingebunden werden müsse – als überholt zurückgewiesen werden:
Auf die Probe gestellt werden intellektuelle Konzepte, die den Antagonismus,
ohne ihn auflösen zu wollen, zum Ausgangspunkt einer Metareflexion
machen.
Unter dem Titel der ersten Sektion – Cultural Poetics
– schlägt Hinrich C. Seeba einen weiten Bogen von den besonderen:
nämlich >literarischen< Wissenschaftsstilen österreichischer
Emigranten der 1930er Jahre wie Heinz Politzer, Erich Heller und Egon Schwarz
(heute längst prominente Namen in der Fachgeschichte der Germanistik)
bis hin zur Erweiterung und Neukonzeption einer "Philologie des
Deutschen" im Sinne jener "cultural studies", die
institutionelles Pendant zum neuhistoristischen Paradigma der "poetics
of culture" sind. Gerade weil Politzer, Heller u.a. bereits
Außenseiter im akademischen Betrieb waren, bevor sie von Hitler als
Juden verfolgt wurden und nach Amerika emigrierten, so Seeba, konnten sie
eine Sensibilität für sprachliche "Bildlichkeit" und
Ambivalenzen bewahren, die sich unter den besonderen Bedingungen der
Exilgermanistik und ihrer Anpassung an die amerikanische
Fremdsprachen-Philologie zu neuen, vorwärtsweisenden Darstellungsformen
und Erkenntniszielen verwandelten.
Mit glücklicher Hand haben die beiden Leiter des
Symposions Egon Schwarz selbst als Respondenten zu diesem Vortrag geladen und
damit die theoretische Bedeutung des >subjektiven Faktors< praktisch
unter Beweis gestellt. "Ich" zu sagen, sich als Autor einer
literaturwissenschaftlichen Abhandlung ins Spiel zu bringen, das, macht
Schwarz deutlich, bedeute unter den gegebenen Umständen immer auch, das
eigene Jüdischsein im Verhältnis zur >deutschen< Literatur zu
erfahren und zu reflektieren, statt es im vorgeblich >objektiven<
Wissenschafts-Jargon untergehen zu lassen.
Die zweite Sektion – Jüdische Philologen und ihr
Kanon – führt mit Christoph Königs Vortrag über
Judentum, Philologie und Goethe bei Ludwig Geiger in die Geschichte
der Literaturwissenschaft einerseits, der deutsch-jüdischen
"Symbiose" andererseits zurück. Am Beispiel von Ludwig Geiger,
dem habilitierten Historiker, der 1880 durch Wilhelm Scherers
Unterstützung zum außerordentlichen Professor in Berlin ernannt
wurde, zeigt sich diese Symbiose im Licht- und Schattenspiel von Illusion und
Enttäuschung: Hatte sich Geiger aus der Universität, die ihm keine
Karriere gestattete, in das Asyl des Goethe-Jahrbuchs geflüchtet,
da Goethe ihm als Dichter universaler Humanität galt, so vertrieben ihn
seine christlichen Zunftgenossen aus diesem Refugium, weil sie in Goethe den
deutschen National-Dichter par excellence sahen. Was für Geigers
>symbiotische< Argumentation notwendig zusammengehörte –
"deutsche Kultur" und "Universalität" – ,
nahmen seine Gegner zum Anlass, um ihren jüdischen Kollegen aus dem Amt
zu komplimentieren.
Wenn der Respondent Amir Eshel auf die erfolgreiche
Assimilation von Geigers Zeitgenossen Michael Bernays verweist und auf die
Weigerung von Peter Szondi, den Lehrstuhl für Komparatistik an der
Jerusalemer Universität anzunehmen, dann stellt er, die Diskussion
eröffnend, Königs These vom phantasmatischen Charakter der
deutsch-jüdischen Symbiose antithetisch die Behauptung ihrer
unabweisbaren Realität entgegen.
In der dritten Sektion – A Tradition in Ruins –
rücken durch den ausgezeichneten Vortrag von Barbara Hahn und die nicht
minder inspirierte Respondenz von Gesa Dane zwei neue Gesichtspunkte des
Themas ins Bewusstsein: Da ist zunächst der gender-Aspekt zu nennen, der
den Beiträgen ins Exil gezwungener Kultur- und
Literaturwissenschaftlerinnen wie Margarete Susman, Hannah Arendt, Bertha
Badt-Strauss und Käte Hamburger ihr besonderes Profil verleiht, und da
wird zweitens der Blick für jene brüchige und fragmentarische
Argumentations- und Schreibweise geschärft, die den genannten
Wissenschaftlerinnen als Werkzeug diente, um den unwiderruflichen Riss in der
deutschen Sprache nach 1933 anzuzeigen.
Weil diese Frauen eine doppelte Ausgrenzung erfuhren –: als
deutsche Jüdinnen und als intellektuelle Frauen – war ihnen die
gedankliche Flucht in eine vorgeblich universale deutsche Kultur verstellt,
und so hatten sie der 1933 zum unversöhnlichen Widerspruch
hochgepeitschten Duplizität von German Literature, Jewish Critics
nichts anderes entgegenzusetzen als die schärfste Reflexion auf die
Spaltung des eigenen Selbst; eine Spaltung, die traditionelle Diskurse ebenso
betraf wie die deutsche Sprache als solche. Dass die Akzeptanz dieses
polyphonen, auf sich selbst zurückgebogenen Denkens heute noch schwierig
ist, das entlarvt die Dokumentation der Wortbeiträge mit
wünschenswerter (bzw. bedauerlicher) Deutlichkeit, fixieren sich die
(männlichen) Diskutanten doch einzig und allein auf die gar nicht im
Vordergrund der Vorträge stehende politische Problematik von Hannah
Arendts Bericht über Eichmann in Jerusalem.
Die vierte Sektion – German-Jewish Double Identity –
stellt mit Hermann Levin Goldschmidt (Willi Goetschel) den Typ eines
selbstbewussten jüdischen Denkers vor, der sein Jüdischsein nicht
als von außen verfügte Zuschreibung und Anlass permanenter
Selbstspaltung, sondern als inneren Besitz, positive Erkenntnisvorgabe und
intellektuelle Strategie begriff. Das zeigt sich an seinen Vorträgen in
dem von ihm gegründeten Zürcher "Jüdischen Lehrhaus"
wie in seinen Heine- und Kafka-Lektüren aus den Vierziger Jahren. Auf
die Frage, warum Goldschmidt viel unbekannter geblieben ist als die
Apologeten der deutsch-jüdischen Symbiose, versucht der Respondent
Thomas Sparr eine Antwort zu geben. Goldschmidt, so Sparr, bot die Hand zum
selbstbewussten Dialog in einer Zeit, als niemand diese Hand nehmen wollte.
Offenbar privilegiert die Rezeption der deutsch-jüdischen Gelehrten die
Denkfiguren der Differenz und der Enttäuschung als Bestandteile einer
"Dialektik der Aufklärung", einer sich selbst gegenüber
kritisch und subversiv gewordenen Moderne – dies bestätigen
gleichermaßen der (auto-)biographisch ausgerichtete Vortrag der
fünften Sektion, Embattled Germanistik, in dem Walter H. Sokel
über die Hintergründe seiner Karriere als Literaturwissenschaftler
spricht, und der Schlussvortrag von Peter Demetz über den
Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.
In der sechsten Sektion – German Literature in the Public
Sphere – rückt Großbritannien als europäisches
Emigrationsland und Austragungsort anderer, von der konservativen
angelsächsischen Germanistik provozierten Spannungen im Verhältnis
von "German Literature" und "Jewish Critics" in den
Blick. Ritchie Robertson würdigt das literaturwissenschaftliche Werk von
Siegbert Prawer (der übrigens nicht, wie Antony Polonsky irrtümlich
annimmt, aus dem Ostjudentum stammt), J.P. Stern und George Steiner als
brillante Synthese zwischen begrifflicher Präzision und antiakademischer
sprachlicher Eleganz; hier treffen sich seine Beobachtungen mit denen von
Hinrich Seeba. Der essayistische Charakter der Schriften von Prawer, Stern
und besonders Steiner, unter deutschen Akademikern umstritten, in der
englischen Öffentlichkeit jedoch geschätzt, hat die Betroffenen in
einem besonderen Ausmaß zu Botschaftern deutscher Kultur in finsteren
Zeiten avancieren lassen.
Dabei spielten individuelle Integrität und stilistische
Meisterschaft dieser >Botschafter< eine weit größere
Vermittler-Rolle als die von anderen Wissenschaftlern behauptete Prominenz
und Universalität der deutschen Kultur. Hinzu kommt der von allen drei
Experten aufgewiesene positive Literatur-Kanon von Autoren wie Heine,
Lessing, Freud oder Kafka, der jeweils wie ein Spiegel und damit
identitätsverstärkend wirkt. So kann David Suchoff in seiner
temperamentvollen und luziden Respondenz eine in Robertsons Vortrag
versteckte Pointe herausheben: dass nämlich die "jewish
critics" in ihrem politisch erschwerten, wenn nicht gar infam
diskreditierten Verhältnis zur "German literature" ganz
nebenbei und doch tödlich genau jenen schwierigen Punkt im deutschen
Selbstverhältnis benennen, der für die Ausgrenzung der
jüdischen Germanisten verantwortlich war.
Das Brandeis Symposion hat Zeichen und Maßstäbe
für die zukünftige Beschäftigung mit den Auswirkungen des
wissenschaftlichen Exils auf die Fachgeschichte der Germanistik gesetzt. Im
Hinblick auf die Bestandsaufnahme und in der Konzentration auf die
"jewish critics" ist es vergangenheitsorientiert und arbeitet die
schwierigen, trotzdem oder vielleicht gerade deshalb politikmächtigen
und institutionell wirksamen Identitätsprobleme jüdischer
Germanisten heraus; dabei entsteht ein lebendiges Bild der nicht selten durch
Lehrer-Schüler-Beziehungen verflochtenen drei Generationen emigrierter
Literaturwissenschaftler von den 1930er Jahren bis heute.
Die Beobachtung, dass die Dynamik von Immigration und
Assimilation Wissenschaftsstile, theoretische Paradigmen und Kanones
prägt, dass zudem die Außen- resp. Exil-Ansicht der deutschen
Kultur besondere Erkenntniskräfte freisetzt (mit ausgesprochen positiven
Rückkoppelungs-Effekten), gewinnt allerdings vor dem Hintergrund der
multi-ethnischen Gesellschaft der USA diagnostischen, zukunftsweisenden Wert.
Konzentriert man sich nämlich, wie die Vorträge es tun, auf die
Nachzeichnung der Zirkulation und – als deren Folge – der permanenten
Veränderung literaturkritischen Wissens, dann wird deutlich, dass es
nationale Bastionen wie zum Beispiel das "alte Europa", Schlagwort
bis in jüngste Zeit, längst nicht mehr gibt. Statt dessen steigt
das Bild einer sich inzwischen selbst in Gang haltenden Rotationsbewegung
auf, dank derer Peripherien und Zentren, Sub- und Hochkulturen nach
bestimmten, politisch beeinflussbaren Gesetzen ihre Gaben austauschen und je
neu bewerten. Dieser produktive, die Innovationsfähigkeit der
Wissenschaften beflügelnde Tausch bildet Grundlage und Legitimation
jener "identity politics", deren Rolle bei personalen
Veränderungen an Universitäten und in anderen
gesellschaftlich-kulturellen Einrichtungen nicht hoch genug
einzuschätzen ist.
Dass ein solcher Tausch auch zwischen
Wissenschaftler-Generationen stattfindet, ist eine weitere Erkenntnis des
Brandeis Symposions. Nicht nur die biographischen Einlassungen in den meisten
Beiträgen bezeugen den Überlebenden und Augenzeugen der Shoah
Anerkennung und Respekt, und ohne große Worte weiß man sich
einig, dass der "Zivilisationsbruch" Auschwitz auch ein
irreversibler Bruch in der Zeitrechnung und in der Geschichtsschreibung ist.
Und doch wird, mehr als zehn Jahre nach dem Historikerstreit, auch mit
anderen Denkmodellen experimentiert. Zwar war es für die jüdischen
Wissenschaftler, von denen die Rede ist – Heinz Politzer, Erich Heller, Egon
Schwarz, Margarete Susman, Käte Hamburger u.a. – aufgrund ihres
Begehrens nach einer universalen, >reinen<, objektiven
Wissenschaftssprache undenkbar, "Ich" zu sagen. Aber die
jüngeren Generationen, die nach sechzig Jahren zurückschauen, sind
brennend an diesem – unausgesprochenen – "Ich" interessiert. Denn
sie interpretieren es im Licht der gängigen Differenzphilosophien, die
aus alten, diskreditierten Begriffen wie "Volk", "Nation"
und "Identität" hochkomplexe und hybride Geschichten von
Geschlecht, Ethnizität und diskursiver Macht heraustreiben. Mir scheint,
dass damit eine Diskursivierung und mit dieser Diskursivierung eine
Historisierung des Holocaust einhergeht, die – so paradox das klingen mag –
seine Einzigartigkeit nicht in Frage stellt. So ist den Herausgebern Meike
Werner und Steve Dowden sowie den BeiträgerInnen des Brandeis Symposions
nicht nur eine rückschauende Bilanz im Hinblick auf das Verhältnis
von German Literature, Jewish Ciritcs zu danken, sondern auch der
Entwurf neuer und zukunftsweisender Fragestellungen.
Prof. Dr. Cornelia Blasberg
Universität Tübingen
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Ins Netz gestellt am 30.03.2003
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