Blödorn über Autor: Thomas Mann: Doktor Faustus

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Andreas Blödorn

"Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit"
Nachdenken über Thomas Manns
"Doktor Faustus"

  • Werner Röcke (Hg.): Thomas Mann: Doktor Faustus 1947–1997 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 3) Bern u.a.: Lang 2001. 378 S. Kart. EUR (D) 50,10.
    ISBN 3-906766-29-2.


80.000 Seiten Sekundäres über Thomas Manns "Doktor Faustus", so ist man versucht in den Stoßseufzer Hans Rudolf Vagets (Joachim Kaiser zitierend) einzustimmen, was kann es da noch zu deuten geben? Ist Manns "Epochenroman" nicht gar "ausinterpretiert", wie Helmut Koopmann 1989 mutmaßte? Nein, mitnichten, so führt der von Werner Röcke publizierte Band "Thomas Mann: "Doktor Faustus" 1947–1997" vor Augen, der die Beiträge eines (anlässlich des 50. Jahrestages der Erstpublikation des Romans) im Juni 1997 abgehaltenen Kolloquiums an der Humboldt-Universität zu Berlin versammelt – und damit die in seiner Vorbemerkung zu Recht postulierte Aktualität des Romans bekräftigt.

Es war, so betonen viele der hier versammelten Beiträge, keine eben kleine Aufgabe, die sich der Autor Thomas Mann im amerikanischen Exil gestellt hatte, als er mit dem "Faustus"-Projekt einen vier Jahrzehnte zurück liegenden ersten Plan aufgriff: das Schicksal "des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde" als "Deutschlands" Untergang darstellbar zu machen und damit zugleich das eigene Schicksal, die Rolle der Kunst und die politischen Konsequenzen deutschen Denkens seit dem Spätmittelalter in einem sein dichterisches Lebenswerk abschließenden, summarischen Weihe- und Erlösungsfestspiel zu verbinden. Der künstlerische Rückgriff auf die spätmittelalterliche Faust-Sage stellt dabei das Versagen des Intellektuellen und Künstlers und dessen Teufelspakt in den Mittelpunkt des Erzählten und macht dessen individuelles Versagen angesichts des Nationalsozialismus zu einer notwendig aus der deutschen Kultur entspringenden Folge falsch verstandener Innerlichkeit im Sinne der "Dialektik der Aufklärung".

Die in dieser umfassenden Konstruktion beinahe zwangsläufig angelegten Brüche (die in der Forschung wiederholt dargestellt wurden und deren einzelne Schichten u.a. Hermann Kurzkes Darstellung systematisch aufgelistet hat 1 ) sind es, die bei aller Heterogenität der einzelnen Beiträge des Bandes eine Verbindung zwischen ihnen herstellen und die im Rückgriff auf die (literar-)historische Kontextualisierung des Romans, auf seine Grundlagen und Wurzeln in deutscher Kulturtradition und Zeitgeschichte schärfer konturiert werden. In diesem Sinne erweisen sich die Brüche zugleich immer auch als Verknüpfungen verschiedener Diskursfelder. Diesem Interesse für Schnittpunkte folgend, in denen sich die verschiedenen thematischen Linien des Romans treffen, erfolgt auch die Ordnung der Beiträge unter drei große Blöcke: politischer Kontext, Faust-Tradition und das Verhältnis von Literatur und Musik. So fragen die Autoren vor allem danach, welche Vorstellungen und Bilder in den Roman eingegangen sind und wie sie der Roman andererseits für seine Interpretation deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert funktionalisiert.

Vorgeschaltet ist der Betrachtung des Textes aus den Blickwinkeln der angesprochenen Kontexte ein einleitender rezeptionsgeschichtlicher Abriss Hans Rudolf Vagets, der "Fünfzig Jahre Leiden an Deutschland" aus heutiger Sicht zu bündeln und zu erklären sucht. Vagets These, dass die ganze Problematik des "Doktor Faustus" und seiner Geschichtsinterpretation erst aus heutiger Distanz recht verständlich wird, weist Thomas Mann als zutiefst verunsicherten Humanisten aus und macht seinen Roman als Dokument dieser Verunsicherung lesbar. Die Brüche im Text erscheinen in diesem Licht weniger als missglückte Konstruktion denn als literarische Strategie, mit Hilfe derer die Darbietung einfacher Erklärungsmuster für Deutschlands Weg in die >Anti-Humanität< und möglicher Auswege aus ihr endgültig verabschiedet wird. Geänderte Rezeptionsvoraussetzungen sind es dabei vor allem, die laut Vaget zu einer veränderten Lektüre des "Doktor Faustus" führen und heute eine ungleich differenziertere und kritischere Betrachtung des Werkes erlauben; Faszination und Provokation, die den Roman bei seiner Veröffentlichung umgaben, sind längst der Historisierung und Perspektivierung gewichen.

Ein Beispiel, an dem Vaget unsere heute höhere Sensibilisierung (insbesondere nach dem Historikerstreit von 1986 und der Goldhagen-Debatte der 90er Jahre) vorführt, ist Manns problematisches Verhältnis zum Judentum und mit ihm "die unbestreitbaren Defizite des "Doktor Faustus" in dieser Hinsicht" (S. 13). Der alte Vorwurf eines "antisemitenreine[n] Deutschlandbild[es]," 2 dass konkret "dieser Roman das antisemitische Klima des deutschen Musiklebens unterschlägt und es unterläßt, die [...] >deutsche Katastrophe< auch als jüdische Katastrophe zu kennzeichnen" (S. 15), ist allerdings ein ebenso ehrenwerter wie unter der Hand von Vaget selbst entkräfteter Einwand gegen die Konstruktion des Textes, der doch so augenscheinlich mit seiner "Verflechtung von Selbstkritik und Zeitkritik" genau jenes Schweigen unüberhörbar hörbar macht, das doch gerade zum Versagen und zur Katastrophe führte.

So erkennt auch Vaget selbst hinsichtlich der Symbolfunktion Leverkühns für Hitler-Deutschland und somit für das historische Bezugsgeflecht des Romans insgesamt, dass es nicht die "symbolische[ ] Äquivalenz" ist, mit der Geschichte hier interpretiert wird, sondern die "Kategorie der Antizipation" (S. 19): "der Geist, in dem Leverkühns Werk konzipiert ist, antizipiert den Geist des faschistischen Deutschland" (ebd.). Dass gleichwohl an den Gestalten Saul Fitelbergs und Dr. Chaim Breisachers Thomas Manns lebenslange problematische Stereotypisierung seiner jüdischen Figuren ablesbar ist, deren positive Gegenbilder im Roman fehlen, bleibt ebenso als Tatsache bestehen wie das weit schwerer wiegende Schweigen gegenüber der Judenvernichtung. Für Vaget bleibt es "ein psychologisches Rätsel" und nur durch "eine Blockierung im emotionalen Haushalt dieses Autors" erklärbar (S. 32).

Leiden an Deutschland:
Literatur, Politik und Geschichte

Georg Bollenbeck hingegen vertritt die extremste Position im Rahmen des Bandes: Er spricht von einem von Thomas Mann nicht beabsichtigten Misslingen des Romans mitsamt seiner "überdehnten Konzeption" (S. 36) und konstatiert folgerichtig das Scheitern des Autors vor seinem ehrgeizigen Vorhaben, "heterogene[ ] Stoff- und Themenkomplexe in einer zentralen Künstlergestalt [zu] bündeln" (S. 37).

Der "brüchige[ ] epische[ ] Bau" des Romans (S. 36) legt für Bollenbeck folglich nur die "eingeschränkten Möglichkeiten eines ebenso traditionalistischen wie artistischen Erzählens" offen (S. ebd.), mithin das Scheitern eines Autors, der doch nach seiner Selbstauskunft nichts anderes gewollt habe als die "sphärische Geschlossenheit" seines Werkes (was Bollenbeck übersetzt in "die organische Einheit von Inhalt und Form", ebd.). Doch die misslingende Engführung von künstlerischem Individuum und deutscher Geistesgeschichte, die vor allem an der erzählerischen Detailverliebtheit des Autors scheitere, bewältige dieser durch erzählerische Ironie und eine Haltung kritischen Abstandes. So konstatiert Bollenbeck schließlich doch, daß der Roman "über das Ende des humanen Prinzips, über das Ende der traditionellen Künste und über die Auflösung der bürgerlichen Milieus" (S. 55) eben in seiner Form dieses Ende selbst – wenn auch ungewollt – anzeige und damit zum Ausdruck eines Weltzustandes werde, der die traditionellen Erzählmöglichkeiten des Romans sprenge. Die scheiternde Konzeption des "Doktor Faustus" verweist auf das gescheiterte humane Prinzip; das Individuum vermag (mit Hegel gesprochen) letztlich nicht länger "den Mittelpunkt für das Ganze" abzugeben.

Wie sich der Konzeptionsbruch im Werk auf der Ebene politischen bzw. historischen Denkens vollzieht, untersuchen des weiteren Stefan Breuer und Eberhard Lämmert. Breuer setzt sich mit Thomas Manns höchst eigenwilliger Deutung des Paradoxons einer "konservativen Revolution" auseinander, deren Begrifflichkeit Mann zwar kritisiert, mit der er aber zunehmend sein eigenes Modell einer "Allianz zwischen bürgerlicher und sozialer Demokratie" (S. 66) bezeichnet – womit er letztlich doch nur zu einer gesteigerten begrifflichen "Konfusion" beitrage.

Gerade hier aber knüpft die von Herfried Münkler vorgetragene "Ein-Deutschland-These" Thomas Manns im Sinne der zeitgleich entstandenen "Dialektik der Aufklärung" an: "Das böse Deutschland" ist in Manns eigenen Worten "das fehlgegangene gute", 3 oder wie Lämmert Manns Kernsatz aus der Rede über "Deutschland und die Deutschen" zitiert: "es [gibt] nicht zwei Deutschland [...], ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug" (S. 83). Dieses gefährlich kombinatorische Denken der für Adrian Leverkühn konfusen Deutschen zeigt sich, so Breuer, in eben jener unerlaubten >Sprachvermanschung<, wenn "Prägungen der einen im Sinne der anderen" (S. 69) ge- und missbraucht werden.

Lämmert sieht diese Dialektik im erzählerischen Verfahren des Romans bestätigt, der die Geschichte eines Künstlers in ein allegorisches Verhältnis zur Geschichte der Deutschen setze. Denn während der allem Deutschen eingeborene Hang zum Universalismus in der Geschichte umgeschlagen sei in den "frevelhaften Gedanken der Welteroberung" (S. 80), so antizipiere Leverkühns Selbstzerstörung das Ende der deutschen Geschichte mit ihrer "Pervertierung eines dominanten Universalismus zu einer heillosen Deutschheit" (S. 85).

Die Faust-Tradition und
die Inszenierungen des Diabolischen

Die Tradition des Teufelspakts und die "Figurationen des Diabolischen" stehen im Mittelpunkt des zweiten Teils des Bandes. "Der Affe und die Magie" in der "Historia von D. Johann Fausten" von 1587 ist das Thema, mit dem sich einleitend Hartmut Böhme auseinandersetzt. Die mittelalterliche "Verteufelung des Affen" (S. 115), wie sie sich in der "Historia" niederschlägt, gründete vor allem auf den mit ihm korrelierten Attributen der hemmungslosen Völlerei und Sexualität.

Thomas Manns Rückgriff auf das alte Faustbuch der "Historia" wirft für Maria E. Müller hingegen zunächst die kulturgeschichtliche Frage auf, "warum die Erfahrung national-sozialistischen Terrors bei ganz unterschiedlichen Autoren gleichermaßen den Rückgriff auf vormoderne Pakttraditionen provoziert hat" (S. 145). Sie vergleicht Manns "Doktor Faustus" mit zwei zeitgleich erschienenen Romanen: Alfred Döblins "November 1918. Eine deutsche Revolution" (1949 / 50) und Elisabeth Langgässers "Das unauslöschliche Siegel" (1946 / 47).

Der von Müller herausgestellte, für alle Autoren gemeinsame Begründungszusammenhang für diesen Rückgriff erscheint – Helmut Koopmanns These von 1988 aufgreifend 4 – als Rücknahme der Weimarer Klassik "und der mit ihr aufgerufenen Humanitätsidee" (S. 159). Dabei zitieren alle drei Romane den in der barbarischen Gegenwart unmöglich gewordenen humanistischen Gegenpol: Beethovens Neunte Symphonie. In der Pervertierung von deren Schluss-Ode gestaltet sich bei Langgässer schließlich der Untergang menschlicher Würde. Auch Döblins Roman argumentiert (unter Bezugnahme auf Sophokles "Antigone") mit der Rücknahme abendländischer Tradition, wie sie dann bei Thomas Mann ganz konkret als von Leverkühn intendierte Rücknahme der Neunten Symphonie Beethovens formuliert wird: "Das Gute und Edle [...] Ich will es zurücknehmen. [...] Die Neunte Symphonie". 5

Die Absage an die deutsche Humanitätsphilosophie aber erfährt einzig bei Thomas Mann eine Wendung ins Hoffnungsvolle, wie sie zuvor schon Hans Wißkirchen herausgestellt hat: Die Zurücknahme von Beethovens Musik, so Wißkirchen, stelle gerade "die Rettung der verbotenen Liebe dar" 6 . Im Rückgriff auf die Vormoderne, folgert Müller, gestalte Thomas Mann "zugleich den Vorgriff auf eine humane Zukunft" (S. 163) – und zwar im Bewusstsein der fatalen Faszination des Dämonischen in der Geschichte. Damit schließlich, so die Quintessenz, gelingt Manns Roman die Rettung der deutschen "Kollektivseele" (ebd.), denn einzig ihr gilt die aus tiefster Heillosigkeit aufkeimende Hoffnung; der Held aber muss sich dem zum Opfer bringen. Leverkühn verfällt unrettbar Nacht und Tod (und mit ihm die alte Humanität der Klassik).

Der akustischen Imagination der Hölle und des Diabolischen sind die Beiträge von Tobias Plebuch und Werner Röcke gewidmet. Röcke untersucht das "Teufelsgelächter" bei Mann im Abgleich mit der "Historia" von 1587; Ausgangspunkt ist die Frage der Darstellbarkeit und Beschreibbarkeit der Hölle, die nach Auskunft des Teufels auf Leverkühns Frage doch "abseits und außerhalb der Sprache liege" 7 . Als Urgrund des Diabolischen und seiner Manifestationen im "Doktor Faustus" wird der karnevaleske Diskurs der "Historia" erkennbar, dessen Indikator das höllische Gelächter ist. Bei Thomas Mann findet es seinen Abglanz im irdischen Lachzwang Leverkühns ebenso wie im Schluss des ersten Teils seiner "Apocalipsis cum figuris" (als "Pandämonium des Lachens"). Die Musik Leverkühns, und hier trifft sich Röckes Beitrag mit denen von Danuser und Osterkamp, setzt jenes Höllengelächter literarisch in Szene.

Der Musikwissenschaftler Tobias Plebuch nähert sich dem "Musikalisch-Bösen" in seinem Beitrag (dem mit fast sechzig Seiten längsten des Bandes) musikgeschichtlich an und zeichnet eine weit ausgreifende Musikgeschichte diabolischer Klänge nach. Im Blick auf die zentrale Komposition Leverkühns zeigt Plebuch, welche Untertöne Eingang in den Roman finden, wenn die Verwandtschaft von Höllengelächter und Engelsgesang in Leverkühns "Apocalipsis" auf jene mittelalterliche Gegenüberstellung von Harmonie und Kakophonie rekurriert, wie sie uns heute aus den Bildern Stefan Lochners oder Hieronymus Boschs anschaulich wird. Die >Musik< der Hölle war im Mittelalter stets als "Höllenlärm" zu hören – "Heulen und Zähneklappern, Zorngekreisch und wütendes Gebrüll der Teufel", ergänzt durch "die Schreie und Klagen der verdammten Seelen" (S. 210) –, bis die frühe Neuzeit schließlich dem Teufel als Seelenverführer auch angenehme Klänge verleihen mochte. In "Apocalipsis cum figuris" aber singen Höllenchor und Engelszungen verschieden – doch nur zum Schein: ihre Gesänge sind insgeheim verwandt.

Wie sich im Seitenblick auf die "Historia" von 1587 bei Thomas Mann der Faust-Mythos als nationaler Mythos gestaltet und dabei eine Geschichtslegende entwirft, die das zweideutige Verhältnis des "Doktor Faustus" zur Reformation und zu Luther in den Mittelpunkt stellt, untersucht Jan-Dirk Müller. Für ihn tritt der Parallelisierung von "Luthers dämonische[r] Religiosität" und "Leverkühns dämonische[r] Künstlerexistenz" (S. 184) im Roman einzig "die schwache und ängstliche Stimme des gänzlich undämonischen Schulmanns" Zeitblom gegenüber, in dessen Erzählen "die Hybridität der Kontamination von romantischer Künstlerexistenz und nationalprotestantischem Mythos" durchscheine (S. 185). Jegliches Hoffen auf göttliche Gnade rückt so in weite Ferne; das "humanistische Versprechen [...] ist in Zeitbloms Worten auf die Schwundstufe ohnmächtiger Klage reduziert" (ebd.).

"Erzählte Musik":
Neubewertung musikalischer Narrationsverfahren

Wie so häufig ist die Thomas Mann-Forschung, so zeigen Ernst Osterkamp und Hermann Danuser sowohl aus literatur- wie auch aus musikwissenschaftlicher Sicht, allzu willig den Selbstdeutungen und Leseanweisungen des Autors gefolgt und hat ehrgeizig versucht, den Roman nach dem Motto "vom Leitmotiv zur Zwölftonreihe" (S. 325) als musikalische Komposition zu deuten. Die damit verbundene Gefahr sei es, in eine bloß "metaphorische Verwendung musikalischer Fachtermini" (ebd.) abzugleiten. Osterkamp und Danuser richten daher in ihren Beiträgen den Blick auf das bislang Versäumte: das narrative Element in Leverkühns Kompositionen, wie sie aus den Beschreibungen Zeitbloms erstehen.

In der Deutung dieser in den Text "eingelassenen Kompositionen als Erzählung" (ebd.) am Beispiel der Komposition "Apocalipsis cum figuris" vermag Osterkamp denn auch auf eindrucksvolle Weise zu zeigen, dass nicht die Sprache der Erzählung musikalisch überformt, sondern die Musik im Kern sprachlich-narrativ komponiert ist. Ausgangspunkt ist das Problem der Beschreibbarkeit eines musikalischen Kunstwerks, das der Text selbst reflektiert. Die Strategie, die der Roman wählt, um das eigentlich Unvorstellbare vorstellbar zu machen, nimmt ihren Ausgang in einem Akt der Mythisierung, durch den Leverkühn nicht nur zunehmend in eine Christustypologie rückt, sondern andererseits zum apokalyptischen Seher und Märtyrer avanciert: In der Beschreibung des ersten Blattes von Düreres "Apocalipsis cum figuris" setzt sich Leverkühn an die Stelle des gemarterten Johannes und macht sich zum "Zeugen und Erzähler des grausamen Geschehens". 8 "Ich, Johannes", meint eben hier: "Ich, Leverkühn" (S. 327).

Die "radikale Literarisierung der Komposition" bedient sich in der Folge, wie Osterkamp zeigt, einer Strategie, die Leverkühns Lektüreerfahrungen abruft, ganz im Sinne von Leverkühns eigener Formulierung, nach der Musik und Sprache zusammengehören: Sie seien, so gibt der Erzähler Leverkühn wieder, "im Grunde eins, die Sprache Musik, die Musik eine Sprache" 9 . Zentraler Kunstgriff des Romans sei es nun, die Musik nicht aus der Beschreibung von Tönen und Klängen, sondern aus literarischen Ideen und der Beschreibung von Bildern entstehen und damit die Musik erst vorstellbar werden zu lassen. Auch Danuser stellt hierzu fest, dass "grundsätzliche Überlegungen zum künstlerischen Schaffensvorgang [...] an Bildbeschreibungen angebunden" werden (S. 312) und gerade am Beispiel von "Apocalipsis cum figuris" eben die Selbstreflexivität des Erzählens / Komponierens deutlich wird.

Leverkühns "Apocalipsis" also stellt sich dem Leser dar als ein von Dürer inspiriertes "apokalyptisches Fresko", indem es zugleich eine "Summe von Lektüren" (S. 331) ist; die zielgerichtete Textbewegung der Johannes-Offenbarung wird in Zeitbloms Beschreibung von Leverkühns Komposition durch eine Fluktuation von Texten (Vergils, Dantes u.a.) ersetzt (S. 332). So wird "Doktor Faustus" zur Summe aller vorausgegangenen Apokalypsen und Endzeitvisionen, zum "Résumé aller Verkündigungen des Endes" 10 (S. 331). Dass dies jedoch nicht zum Eindruck formaler Offenheit führt, sondern vielmehr ein hoher Grad an Geschlossenheit suggeriert wird, gelingt Thomas Mann durch einen raffinierten Medienwechsel vom Literarischen in die bildende Kunst: Die "Beschreibung der Komposition als Bild [...] ermöglicht [...] die Ausbildung einer räumlichen Ganzheitsvorstellung, in die der Leser alle angesprochenen Stoffe, Motive, Szenen, Themen, kompositorischen Verfahren eintragen kann" (S. 333). Auf diese Weise gibt sich der Künstler als Seher des Zeitenendes zu erkennen, der "geschaut hat, was er zu Gehör bringen soll: >Ich, Johannes; ich, Leverkühn<" (ebd.).

Das Fazit lautet dann auch: "Zu hören ist nichts, zu sehen viel" (S. 342). Die beiden narrativen Strategien – Literarisierung der Musik und Visualisierung der Literatur – täuschen jedoch darüber hinweg, dass das >musikalische Material< höchst unkenntlich bleibt. Osterkamp führt dies auf die Quelle – Adornos "Philosophie der neuen Musik" – und auf die Funktion der Musik im Roman zurück. Denn in der erzählerischen Vermittlung Zeitbloms zwischen selbstvergessenem Künstlertum Leverkühns und realgeschichtlichem Prozess zeigt sich, daß es das musikalische Material ist, das einer objektiven geschichtlichen Tendenz und einer gesellschaftlichen Präformierung unterliegt. Und somit, vermag Osterkamp zu zeigen, ist nicht Leverkühn der Repräsentant Deutschlands, sondern repräsentativ ist allein sein Werk, in dem sich das musikalische Material entfaltet – jenes Material also, das den Prozeß der Re-Barbarisierung der Gesellschaft anzeigt.

Aus musikwissenschaftlicher Sicht untersucht Klaus Kropfinger dann genau das von Osterkamp zuvor verabschiedete Kompositionsverfahren zwischen "Literarische[r] Zwölftontechnik" und "Leitmotivik". Um es auf den Punkt zu bringen: Zwar kommt auch er zu dem Ergebnis, dass die Aussagen des Romans zur Zwölftontechnik "nichts zu leisten vermögen", ja dass sie "die Vorstellung von Thomas Manns >Konstruktion< verzerren" (S. 360), indem sie "keinen sinngebenden Halt" finden (S. 357), doch macht er stattdessen ein "Leitmotivnetz" des Textes aus (S. 355), das im Sinne der Wagnerschen Definiton durch die Funktion von Ahnung und Erinnerung die vielfältigen Montageelemente kompositorisch integriere (dgl. auch Vaget, vgl. S. 25). Aber auch Kropfinger argumentiert implizit für eine literarische Fundierung des Leitmotiv-Begriffes und gegen "eine blanke Parallelisierung musikalischer und literarischer Strukturen" (S. 357), wenn er die Leitmotive als thematische Wiederholungen und "verdichtete Motivhäufung" von "epischer Qualität" (S. 355) betrachtet, die zur schrittweisen Anreicherung und Auffächerung der Motivgestaltung führen.

Wie stark das in der Musik verdichtete Bedeutungsgefüge des Romans an Magie und Astrologie gebunden ist, führt Dieter Borchmeyer aus, der den Blick auf das Grundmuster einer "paradoxalen Einheit von Ordnung und Beschwörung, rationaler Organisation und rauschhafter Widervernunft" richtet (S. 266). Die in der Musik anzutreffende Symbiose von Vernunft und Magie findet ihren Ausdruck wiederum in zitierter Bildhaftigkeit: So erkennt Borchmeyer im magischen Quadrat von Dürers "Melencolia I" "das musikalisch-literarische Strukturmotiv des "Doktor Faustus"" (ebd.; Hervorhebung des Verfassers), genauer das Struktursymbol für "die dodekaphonische Methode", für die "sowohl horizontal als auch vertikal lesbare, Melodik wie Harmonik regulierende Zwölftonreihe" (ebd.). Mit der in der Dodekaphonie gipfelnden Regelhaftigkeit halte zugleich aber auch die Dämonie Einzug als "faustische Melencolia". Dass sie nicht den Schlußpunkt setze, sondern vielmehr "die Musik über die magischen Implikationen der Reihentechnik hinausgelangt" (S. 272), dass damit also am Ende doch noch ein Zeichen der Hoffnung "in der Nacht der Hoffnungslosigkeit" (S. 271) aufscheint, zeige sich in Leverkühns versuchter >Rücknahme< von Beethovens Neunter Symphonie (und der "Ode an die Freude") durch sein Abschiedswerk "Dr. Fausti Weheklag" (und dem "Lied an die Trauer"). Die in der Musik zum Äußersten gesteigerte Melancholie kippt an ihrem Endpunkt wieder ins Wort: Der letzte Ton des Werks ist "das hohe g eines Cellos, das letzte Wort". Mit Borchmeyer: "Die Rücknahme der Neunten Symphonie wird ihrerseits zurückgenommen" (S. 272); am Ende der Hoffnungslosigkeit steht die Sehnsucht nach Gnade.

Biographisches Schreiben, wie es sich im "Doktor Faustus" darstellt, ist das Thema, dem sich Irmela von der Lühe in ihrem Beitrag über die Stellung des Romans "zwischen mythischem Erzählen und intellektueller Biographie" widmet. Die Funktion der Durchdringung von mythischem und biographischem Erzählen liegt für von der Lühe darin, dass der Roman die Grenzen vom Individuellen ins Typische und Modellhafte verschwimmen und sich Leverkühns individuelle Lebensgeschichte damit zugleich als überindividuelle behaupten lässt. Die am Ende abgerufene Vision von Erlösung und Gnade, wie sie sich in Leverkühns letzter Komposition zeige, werde so zum allgemeinen Zeichen der "Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit".

Erneute Lektüre als Neulektüre?

Thomas Manns "Doktor Faustus" nach fünfzig Jahren – eine Neulektüre nach dem Epochenumbruch von 1989 / 90? Im Ganzen wohl eher nicht, so wird man auch angesichts des mancherorts eher kompilierenden Charakters der Beiträge bilanzieren müssen. Die Konzentration auf Konzeptionsbrüche im Roman als Kernthese, die sich durch den recht heterogenen Band zieht, mag ebenso wenig unerwartet erscheinen wie die immer wiederkehrende Frage nach der Qualität von Erlösung und Gnade am Ende. Doch erfährt gerade die These vom Konzeptionsbruch nicht nur einige wichtige Differenzierungen, sondern sie wird auch im Blick auf Faust-Tradition und politischen Diskurs philologisch und kulturgeschichtlich fundiert. Und hier liegt die Stärke des Bandes, der in Einzelaspekten eben doch eine Anzahl neuer Lektürehinweise und methodischer Ansätze gibt. So lassen sich die vielschichtigen Brüche in der Konzeption des Romans eben auch poetologisch als "Figur der Umkehrung" lesen (oder in der Formulierung Plebuchs: als "Verneinung"), die nach Osterkamp gerade "gedanklicher Kern des Buches" ist (musikalisch ausgedrückt in der radikalen Umkehrung des zweiten Satzes der Mahler'schen VIII. Sinfonie, der Schluss-Szene aus Goethes Faust in Leverkühns letztem Werk, der Chorkantate "Dr. Fausti Weheklag").

Die Leistung des Buches liegt in dieser Lesbarkeit der Brüche als Figuren der Umkehrung auf vielfältigen Ebenen – vor allem als poetologischer Ausdruck humanistischer Verunsicherung. Trotz der Widersprüche einzelner Positionen des Bandes untereinander ergibt sich so insgesamt ein erstaunlich dichtes Bild und eine Tendenz zur "Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit", wie sie im verzweifelten, aber doch zum Hoffen auf Gnade berechtigenden hohen g des Cellos erklingt.

Herausgehoben werden sollte m.E. jedoch insbesondere der weiterführende Beitrag, den der Band zur Analyse der vielfach behaupteten "Musikalität" bei Thomas Mann leistet (vor allem die Ansätze von Osterkamp und Danuser). Dass die Musik im "Doktor Faustus" eine genuin literarische ist und sich als erzählte Musik vornehmlich über Bildbeschreibungen vermittelt, eröffnet zukünftige Perspektiven. Weitere Forschung sollte diese Frage nach einer Narrativik der Musik auch auf andere Texte Thomas Manns übertragen.

So bleibt wohl als Fazit dieser insgesamt doch ebenso anregenden wie vielschichtigen Lektüre am Ende Hans Rudolf Vagets Diktum übrig, nach dem Thomas Manns Roman "auf keine griffige Formel zu bringen" ist. Im Gegenteil: Unsere Lektüre Thomas Manns ist mit diesem Band komplexer und differenzierter geworden.


Dr. des. Andreas Blödorn
Bergische Universität Wuppertal
Fachbereich 4: Sprach- und Literaturwissenschaften
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D-42097 Wuppertal
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Ins Netz gestellt am 29.06.2003
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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Anmerkungen

1 Vgl. Hermann Kurzke: Thomas Mann: Epoche – Werk – Wirkung. 3. Aufl. München: Beck 1997, S. 269–83.    zurück

2 So z.B. Ruth Klüger: Thomas Manns jüdische Gestalten. In: R. K.: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen: Wallstein 1994, S. 39–58; hier S. 44.   zurück

3 Thomas Mann in: Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe. In: T. M.: Reden und Aufsätze. 2 Bde. (Stockholmer Gesamtausgabe) Frankfurt / M.: Fischer 1965. Bd. II, S. 652.   zurück

4 Vgl. Helmut Koopmann: "Doktor Faustus" als Widerlegung der Weimarer Klassik. In: H. K.: Der schwierige Deutsche. Studien zum Werk Thomas Manns. Tübingen: 1988, S. 109–24.    zurück

5 Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde / Die Entstehung des Doktor Faustus. Frankfurt / M.: Fischer 1997, S. 633.   zurück

6 Vgl. Hans Wißkirchen: Verbotene Liebe. Das Deutschland-Thema im "Doktor Faustus". In: H. W. / Thomas Sprecher (Hg.): "Und was werden die Deutschen sagen?" Thomas Manns Roman Doktor Faustus. 2. Aufl. Lübeck: Dräger 1998, S. 179–207, hier S. 199.    zurück

7 Thomas Mann (Anm. 5), S. 331.    zurück

8 Thomas Mann (Anm. 5), S. 502; meine Hervorhebung.   zurück

9 Thomas Mann (Anm. 5), S. 221.   zurück

10 Thomas Mann (Anm. 5), S. 478.   zurück