Boden über Schönert: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung

IASLonline


Petra Boden

Müssen wir alles anders machen?

  • Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000. XLII, 630 S. Geb. EUR (D) 119,90.
    ISBN: 3-476-01751-6.


Inhalt

Ein neuer Gegenstand für die Wissenschaftsforschung | Vier Sektionen | Bibliotheken – Archive – Sammeln – Wissen – Verbreiten – Streiten | Literaturwissenschaft als Sonderfall? | Wissenschaft und ihre Kontexte | Normative Aspekte der Wissenschaftsforschung | Was bleibt?

"Wir hätten uns ein noch entschiedeneres Interesse an den weiterführenden Fragen der Wissenschaftsforschung gewünscht", heißt es in der Vorbemerkung des Herausgebers im Hinblick auf den überwiegenden Anteil der fachhistorisch orientierten Tagungsbeiträge. Wissenschaftsforschung als ein "Miteinander von Wissenschaftstheorie, Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsgeschichte" zu erproben, war das zentrale Anliegen der Veranstaltung (S. XIII). Mit der Konzeption dieses 21. DFG–Symposions war es den Kuratoren auf den Versuch angekommen, so Jörg Schönert in seiner anschließenden Einführung, "Problemformulierungen und Verfahren zur Problembearbeitung von der Meta-Ebene der allgemeinen Wissenschaftsforschung auf die disziplinenspezifische Ebene zu übertragen und zu modifizieren [...] – nicht zuletzt mit dem Ziel, daß disziplinäre Entwicklungen durch Wissenschaftsforschung ausgelöst und begleitet werden" (S. XX). Und man wird Schönert sofort zustimmen, wenn er diese Zielorientierung auch damit begründet, dass die "gegenwärtigen wissenschaftspolitischen Bestrebungen zur umfassenden Leistungsbewertung von Wissenschaften [...] auch die Philologien veranlassen (müßten), aus sich heraus die wissenschaftswissenschaftlichen Grundlagen für die Evaluation und Hochschulplanung zu erarbeiten" (S. XXIII).

Ein neuer Gegenstand
für die Wissenschaftsforschung

Der Eröffnungsbeitrag über Autonomie oder Abhängigkeit: Externe Einflüsse auf Gehalt und Entwicklung wissenschaftlichen Wissens von Renate Mayntz, deren Arbeiten maßgeblich zur Etablierung der Wissenschaftsforschung beigetragen haben, bezieht sich ausdrücklich auf beide Wissenschaftsklassen. Nach einem informativen Überblick über die Theoriegeschichte ihrer eigenen Disziplin führt Mayntz exemplarisch vor, dass Fragestellungen und Verfahren der bislang vor allem an den Naturwissenschaften interessierten >Wissenschaftswissenschaft< auch auf geisteswissenschaftliche Disziplinen angewandt werden können. Am Beispiel zweier externer Faktoren – der "Nachfrage aus der Praxis" und der "Wirkung einer mit dem Anspruch auf absolute Geltung auftretenden politischen Ideologie" (S. XXXVI) – erläutert sie die Rolle der Medien als "selektive Verstärker" für die Problemorientierung der Wissenschaften im Allgemeinen und die Wirkung des Marxismus-Leninismus als "Ordnungstheorie" für die Gesellschaftswissenschaften in der DDR im Besonderen.

Dessen enge Vorgaben für ihr Themenprofil hätten in den Philologien die "Konzentration auf den eigenen Sprachraum" bewirkt und auf diese Weise "zum Vorherrschen einer >Nationalphilologie<" geführt (S. XLI). Zwar leuchtet es unmittelbar ein, dass der "paradigmatische Kern" von Naturwissenschaften weit weniger vom Marxismus-Leninismus beeinflusst werden konnte, aber seine Rolle in den Geisteswissenschaften als eine weichenstellende wird hier zu hoch veranschlagt. Die Stabilität einer traditionell nationalphilologischen Orientierung der Philologien kann mit den Geltungsansprüchen dieser Ideologie nicht hinreichend erklärt werden. Denn in beiden deutschen Staaten haben sich die Nationalphilologien gegen großangelegte Versuche ihrer Umstrukturierung in allgemeine Literatur- und Sprachwissenschaften, die es in den 70er Jahren gegeben hat, behaupten können, und es ist die Wirkung jeweils mehrerer externer und interner Faktoren, die dabei zu Buche geschlagen haben. Abschließend fasst Mayntz zusammen: "Wissenschaft ist beides – abhängig und unabhängig zugleich" (S.XLII).

Vier Sektionen

Das Symposion tagte in vier Sektionen:

I. Modelle und Kategorien für die Wissenschaftsforschung zur Literaturwissenschaft
(Kurator: Rudolf Stichweh)

II. Fallstudien zur Geschichte der Literaturwissenschaft 1890–1950
(Kurator: Jürgen Fohrmann)

III. Fallstudien zur Geschichte der Literaturwissenschaft 1950–1995
(Kurator: Frank-Rutger Hausmann)

IV. Normative Aspekte in der Wissenschaftsforschung
(Kurator: Lutz Danneberg)

Bibliotheken – Archive – Sammeln –
Wissen – Verbreiten – Streiten

Nach Gründen für das asymmetrische Verhältnis der Wissenschaftsforschung zu den Natur- und den Geisteswissenschaften fragt Rudolf Stichweh in seiner Einführung zur ersten Sektion und weist auf grundlegende Differenzen hin. Während sie in den Naturwissenschaften der "Popularisierung und Propädeutik" diene, mithin für den Zugang eines interessierten Publikums zum Verständnis dieses Wissens sorge (S. 4), sei gerade die Literaturwissenschaft auf solche Vermittlung nicht angewiesen. Während ein Wissenschaftsforscher der Naturwissenschaften "unweigerlich aus der von ihm beobachteten Disziplin" ausscheide, sei ein Wissenschaftsforscher der Literaturwissenschaften "in der Regel an einem Wiedereintritt in die Disziplin" interessiert und wolle sein Wissen "für deren systematische Weiterentwicklung geltend machen" (S. 4).

Aber selbst wenn auf Seiten der Literaturwissenschaft deshalb kaum Interesse an einer sie erforschenden, ausdifferenzierten Wissenschaftsforschung bestehe, sei zu erproben, ob Theorien und Verfahren dieser Disziplin nicht Einiges zur Erforschung der Literaturwissenschaften beitragen. Etwa: Können Geisteswissenschaften "eine Mikrosoziologie des Archivs und der Bibliothek als [...] Orte empirischer Arbeit in den Wissenschaften entwerfen" oder einen "ethnologische[n] Blick auf die Praxis der Hermeneutik" richten, "um die Geisteswissenschaften besser zu verstehen als sie sich selbst" (S. 5)?

Im ersten Beitrag zu dieser Sektion fragt Thomas Broman aus amerikanischer Perspektive danach, wie es der deutschen Literaturwissenschaft mit ihrem esoterischen Wissen gelungen sei, sich als Wissenschaft zu entfalten und als Autorität zu legitimieren. On the Epistemology of Criticism. Science, Criticism an the German Public Sphere 1760–1800 ist ein Beitrag über die Entstehung wissenschaftlicher Autorität als einer Form öffentlichen Wissens und knüpft an aktuelle Forschungen zur Popularisierung des Wissens in den USA an. Welche Rolle Bibliotheken und Archive für die Struktur des wissenschaftlichen Gedächtnisses spielen, untersuchen Elena Esposito und Michael Espangne in ihren Aufsätzen über Kritischen Sinn und die Fähigkeit zum Vergessen. Das Verhältnis zu Texten bei der Veränderung von Struktur und Semantik der Gesellschaft und über Raum und Zeit als Kategorien in der Wissenschaftsforschung. An der von Esposito vorgenommenen "Verteilung historischer Zäsuren" wurden in der Diskussion Zweifel angemeldet, ebenso an Espagnes These, dass die Ordnung von Archiven und Bibliotheken eine ausschlaggebende Rolle für die Arbeit des Historikers spiele. Darüber, dass wissenschaftliches Geschichtswissen davon abhängig sei, welche Bücher und welche Archivalien aufbewahrt und gelesen werden, wurde man sich ohne Weiteres einig.

Gustav Frank schlägt mit Problemlösen und Dissens: Beschreibungsmodelle und Bewertungskriterien für Disziplinen im Wandel im Anschluss an die Konflikttheorie von Randall Collins ein Modell zur Erforschung der Literaturwissenschaft vor, mit dem er "neue Erklärungen für einige bekannte Phänomene" anbieten möchte
(S. 69). Ausgehend von Collins >Gesetz der kleinen Zahl<, das als Regulativ angenommen wird und disziplinären Wandel erklärbar machen soll, fragt Frank, ob die Literaturwissenschaft seit den 70er Jahren tatsächlich so unübersichtlich sei, wie sie sich seither wahrnimmt und beschreibt oder ob das Fach nicht eher "von einer Konfliktstruktur organisiert" werde, "die einerseits Ausdifferenzierung [...] reguliert" und "andererseits eine rational sinnvolle Prozessualität darstellt" (S. 66). Vom Konflikt als Faktor für disziplinären Wandel auszugehen, erscheint als heuristisch sehr fruchtbar. Allerdings wurde in der Diskussion eingewandt, dass dieser Ansatz dem "nicht-konfligierende(n) Nebeneinander von Schulen, Lehrmeinungen, Texten" in Disziplinen nicht gerecht werde (S. 123). Die Identität eines Fachs stelle sich weniger auf der Ebene des Streits über Methoden her als über institutionelle Entscheidungen. Es bleibe noch offen, "wie sich im Rahmen von wissenschaftsgeschichtlichen Konflikt-Modellen Innovationen beziehungsweise der Niedergang von Theorien erklären lassen" (S. 121).

Auch Walter Erhart geht es mit Generationen – zum Gebrauch eines alten Begriffs für die jüngste Geschichte der Literaturwissenschaft um ein Modell zur Erklärung wissenschaftlichen Wandels. Er wählt die >Generation<, weil sie ihm erlaube, "Institutionen-, Theorie- und Personengeschichte" aufeinander zu beziehen.

Welche Möglichkeiten besitzt eine neue Generation, um >alte< Bestände der Wissenschaft zu delegitimieren, Neues aber – und damit auch sich selbst – zu legitimieren? Welche Selektionskriterien stehen jeweils zur Verfügung, um einen generationsspezifischen Wandel in der >Organisation< des Fachs auch innerhalb der Wissens- und Leistungsformen anzumelden? Warum und auf welche Weise schließlich werden bestimmte Wissensformen herausgegriffen und ausgewählt? (S. 87).

Am Beispiel des Postrukturalismus verweist Erhart darauf, dass eine >Generation< sich auch unabhängig vom Geburtsjahrgang formieren könne; der "Generationszusammenhang" stelle sich anhand "einer gemeinsam erfahrenen akademischen Sozialisation" her (S. 95). Es bleibt jedoch fraglich, ob der Begriff der >Generation<, dessen Gebrauch viel zu stark an das Lebensalter der Protagonisten gekoppelt ist, für die Erklärung wissenschaftlichen Wandels eine größere Reichweite hat als solche wie "Netzwerke, Moden oder [...] Episteme", die in der Diskussion dagegengehalten wurden (S. 124). Der Vorteil, mit dem Begriff der >Generation< zu arbeiten, wurde zwar darin gesehen, dass er "quer zu Paradigmen, Disziplinen oder politischen Einstellungen" gruppiere und einen "akademischen Habitus" beschreibbar mache, der auf "lebensgeschichtlichen Erfahrungen" beruhe. Dass dieser aber nachweisbar "zum wissenschaftlichen Niederschlag in Texten" führe, wurde bestritten (S. 124).

Der ethnologische Blick, dem Erhard Schüttpelz in "[...] fast ein Handbuch zu finden". Zum >double bind< der Hermeneutik Heinrich Bosses und Friedrich Kittlers um 1980 Diskursanalyse und Anti-Hermeneutik unterzieht, macht es sich im stark ironisierenden Zugriff wohl doch etwas leicht und führte in der Diskussion zur berechtigten Frage, welche Rolle "der Ethnographie in der Wissenschaftsgeschichte und für die Wissenschaftsforschung" denn zukäme (S. 124). Es wäre sicher interessant gewesen, aus ethnographischer Sicht erklärt zu bekommen, worauf der Erfolg der in Abrede gestellten Konzepte beruht.

Literaturwissenschaft als Sonderfall?

Kein Paradigma

In der Wissenschaftsforschung wird von Fallstudien vor allem erwartet, dass sie zur "Validierung von Konzepten" dienen und Möglichkeiten der "Generalisierung" erbringen (S. 129). Sie "haben nur dort Bedeutung, wo eine formale Art der Rekurrenz erzwungen wird" (S. 131). Die Frage, mit der Jürgen Fohrmann die zum größten Teil aus Einzelfall-Studien bestückte zweite Sektion einleitet, richtet sich also darauf, ob es >Fallstudien< im hier untersuchten Bereich überhaupt geben kann und er stellt fest: "Zu keiner Zeit ist in den Kulturwissenschaften ein Paradigma >wohldefiniert<, weiß eine Disziplin, was sie ist, was sie soll, wie sie ihren Umfang begrenzen kann usw." (S. 131).

Deshalb schlägt er für die Diskussion vor, das Konzept >Fallstudie< weitgehend zu verabschieden und statt dessen die vorgelegten Studien zu "Konfigurationen" zu ordnen, in denen die >Einzelfälle< als "ähnliche" behandelt werden können (S. 131). Ein Zusammenhang zwischen ihnen, die allesamt über die Situation des Fachs "nach der anti-philologischen Wende" handeln, ließe sich womöglich herstellen, wenn sich die "wissenschaftlichen Konzept- und Ethosdifferenzen [...] in Unterscheidungen einbauen lassen, die auf einer höheren Abstraktions- oder Beobachtungsebene die Einheit der Differenzen im Unterschied zu einem vorausgehenden oder nachfolgenden Schnitt angeben können" (S. 133).

Unbesehen aller von Fohrmann erhobenen und einleuchtenden Zweifel kann der nachfolgende Eröffnungsbeitrag von Klaus Weimar über Die Begründung der Literaturwissenschaft eine Fallstudie genannt werden, sofern man das Kriterium der Generalisierbarkeit zugrunde legt. Der >Fall< ist allerdings kein Geringerer als die Literaturwissenschaft selbst, in deren Begründung Weimar ein Muster entdeckt, dass seit etwa 1890 bis in die Gegenwart auszumachen ist. An den Programmschriften von Reformern, die am Ende des 19. Jahrhunderts die Literaturgeschichte als (Prinzipien-)Wissenschaft begründen wollten, weist er die Logik ihres Scheiterns nach. "Thatsachen" oder "Gesetze" im Sinne des geltenden Wissenschaftsverständnisses waren nämlich in der Literatur und ihrer Geschichte schlicht nicht auffindbar: "Die Erklärung objektiver Eigenschaften eines Textes durch etwas, das nur interpretativ aus ihm selbst abgeleitet werden kann, ist keine kausale Erkenntnis, sondern ein ganz ordinärer Zirkelschluß" (S. 145).

Dennoch – oder mit Weimar man muss wohl sagen: gerade deswegen – seien diese Programme "Gründungsurkunde(n) einer Wissenschaft neuen Typs", wenn auch nur im "historischen", nicht "im logischen oder wissenschaftstheoretischen Sinne" (S. 147). Denn mit seither immer schneller aufeinander folgenden Varianten, ihren Status als Wissenschaft zu begründen, habe die Literaturwissenschaft "ihre Selbstthematisierung institutionalisiert", ohne dass "sich die Struktur dieses Wissenschaftstyps verändert hätte" (S. 149); ihre wechselnden Selbstbegründungen seit 1890 können auch nicht als jeweilige "Ablösung eines die Disziplin konstituierenden Sets von als relevant geltenden Fragestellungen und Methoden der Beantwortung durch ein anderes" beschrieben werden, denn der "neue Wissenschaftstyp" habe "weder den alten zum Verschwinden gebracht noch ein verbindliches >Paradigma< oder eine allgemein akzeptierte >disziplinäre Matrix< etabliert". "Die Literaturwissenschaft ist nicht einmal eine Mehrparadigmenwissenschaft, sie ist eine paradigmenlose" (S. 149).

Was folgt daraus für eine Wissenschaftsforschung zur Literaturwissenschaft, die – wie nach diesem Beitrag deutlich geworden ist – nicht "in den Modellen der Wissenschaftsentwicklung unterzubringen ist, wie sie von der Wissenschaftsforschung entworfen worden sind" (S. 137)? Ist die Literaturwissenschaft ein Sonderfall in den (Geistes-)Wissenschaften?

Tradition, Innovation und ihre Bedingungen

Mit ihrer These, dass "die Konstruktion des abzulösenden Forschungsprogramms, vor allem aber die der eigenen Vorläufer nicht in der Entstehungs-, sondern erst in der Konsolodierungsphase des eigenen Programms vorgenommen wird" (S. 151), wollen Tom Kindt und Hans-Harald Müller die Rolle Diltheys für die Geistesgeschichte neu bewerten und darüber hinaus generalisierbare Aussagen über die Entwicklung von Forschungsprogrammen treffen. Anhand von 34 Rezensionen zu Diltheys Essaysammlung "Das Erlebnis und die Dichtung", die Kindt / Müller entsprechend der unterschiedlichen Bezugnahmen auf Dilthey gruppiert haben, wird festgestellt, dass dessen Inanspruchnahme als Vorläufer "mit den Legitimationsversuchen des geistesgeschichtlichen Programms" zusammenhinge (S. 168).

Konstruierte Ahnen seien "retrospektive Selbstzuschreibungen" und haben ihre "Funktion im wesentlichen in der Erzielung von Distinktionsgewinnen" (S. 171). Dass der Verweis auf >Vorläufer< mit hoher Reputation von ersten Begründungen für neue Forschungsprogramme entlastet, wurde in der Diskussion als verallgemeinerbar herausgestellt. Es müsse jedoch "deutlicher unterschieden werden, welche Variante der >Geistesgeschichte< sich im einzelnen auf Dilthey berufe. Auch sei "die intendierte Erschütterung der Vorläuferthese durch eine Analyse der Rezensionen [...] kaum zu bewerkstelligen" (S. 273).

Am Beispiel von Stilforschung und Literatursoziologie zwischen 1910 und 1930 geht Annette Simonis der Frage nach, wie Neues sich durchsetzt. Sie untersucht die Bedingungen für Paradigmatische Innovationen und interne Differenzierung, indem sie entsprechende wissenschaftstheoretische Annahmen von Kuhn, Luhmann und Toulmin übernimmt und deren Reichweite für die Erklärung eines germanistikgeschichtlichen Problems testet. Aber gerade dadurch wurde erkennbar, dass der Begriff >Paradigma< "Grenzen zwischen einzelnen Positionen" unterstellt, "die sich in dieser Eindeutigkeit und Schärfe nicht aufrechterhalten" ließen. In der Diskussion wurde daher vorgeschlagen, Begriffe wie diesen zwar zu benutzen, sie allerdings "im Hinblick auf ihre zu erwartende Erklärungskraft nicht zu überfordern" (S. 274).

Was die von Gundolf und Kantorowicz praktizierte, publikumswirksame Abgrenzung von traditioneller Philologie im Fach bewirkte, behandelt Rainer Kolk in Eine(r) Fallstudie zum disziplinären Umgang mit Innovation. Deren immenser Erfolg habe gerade im Bruch "mit basalen methodologischen Prämissen" der akademischen Zunft bestanden und deshalb für "zentrale Irritation" gesorgt (S. 204). Die "Kommentierungen" ihrer "Publikationen verweisen darauf, daß von ihnen Reflexion auf regulative Prinzipien disziplinärer Forschung stimuliert wird" (S. 206).

Keine Fälle

Der sehr umfangreiche Beitrag von Ralf Klausnitzer ist deshalb hervorzuheben, weil er sich in wünschenswerter Gründlichkeit mit Fallstudien als Instrument der interdisziplinären Wissenschaftsforschung auseinandersetzt. Dabei grenzt er sich von den ">Interdisciplinary Science Studies<" ab, die "im Gegensatz zur klassischen >History and Philosophy of Science< den kulturellen Kontext der Wissenschaftsentwicklung in den Blick nehmen" (S. 211). Indem Klausnitzer klar nachweist, dass es im Rahmen einer Fallstudie unmöglich sei, "die komplexen Zusammenhänge und Motive aller oder auch nur einiger individueller oder kollektiver Akteure der wissenschaftlichen Kommunikation zu rekonstruieren" (S. 217), bringt er das Problem auf den Punkt: Fallstudien können präzise das, was sie sollen, nämlich Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte verknüpfen, gar nicht leisten.

Mit zunehmender Komplexität des zweckmäßig normierten und vereinfachten Fallbeispiels droht – nicht zuletzt aufgrund wissenschaftshistorischer Detailarbeit – eine immer geringere Eignung des Exempels für einen Vergleich verschiedener wissenschaftstheoretischer Konzeptionen beziehungsweise für die Darstellung des Allgemeinen im Besonderen.

Klausnitzer arbeitet heraus, dass Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte sich logisch im Verhältnis der gegenseitigen Herausforderung befinden müssen: Auf "eine theoretisch informierte Wissenschaftsgeschichtsschreibung" könne "nicht verzichtet werden, um die Grenzen idealisierter Wissenschaftsmodelle aufzuzeigen"; für die Wissenschaftstheorie indes "trägt eine immer detailliertere Untersuchung exemplifizierender >Fälle< [...] dazu bei, Aussagen über den rationalen Status von Theorien und Methodologien an geschichtliche Befunde zu binden" (S. 218).

Der im zweiten Teil des Beitrags materialreich vorgestellte >Fall< einer interdisziplinären Gruppe von Wissenschaftlern, die zum Gestaltproblem gearbeitet haben, enttäuscht ein wenig gegenüber der Brillanz der theoretischen Vorarbeit. Jedoch habe Klausnitzer damit, so die Diskussion, einen "signifikante(n) Fall für gescheiterte Transdisziplinarität" vorgeführt, der deshalb scheitern musste, weil den "Beobachtungen keine Heuristik und keine Leitunterscheidungen" zugrunde gelegt worden seien, "was im Rahmen eines modernen Wissenschaftssystems notwenig gewesen wäre" (S. 278).

Mit der Forschungsförderung von Literaturwissenschaft / Germanistik im Dritten Reich durch die DFG befasst sich der letzte Beitrag dieser Sektion von Lothar Mertens. "Die Praxis der Forschungsförderung in der NS-Zeit wurde von den Diskussionsteilnehmern als eine uneinheitliche Praxis bewertet, da diese in hohem Maße von einzelnen Akteuren [...] abhängig gewesen sei" (S. 279).

Wissenschaft und ihre Kontexte

Auch die Beiträge für die dritte Sektion sind so unterschiedlich ausgefallen, dass die aus >Fallstudien< "ableitbaren allgemeinen Strukturelemente [...] noch herauszuarbeiten" seien, so Frank-Rutger Hausmann in seiner Einführung. Die Heterogenität ist zweifellos dadurch begünstigt, dass es in diesen >Fallstudien< um Literaturwissenschaft in je anderen nationalen und politischen Kontexten gehen sollte und sich die >Nationalphilologien< schon durch "ihre jeweilige Einbindung in unterschiedliche Kulturräume" voneinander unterscheiden (S. 289).

Stefan Scherer verortet das Konzept von Peter Szondi im Kontext der westdeutschen Nachkriegsgermanistik als Philologische Modernisierung in der Restauration. Zu den Problemen, mit denen sich die Wissenschaftsforschung befasst, rechnet Scherer auch "psychohistorische Faktoren" als Teil der "Sozialisationshintergründe bei der Produktion, Organisation und Darstellung des philologischen Wissens", so dass es ihm selbstverständlich erscheint, den "philologischen Fortschritt" bei Szondi mit dessen "jüdische(r) Herkunft" zu verbinden (S. 312). Ein Zusammenhang, der sich vermuten lässt, für den Scherer jedoch keine Nachweise liefert.

Mit seinem Beitrag über Kritische Philologie heute plädiert Christoph König dafür, das kritische Potential der Wissenschaftsgeschichte als Intervention in die eigene hermeneutische Arbeit einzubringen, ihren selbstreflexiven Impuls zu nutzen.

Erfahrungen mit der eigenen Arbeit zum "Konstanzer Konzil" reflektiert Thomas Rathmann in seinen Überlegungen Zum Verhältnis von Disziplinarität und Interdisziplinarität, und er macht deutlich, dass sich die Defizite in der kategorialen Begründung dieser Relation sowohl bei der "Um- und Neuorganisation der Universitäten in den neuen Bundesländern" (S. 342) als auch in der gängigen Berufungspraxis niederschlagen. Dass >Interdisziplinarität< mehr als eine Zierde von Forschungsanträgen sein kann, wenn z.B. ein Gegenstand der Geschichtswissenschaft und der Theologie literaturwissenschaftlich bearbeitet wird, wird man nach diesem Beitrag nicht mehr bezweifeln.

Am Beispiel der USA erörtert Peter Uwe Hohendahl die Nationale Ausdifferenzierung der Germanistik und korrigiert dabei die Annahme, nach der das Fach von seinem deutschen Ursprungskontext geprägt sei, mit dem Nachweis, dass "die amerikanische Germanistik sich im Rahmen der amerikanischen Universität entwickelt hat" und sich deshalb in Profil und Forschungsorientierung beträchtlich von der deutschen unterscheide (S. 359).

Larissa Polouboiarinova vergleicht die >Bachtinologie< in der westlichen (insbesondere deutschen) Literaturwissenschaft und in Postsowjetrußland und zeichnet damit eine turbulente Rezeptionsgeschichte Bachtins nach, dessen "Konzepte und "Gedankengänge [...] aus den späten 1920er Jahren stammten" und "zur Zeit ihrer Rezeption im Westen hoffnungslos veraltet" waren (S. 387). Nicht zuletzt aber deshalb, weil der Name Bachtin im Westen als eine Art Konzeptsymbol gilt, habe sich im postsowjetischen Russland, das Anschluss an die internationale Theorieentwicklung sucht, mittlerweile eine "Bachtinomanie" (S. 393) herausgebildet.

Dagmar Ende und Mandy Funke untersuchen mit Verfahren der Textlinguistik und der Historischen Semantik das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in der Literaturwissenschaft der DDR in den 1980er Jahren am Gegenstand einer Tagungsdokumentation. Sie fragen theoretisch fundiert nach Begründungsstrategien, nach "sich wiederholenden argumentativen Mustern und den so begründeten Wissensansprüchen" (S. 411) und führen damit exemplarisch vor, was literatur- bzw. textwissenschaftliche Kompetenz für wissenschaftsgeschichtliche Arbeit leisten kann. Die hier vorgeführte genaue Arbeit am Text ermöglicht Differenzierungen, die sich einem vorschnellen, ideologiekritischen Urteil entziehen.

Normative Aspekte
der Wissenschaftsforschung

In einer umfangreichen Einführung zur vierten Sektion liefert Lutz Danneberg einen detaillierten Überblick über Standards der Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftstheorie, die in der Wissenschaftsforschung gelten. Danach kann kein Zweifel mehr bestehen: "wenn die Wissenschaftsforschung für die Literaturwissenschaft mehr sein soll als die historiographische Erschließung ihrer Theorie und Praxis [...] dann erscheint jeder wissenschaftstheoretisch und wissenschaftssoziologisch unaufgeklärte Aktionismus als verfehlt" (S. 466, 468); und zwar hoffnungslos.

Detlef Schöttkers Vorschlag, das Arsenal der Wissenschaftsforschung mit Ruhm und Rezeption um Perspektiven aus der Literaturwissenschaft zu ergänzen, wurde in der Diskussion ausgeschlagen. Kategorien wie "Erfolg" und "Reputation" seien "schärfer bestimmt und überdies stärker vereinbar mit dem begrifflichen Inventar der Karriere-Forschung" (S. 601).

Unter dem Titel Gralshüter und ihre Kritiker wird von Sebastian Neumeister eine Kontroverse im Fach Romanistik dargestellt, um Standards für die "Überprüfbarkeit" von Forschungsergebnissen und die "Korrektur von Irrtümern" zu entwickeln (S. 488). Befremdlich daran erscheint allerdings, dass es sich dabei um ein Plädoyer in eigener Sache handelt, wodurch das Kriterium der Objektivität entfällt.

Die Relationen zwischen Wissenschaftsforschung und Philologie untersucht Nikolaus Wegmann in einer "Selbstanwendung" (S. 513) anhand des schematischen, jedoch sehr wirksamen Topos' philologischer Wißbegierde: >Wer von der Sache nichts versteht, macht Theorie<. Weil es für die >Curiositas< "keine festen Grenzen geben (darf)", es bei institutionellen Entscheidungen jedoch zwischen "Wesentlichem und Unwesentlichem" zu unterscheiden gelte (S. 512), fragt Wegmann, wie Wissenschaftsforschung als "Forschung zur Forschung", und damit als "Steuerungsinstanz" vorgehen könne.

Wenn das Fach "die Klärung der facheigenen Neugier außer-wissenschaftlichen Instanzen" überlasse, setze es "die eigene Souveränität aufs Spiel". Es müsse statt dessen "den Schritt zu selbstreferentieller Argumentation" wagen, sich als Wissenschaft selbst wissenschaftlich zu beobachten (S. 513). Auf seiner Suche nach einer "facheigenen Epistemologie" (S. 511) schreibt Wegmann dem "common sense" (S. 521) – in der ethnologischen Perspektive von Clifford Geertz – den Status des "disziplinäre[n] Richtungswissen[s]" (S. 514) zu, das "sich >unmittelbar aus der Erfahrung< ergeben und sich gerade nicht einer gedanklichen oder theoretischen Verarbeitung verdanken (soll)" (S. 521).

Dieses historische Konstrukt als ein "gerade nicht [...] ausformuliertes Wissen" darüber, was die >Sache< sei, müsse sich in der "je aktuelle(n) Situation [...] konkretisieren", und deshalb beschreibe der Topos "ein(en) Lernvorgang" des Fachs über sich selbst (S. 525). Um als solcher die begründete Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu ermöglichen, müsse zwischen Theoriewissen und Sachwissen ein "Widerstand" (S. 526) wirken, der die Spreu vom Weizen trenne und nur gelten lasse, was als bekannte >Sache< "trotz des neuen Wissens wiedererkennbar bleibt" (S. 527). Was Wegmann deshalb empfiehlt, sind wissenschaftshistorisch sachkundige, neues Wissen erzeugende "starke Lektüren", die "in dem, was und wie sie etwas behaupten, möglichst schwer zu widerlegen sind" (S. 528). Dieser Vorschlag hat einiges für sich, selbst wenn man schwerlich davon ausgehen kann, dass alle, die über eine Disziplin und ihr Profil entscheiden, nach den Regeln derselben Vernunft handeln.

Sonka Meier will mit ihren Überlegungen zur Evaluation in der Wissenschaft zu einer "selbstreflexiven Rekonstruktion der >American Studies< [...] beitragen und zudem handlungsorientiert vorgehen". "Elemente für ein zukünftiges Profil" dieses Fachs will sie darüber gewinnen, dass sie "die Erfahrungsbereiche der >American Studies< als Kulturwissenschaft und der systemtheoretisch orientierten Wissenschaftsforschung im Sinne eines gegenseitigen Innovationstransfers aufeinander zu beziehen" (S. 531) versucht. Zu viel, zum Teil falsch verstandene Theorie und ein Versprechen, das ins Ungefähre verschwindet.

Um die zugleich nach außen und nach innen gerichtete Funktion von Leitbegriffe(n) für die Wissenschaftsförderung, nämlich Institutionen und Forschungsprogramme zu begründen und die "programmatische(-) Grundlegung" von Literaturwissenschaft zu steuern, geht es Sandra Pott. Damit die notwendige Verbindung zwischen Wissenschaft und gesellschaftlicher Entwicklung nicht zu einer die Disziplin gefährdenden, zu viel "Instabilität erzeugenden Öffnung [...] in Richtung auf andere Wissenschaften" führe (S. 569), fordert sie vom Fach "eine >Ethik< im Umgang mit wissenschaftspolitischen Begriffen" (S. 571).

Die Tagung endet mit dem gezielt provokanten Beitrag We Are Family – Remix 98. Herausgegeben und eingeleitet von Rembert Hüser. Es ist eine Textinszenierung darüber, wer und was zum Fach gehört und wie darüber entschieden wird. Der Korreferent Wegmann kommentiert, dass ihr Verfasser "sich >sehenden Auges< an den Rand" geschrieben habe" und stellt sich und den Diskussionsteilnehmern die "Frage, welche Probleme und Schwierigkeiten entstehen könnten, wenn man sich eingestehen würde, daß der >Rand< auch immer zur Familie gehöre" (S. 612).

Was bleibt?

In den Beiträgen und Diskussionen dieses Symposions sind einige Probleme grundsätzlicher Art deutlich geworden.

  1. Literaturwissenschaft als Wissenschaftsforschung bzw. als Exportwissenschaft für die Wissenschaftsforschung hat sich erst noch über die Standards des philologischen Sachbezugs zu verständigen. Vor einen aus den USA importierten Trend, Wissenschaft auf Texte zu reduzieren, den "Unterschied zwischen >Literatur< und >Wissenschaft<" tendenziell einzuebnen hat Lutz Danneberg dringend gewarnt (S. 466).
  2. Literaturwissenschaft als Gegenstand der Wissenschaftsforschung zu bearbeiten, erfordert die gründliche Auseinandersetzung mit der Geschichte dieser Disziplin, mit ihren Theorien, Methoden und Instrumentarien. Von den auf dieser Tagung experimentell erprobten, bislang auf die Naturwissenschaften zugeschnittenen Modellen, Kategorien und Normen hat sich gezeigt, dass sie nicht so ohne weiteres an die Literaturwissenschaft angelegt werden können. Erinnert sei nur an die Vorlagen von Klaus Weimar und Ralf Klausnitzer. Würde man sich aber für diesen Weg entscheiden, bliebe die Frage, welchen systematischen und institutionellen Ort diese Wissenschaftsforschung der Literaturwissenschaft haben sollte.
  3. Nikolaus Wegmann hat einleuchtend bezweifelt – und das war auch in der Diskussion mehrfach Konsens – dass sie als Meta-Wissenschaft oder Meta-Theorie von außen in die Disziplin hineinwirken könne. Und, um den von ihm untersuchten Topos zu paraphrasieren, auch das hat man schon gehört: >Wer von der Literatur nichts versteht, macht Geschichte der Literaturwissenschaft.< Oder eben Wissenschaftsforschung (und schreibt sich damit an den Rand des Fachs). Gleichwohl:
  4. Auch das geht nicht so nebenbei, aus einem launigen Interesse heraus.

Die Frage, wie eine theoretisch versierte Wissenschaftsforschung und Literaturwissenschaft zu verbinden und in die Disziplin zu integrieren sei, hat die Tagung noch nicht beantwortet. Aber sie hat sie in aller Deutlichkeit gestellt.


Dr. Petra Boden
Zentrum für Literaturforschung
Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin
Jägerstraße 10 / 11
10117 Berlin

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Ins Netz gestellt am 27.10.2003
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IASLonline ISSN 1612-0442
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Hans-Harald Müller. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.


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