Uwe Böker

Fälschungen und manipulierte Intertextualität




  • C.M. Jackson-Houlston: Ballads, Songs and Snatches. The Appropriation of Folk Song and Popular Culture in British Nineteenth-Century Realist Prose. (The Nineteenth Century Series) Aldershot: Ashgate 1999. 234 S. Hardback. GBP 49,50.
    ISBN: 1-84014-296-0.


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Das Untersuchungsziel

[2] 

Caroline Jackson-Houlston, Senior Lecturer an der Oxforder Brookes University, hat mit Ballads, Songs and Snatches eine Studie zur Intertextualität des traditionellen folk song und der Ballade im britischen realistischen Roman des 19. Jahrhunderts vorgelegt. 1 Wer mehr über den Stand der Intertextualitätstheorie erfahren möchte, wird enttäuscht sein. Außer einem Hinweise auf Jonathan Culler und Mikhail Bakhtin (dies die englische Schreibweise des Namens) wird man in dieser im besten Sinne historisch-empirisch angelegten Studie nichts finden. 2 Es handelt sich eher um eine ausgesprochen quellenintensiv recherchierte Untersuchung, die nicht nur detaillierte Kenntnisse wichtiger Erzähltexte – allerdings vornehmlich bekannterer Autoren wie Sir Walter Scott, Elizabeth Gaskell oder Thomas Hardy –, sondern vor allem auch der umfangreichen publizierten oder noch in den Bibliotheksarchiven schlummernden populären folk songs inklusive musikalischer Aspekte erkennen läßt. Quantitativ gesehen handelt sich bei den in die Romane eingelagerten snatches zwar jeweils um eher geringfügige Textanteile. Dennoch sind die Folgerungen weitreichend:

[3] 
[...] the implications of authorial decisions about how to handle the cultural life of working-class characters within the framework of a broadly realist fiction (or descriptive essays) designed to appeal to a middle-class readership are extremely wide-ranging [...]. (S. 2)
[4] 

Eine materialistisch argumentierende Studie also, die von einem »plot« von Autoren der Elite ausgeht? Sicherlich nicht – dazu am Ende mehr.

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Die Begriffe appropriation und snatches

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Die vom Autor im Titel verwendete Begriffe appropriation und snatches umschreiben metaphorisch den Untersuchungsbefund. Im Unterschied zu intertextuellen Bezügen zwischen Einzeltexten, die als Fortsetzungen, Fortschreibungen, Adaptionen etc. aufeinander antworten, lassen sich im Falle der ballads, songs and snatches nur selten eindeutig identifizierbare Texte als definitive Bezugspunkte benennen. Wegen der mündlichen (und vor allem auch musikalisch realisierten) Weitergabe von folk songs gibt es in der Regel eine Vielzahl von differierenden Intertext-Quellen, deren Wortlaut häufig erst durch den Druck stabilisiert wurde und somit identifizierbar ist. Allerdings haben Autoren wie Scott oder Hardy intertextuelle Referenzen häufig gerade aus solchen Situationen textueller Instabilität geschöpft – auf ihr Erinnerungsvermögen vertrauend oder auch bewußt verändernd, manipulierend. Umso bemerkenswerter ist die Akribie, mit der Jackson-Houlston die möglichen Allusionspartikeln und Referenztexte herauspräpapiert und identifiziert hat. Dabei konnte natürlich die mündlich bedingte, kaum empirisch nachzuweisende Instabilität lediglich indirekt bestätigt werden; die Autorin mußte letztlich auf die gedruckten Quellen rekurrieren. Es handelt sich also durchwegs um intertextuelle snatches (Bruchstücke, aufgeschnappte Brocken, bei Gelegenheit Ergattertes), etwas auf jeden Fall, das – so Scott im Vorwort zu The Chronicles of Canongate (1827) – aus der Erinnerung zitiert werden darf und dessen Wortlaut nicht unbedingt nachgeprüft werden muß.

[7] 

Tatsächlich kann Jackson-Houlston nachweisen, daß Scott die mehr oder weniger präzise zitierten und mit exakten oder erfundenen Quellenhinweisen lokalisierten Intertexte als Marker benutzt, die die ganze Aura einer Vorlage mitzitieren; er ›manipuliert‹ seine Leser, indem er seine Intertexte nach Belieben umformuliert oder sie gar erfindet:

[8] 
[...] although a distinction between ›false‹ and ›real‹ intertexts is a tidy one, all the writers discussed in this book adapt what they allude to suit their own artistic purposes and for their audiences and thus mediate or misrepresent those texts in ways much more drastic than what is implied in the simple transposition of the text to a context alien to the original. (S. 23)
[9] 

In diesem Sinne handelt es sich also um Appropriationen oder ›Kolonialisierungen‹ populärer Volkskultur, deren mediale Funktionen letztlich und sehr allgemein formuliert in der Aufrechterhaltung kultureller Hegemonie beruhen. Oder anders gesagt: die Verfälschung von Textpartikeln oder die erfundene Quellenangabe haben die Aufgabe, die kulturelle Hegemonie der Elite gegenüber der Volks- oder Arbeiterkultur auf diese oder jene Weise zu stabilisieren. Dies ist eine offensichtliche, aber auch bisher im Zusammenhang etwa mit Balladen noch nie so deutlich belegte Erkenntnis, die zweifellos gleicherweise für viele literarische Epochen gelten muß; nicht zuletzt für die hohe Zeit der Allusion und Imitatio, das 17. und 18. Jahrhundert.

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Deshalb stellt sich die Frage, warum Jackson-Houlstons Untersuchung erst mit Scott beginnt. Natürlich, er ist der erste Autor historischer Romane des 19. Jahrhunderts und das Schottland seiner Zeit eine Region mündlicher Tradierung. Aber der folk song in Form der Ballade stellt auch bereits für den Klassizismus eine Allusionspotential dar – man denke nur an John Gays The Beggar’s Opera (1728). Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum nicht der Umgang des 18. Jahrhunderts mit einem Material thematisiert wird, das keinem individuellen Autor, sondern lediglich dem ›Volk‹ zuzurechnen ist und warum auch die Debatte um geistiges Eigentum, Urheberrecht, Plagiat oder Fälschung ausgeklammert bleibt. Da Jackson-Houlston diese Aspekte nicht diskutiert, sollen die in Frage kommenden Zusammenhänge unter Bezug auf die ebenfalls 1999 erschienene Untersuchung von Paul Baines, The House of Forgery in Eighteenth-Century Britain, geklärt werden.

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Fälschungen, Mündlichkeit
und Schriftlichkeit

[12] 

Scott bekennt gelegentlich: »[t]he scraps of poetry which have been [...] tacked to the beginning of chapters [...] are sometimes quoted either from reading or from memory, but, in the general case, are pure invention« (S. 3). Damit bekennt er sich zweifellos der Vortäuschung oder der literarischen Fälschung für schuldig. Das ist erstaunlich angesichts der zeitgenössischen Kritik an den Fälschungen‹ von James Macphersons Ossian, Thomas Chattertons Rowley Poems oder Joseph Ritsons Kritik an den Editionskriterien von Thomas Percys Reliques of Ancient English Poetry (1775) oder John Pinkertons Select Scottish Ballads (1783). Wenn man darüber hinaus bedenkt, daß die britische Öffentlichkeit zeitgleich mit juristisch verhandelten Fällen krimineller Fälschung – der Perrau-Brüder, Mrs. Rudds oder Dr. Dodds – beschäftigt war, 3 stellt sich die Frage: Welchen Stellenwert hatten in der britischen Kultur Diskurse, die den Begriff der juristischen bzw. literarischen Fälschung konfigurieren? Warum konnte Scott seine Fälschungstätigkeit so ungeniert offenlegen?

[13] 

Historisch gesehen scheint das Problem der Fälschung erstmals beim Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit aufzutreten. Wie Bruce O’Brien kürzlich belegen konnte, vertraute man im England des 12. Jahrhunderts, als man aus administrativen Gründen der Schriftlichkeit definitiv einen höheren Rang einräumte, zwar immer noch auf die Geltungskraft mündlicher Zeugenaussagen. Das Problem war jedoch, wie man angesichts verloren gegangener Dokumente Besitzansprüche aus der Zeit vor der normannischen Eroberung legitimieren konnte. Einen Ausweg stellten Fälschungen dar, die wiederum die Basis für eine verbesserte Textkritik bildeten. 4 Während der Regierungszeit von Königin Elizabeth I. wurde der Tatbestand der Fälschung von Dokumenten durch Statut (5 Eliz. C.14) erstmals als kriminelles Delikt eingestuft. Man mußte an den Pranger, konnte lebenslang eingesperrt werden, den Besitz verlieren, die Ohren abgeschnitten bekommen oder die Nase aufgeschlitzt. 5

[14] 

Aber erst mit dem monetären Umbruch Ende des 17. Jahrhunderts, der Gründung der Bank of England, der East India Company, der South Sea Company und diverser anderer Aktiengesellschaften sah man im Fälschungsdelikt eine der »reigning vices of the age« – so James Paterson im Jahre 1732. 6 Dem Gefängnisreformer John Howard zufolge wurde drei Viertel der verurteilten Fälscher von Dokumenten und Geldnoten gehängt, während die Hinrichtungsrate bei anderen Delikten vergleichsweise gering war; das belegen auch neuere statistisch untermauerte kriminologische Untersuchungen über die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. 7

[15] 

Soziokulturell resultiert die Neubewertung des Fälschungsdelikts aus dem Übergang von der als ›solide‹ betrachteten Metallgeldwährung zum Papiergeld, zu Obligationen, Wertpapieren, Schuldscheinen etc.: was handschriftlich gezeichnet werden mußte, machte das zeichnende Individuum verletzlich:

[16] 
In the eighteenth century [...] there was a very marked shift towards a form of financial instrument which required only the cipher of an individual – his signature, rather than his seal, the authority of the hand rather than the authority of a witness. Forgery became a theft of some internal notion of private self. [...] The monetary environment of the early eighteenth century contained both practical (monetary) and symbolic (cultural) risks which forgery exposed. Alongside the perennial search for monetary authenticity, the goal of the inimitable note, there came the need for a perfect, unassailable touchstone of human identity against which all falsifications could be measured. 8
[17] 

Literarische Fälschungen:
Individualität, Eigentum, Eigentümlichkeit

[18] 

Es erstaunt kaum, daß die juristischen und kulturellen Diskurse, die die Konzepte von Authentizität, Eigentum, Individuum oder Fälschung thematisieren, im späten 17. und im 18. Jahrhundert konvergieren. Nicht nur vor Gericht, sondern auch in der theologischen und der philologischen Textkritik im engeren Sinne fragt man nach der Zuverlässigkeit von Zeugnissen: des Neuen Testaments, klassischer Literatur, englischer Autoren wie Chaucer oder Shakespeare. Das von einem Individuum Geschaffene, einem benennbaren Autor Zuzuschreibende ist, so weiß man, sein Eigentum, das er einem Verleger veräußern kann; ob das Recht an diesem Eigentum endgültig auf den Verleger in Form des ›ewigen Verlagsrechts‹ übergeht, bleibt für Jahrzehnte eine umstrittene Frage, muß hier aber nicht interessieren. Jedenfalls betont schon John Dennis in The Characters and Conduct of Sir John Edgar, Call’d by Himself Sole Monarch of the Stage in Drury-Lane; and his Three Deputy Governors. In Two Letters to Sir John Edgar (1720) den Unterschied zwischen Geld- oder Landbesitz und geistigem Eigentum:

[19] 
I was formerly so weak as to think, that nothing was more a Man’s own than his Thoughts and Inventions. Nay, I have been often inclin’d to think, that a Man had absolute Property in his Thoughts and Inventions alone. I have been apt to think, with a great Poet, that every Thing else which the World calls Property, is very improperly nam’d so [quoting Horace’s Epistles, ii.2]. The Money that is mine, was somebody’s else before, and will be hereafter another’s.
Houses and Lands are certain to change their Landlords; sometimes by Gift, sometimes by Purchase, and sometimes by Might; but always, to be sure, by Death. But my Thoughts are unalterably and unalienably mine, and never can be another’s. [...] I have therefore formerly been inclin’d to think, That nothing ought to be so sacred as a Man’s Thoughts and Inventions: And I have more than once observ’d, That the impudent Plagiary, who makes it the Business of his Life to seize on them, and usurp them, has stuck at no other Property, but has dar’d to violate all that is Sacred among Men. 9
[20] 

Raubdruck und Plagiat sind aber im juristischen Sinne Fälschungen. Das Grub-street Journal fordert daher satirisch im November 1731 ein Gesetz zum Schutz vor literarischer Fälschung:

[21] 
if any person shall be hereof duly convicted [affixing the names of deceased persons in order to raise the price of writings], he or she shall suffer the punishment on persons convicted of forgery, and shall be held, accounted, and deemed guilty of forgery to all intents and purposes. 10
[22] 

Der Zusammenhang zwischen juristischen, ökonomischen und literarischen Sachverhalten wird schließlich unmißverständlich deutlich in der ›Declaration‹, mit der Alexander Pope seine Dunciad (1729) beschließt:

[23] 
Whereas certain Haberdashers of Points and Particles[...] have taken upon them to adulterate the common and current sense of our Glorious Ancestors, Poets of this Realm, by clipping, coining, defacing the images, mixing their own base allay or otherwise falsifying the same; which they publish, utter, and vend as geniune [...] Now we, having carefully revised this our Dunciad [...] do declare every word, figure, point, and comma of this impression to be authentic: And do therefore strictly enjoin and forbid any person or persons whatsoever, to erase, reverse, put between hooks, or by any other means directly or indirectly change or mangle any of them. 11
[24] 

Wie Baines zeigen konnte, konvergieren die juristischen und die kulturellen Fälschungs- und Authentizitätsdiskurse immer deutlicher. Die Fälle, die gegen Ende des Jahrhunderts das literarische Leben nicht nur Großbritanniens, sondern des Kontinents erschütterten, betrafen einerseits den Chaplain-in-Ordinary seiner Majestät, Dr. William Dodd, der am 27. Juni 1777 wegen Fälschung gehängt wurde, sowie andererseits die Ossian-Bearbeitungen und ›Fälschungen‹ James Macphersons sowie die poetischen Texte des Thomas Chatterton. Sie waren Scott, der mit seinem folk song-Textvorlagen manipulierend umging, durchaus bekannt. So hat er etwa den Bericht des Committee of the Highland Society of Scotland wie auch Malcolm Laings zweibändige annotierte Ausgabe The Poems of Ossian (beides 1805) in der Edinburgh Review vom Juli 1805 besprochen. Der schottische ›Barde‹ habe der europäischen Literatur eine neue poetische Dimension erschlossen, obwohl man der Idee, »that Fingal lived, and that Ossian sung«, abschwören müsse. 12

[25] 

Baines beschäftigt sich im fünften Kapitel seines Fäschungsbuches allerdings nur mit der Reaktion Dr. Samuel Johnsons auf Macphersons Ossian-Texte und mit der Reise, die Dr. Johnson zusammen mit James Boswell im Sommer 1773 durch die Highlands unternommen hatte (der Reisebericht erschien 1775 unter dem Titel Journey to the Western Islands of Scotland). 13 Dr. Johnson hatte die Frage der Authentizität auf seiner Reise »by a very strict examination of the evidence offered for it« 14 und auf der Basis der juristischen Evidenzkriterien von Sir Geoffrey Gilberts Law of Evidence (1726) geprüft. Er hatte dann gefordert, Macpherson solle bei einem Londoner Buchhändler ein Originalmanuskript zur Einsicht deponieren, um die Frage der Authentizität eindeutig klären zu können. Für Dr. Johnson steht die Frage der individuellen Autorschaft, die er im Falle von Homer für Ilias und Odyssee bejahte, auf dem Spiel, und damit das Problem von Individualität, Eigentümlichkeit und Eigentum. 15 Aus Dr. Johnsons Perspektive besitzt nur das geschriebene Wort und der einem individuellem Autor zuzuschreibende Text Authentizität, während die mündliche Tradierung von Themen und Stoffen durch »illiterate« oder »barbarous people« durch Instabilität gekennzeichnet ist (vgl. Baines, S. 116). Diese klare Differenzierung bedeutet: mündlich tradierte ›Texte‹ sind frei disponierbar und im Kontext politisch-sozialer Gegensätze und kultureller Hegemonien »kolonialistisch« instrumentalisierbar, mit Jackson-Houlston: »The idea that whoever controlled the people’s songs was the true popular preacher was one taken seriously in the nineteenth century« (S.175).

[26] 

Der »kolonialistische« Umgang
mit Volksliteratur

[27] 

Tatsächlich war solch »kolonialistisch«-manipulierender Umgang mit populärer, vor allem mündlicher Kultur bereits im 18. Jahrhundert nichts Neues. So kann man im Falle von Allan Ramsays »old songs« in seiner Sammlung The Tea-Table Miscellany (1724) die »Kennzeichen [seiner] korrigierender Feder« feststellen; 16 der junge James Macpherson wird von John Home 1759 ermutigt, Texte aus der gälischen Sprache des Hochlands ins Englische zu übersetzen, so daß er patriotisch aus disparaten Quellen ein »fragmentarisches« nationales Epos zusammenfügt, und später erfindet er, zur weiteren Suche ermuntert, Fingal und Temora; 17 und der Herausgeber der bedeutsamsten Balladensammlung des 18. Jahrhunderts, der Reliques of Ancient English Poetry, 18 Bischof Thomas Percy, rettete zwar im Jahre 1753 bei einem Freund in Shropshire ein altes Folio-Manuskript, dessen Papier man zum Feueranzünden benutzte, vor der weiteren Vernichtung, veränderte allerdings die vorgefundenen ›Originaltexte‹ für die Edition von 1765 selbstherrlich.

[28] 

Manuskriptbesitz bedeutete, wie das Beispiel Percy zeigt, Herrschaftsgewalt über Texte. Die englischen antiquarians, die seit der Gründung der Society of Antiquaries Ende des sechzehnten Jahrhunderts an der Ausarbeitung einer Geschichte der nationalen Kultur arbeiteten, waren nicht nur an Artefakten, sondern auch an alten Manuskripten interessiert: privater Besitz von MSS bedeutete gleichzeitig textwissenschaftliches Monopol, das eigenmächtige Veränderungen erlaubte, im Falle Percys die »Schaffung eines ekklektischen Textes«, 19 andererseits jedoch auch von Fälschungen. 20 Deshalb konnte der Textkritiker Joseph Ritson den Herausgeber Percy des eigenmächtigen Umgangs mit dem Manuskript bezichtigen, dessen Existenz in Zweifel ziehen und den Text rundweg als »Fälschung« bezeichnen:

[29] 
the labour of our reverend editour in correcteing, refineing, improveing, completeing, and enlargeing, the orthography, grammar, text, stile, and supplying the chasms and hiatuses, [which] valdè deflenda! must have equal’d that of Hercules in cleaseing the Augean stable: so that a parcel of old rags and tatters were thus ingeniously and hapyly converted into an elegant new suit. 21
[30] 

Andererseits bezeichnete das Gentleman’s Magazine die Sammlung (kolonialisierend?) kurz nach ihrem Erscheinen als »a considerable addition to our stock of literature«, 22 und William Wordsworths und S. T. Coleridges Lyrical Ballads (1798) sind ebenso wie Scotts Waverley-Romane ohne Percys Edition so nicht denkbar. 23 John Hales und Frederick Furnivall, die im späten 19. Jahrhundert Einsicht in Percys Manuskript erhielten und Bishop Percy’s Folio Manuscript (1867–68) veröffentlichten, schrieben allerdings, Percy habe das Folio-MS betrachtet »as a young woman from the country [...] whom he had to fit for fashionable society«. 24 Also ein durchaus lockerer, patriarchaler Umgang mit der Unterschicht, um sie gegebenenfalls in der vornehmen Gesellschaft präsentieren zu können.

[31] 

Damit werden zwei Arten des Umgangs mit volkstümlichen Texten deutlich: zum einen die im modernen Sinne textkritisch-objektivierende, zum anderen die ideologisch-legitimierende, die wie Macpherson oder Percy von einer Barden- oder Minstrel-Überlieferung ausgeht und »Fälschung« im Sinne einer erwünschten nationalen Kanonbildung rechtfertigt. Zwar basiert Percys Vorgehensweise mit Jackson-Houlston auf der programmatischen Trennung zwischen »the people« und »the public«: »the latter being (implicitly) defined as those who can read, and can afford to buy books or subscribe to libraries« (S. 4), andererseits ist der etwa bei Scott sichtbare lockere Umgang mit den Quellen Resultat einer systemreferentiellen Intertextualisierung, die auf dominante kulturelle Diskurse der ›Englishness‹ Bezug nimmt. Schon bei Percy handelt es sich um einen »nationalist antiquarian approach to cultural heritage«, mit Groom: »[l]ocal and national songs, ballads, and romances became objects of antiquarian and editorial scrutiny: exhibits in the cultural museum of Englishness and choice examples of the Gothic temperament«. 25

[32] 

Allusionsverfahren bei Scott
und seinen Nachfolgern

[33] 

Bereits vor mehr als siebzig Jahren hatte T. B. Haber festgestellt, dass die »Old Ballad chapter tags« zum größten Teil Scotts eigene Erfindung seien. 26 Im Falle von Scott und der schottischen Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts muß man jedoch zunächst einmal vom Nebeneinander instabiler folk song-Traditionen gesungener Texte und der Stabilisierung durch den Druck (also auch ohne die musikalische Begleitung) ausgehen: beide Korpora waren allen sozialen Schichten der schottischen Gesellschaft gleicherweise bekannt. Allerdings stellen Scotts Referenztexte – Alan Ramsays The Tea-table Miscellany (1724; 13. Aufl. 1762), David Herds Antient Songs (1791) oder J. Johnsons The Scots Musical Museum (1787–1803) – für Leser unterschiedliche soziale Kontexte zur Verfügung, »with the potential to raise associations beyond or even antagonistic to the world of a genteel readership« (S.17). Es ist jedoch klar, daß Scott seine Balladen-Anspielungen (genauso wie jene auf Shakespeare) benutzt »as markers of heroic gallantry, irrespective of whether the intertext matches its frame in terms of period or subject« (S. 22). Das gilt für zahlreiche Texte, wie Jackson-Houlston zeigen kann, aber nicht nur im Sinne von Einzeltext-Referenzen, sondern eben auch als Anspielungen auf Diskurse, die die jeweiligen Texte überlagern (S.32) und die eine »structure of cultural constrasts indicated by allusion« (S. 43) etablieren.

[34] 

Eines der Beispiele, auf das Jackson-Houlston hinweist, sind die Anspielungen in Woodstock (1826): auf der einen Seite gibt es Anklänge an Shakespeare oder die Lyrik der royalitischen Cavaliers, andererseits referiert die Sprache der Bibel auf die puritanischen Roundheads (S. 30). Dabei geht es vor allem um den Song des fiktiven Dr. Rochecliffe in Kapitel 20, eine Erfindung Scotts, die dem Leser den Schein der Echtheit vermittelt. Ähnliches gilt für The Heart of the Midlothian (1818), wo Scott mithilfe sorgfältig ausgewählter oder manipulierter Intertexte »a structure of cultural constrasts« (S. 43) schafft, die sich um die rigiden moralischen Vorstellungen der Presbyterianer – etwa im Hinblick auf Volkskultur, Tanz oder Balladen mit sexuellen Anspielungen – drehen. Scott war allerdings immer darauf bedacht, wie in Ellies »scrap of an old Scotch song« (Kap. 10), die in der Vorlage bei Herd vorhandenen sexuellen Ambiguitäten im Sinne der moralischer propriety seiner Leser zu eliminieren (S. 44).

[35] 

In welchem Maße auch die schottischen und englischen Zeitgenossen Scotts und jene Autoren, die in seiner Tradition standen, manipulierend mit Balladen und folk songs umgingen, dokumentiert ein gelegentliches Zitat aus John Galts (1779–1839) Roman The Entail (1822). Es heißt dort über die Figur des Claud Walkinshaw, der popular songs den alten heroischen Balladen vorzieht und Scott unterläuft:

[36] 
[he] early preferred the history of Whittington and his Cat to the achievements of Sir William Wallace; and ‘Tak your auld cloak about you, ever seemed to him a thousand times more sensible than Chevy Chase. As for that doleful ditty, the Flowers of the Forest [auch bekannt als »Where the Gaddie Rins«], it was worse than the Babes in the Wood; and Gil Morrice [auch: »Gill Morrice« oder »Child Morrice«] more wearisome than Death and the Lady [auch »The Gypsie Laddie«]. (zit. S. 52)
[37] 

Kritisch muß man allerdings anmerken: Titel wie »Whittington and his Cat« (Geschichte eines armen Jungen, des späteren Bürgermeisters von London, und seiner Katze; bis heute Gegenstand von Theaterstücken, Filmen, Comics etc.; Denkmal für Whittington in Highgate Hill), »Sir William Wallace« (auch »Scots Wha Hae (Bruce Before Bannockburn)«, »Chevy Chase« (auch »The Hunting of the Cheviot«) oder »Babes in the Wood« (auch »Children in the Wood«) sind auch heute Allgemeingut der britischen Kultur, man braucht nicht unbedingt Hinweise auf die entsprechenden Quellensammlungen, während Jackson-Houlston die übrigen Texte zwar im Index anführt, aber nicht weiter identifiziert. Das ist im übrigen anders im Falle von Titeln, die in Thomas Hardys ca. 1926 kompilierter Sammlung Country Songs of 1820 Onwards Killed by the Comic Songs of the Music Hall erscheinen (siehe das Verzeichnis im Anhang 2, S. 182 ff.), und, sofern möglich, einen Verweis den elektronisch verfügbaren Roud Folksong Index erhalten. 27

[38] 

Um noch einmal zu Scott und seinen Zeitgenossen zurückzukehren: wie Jackson-Houlston zeigen kann, verwenden Autoren wie Hogg und Galt traditionelle Balladen oder folks songs auf ähnliche Weise. Die ›Zitate‹ in Galts Brownie of Bodsbeck (1818) stammen offensichtlich sämtlich aus der Feder des Autors (S. 54), während das Epigraph zu Kapitel 1 von Galts The Three Perils of Man: War, Women and Witchcraft (1822) mit Reminiszenzen von »The Twa Sisters« bzw. »Binnorie« spielt, um den »Old Song« dem narrativen Kontext anzupassen (S. 55). Die Engländerin Mary Russell Mitford (1787–1855) spielt auf die Volkskultur an, um z.B. in Our Village: Sketches of Rural Life, Character, and Scenery (urspürnglich The Lady’s Magazine, 1819; als Buch 1824–32) die »dörfliche« Atmosphäre von Stabilität, von »goodness and happiness« (so das Vorwort) zu vermitteln: die eingefügten Lieder und Balladen fungieren sämtlich als idealisierte Bindeglieder zwischen der Kultur der Landarbeiter und der »genteel readers«.

[39] 

Zu Scotts ›Erbe‹, analysiert in Kapitel 4, gehört u.a. G. Harrison Ainworth (1805–82), Autor historischer Romanzen, der im Vorwort zu Rookwood (1834), dem Roman über den legendären Highwayman Dick Turpin, das Fehlen von »any slang songs of merit« beklagt und deshalb eigene, authentisch scheinende Texte im Gauner-Cant einfügt. Turpin, der gelegentlich seinem Stolz auf den englischen Highwayman Ausdruck verleiht, der dem italienischen Briganten, dem spanischen Schmuggler oder dem französischen Taschendieb an Ansehen überlegen sei, singt denn auch einmal eine Ballade zum Ruhme einiger berühmter Krimineller. 28

[40] 

»Popular songs written by litterateurs in London« :
Die 2. Hälfte des Jahrhunderts

[41] 

Für die mittviktorianische Zeit ist vor allem Charles Kingsley (1819–1875), ein Tory-Radikaler der sogenannten »muscular Christians«, wichtig, der dizidierte Vorstellungen über Straßenballaden, die Lieder der schwarzen Arbeiter aus den westindischen Kolonien oder Seemanslieder hatte. In seinen historischen Romanen Westwared Ho! (1855) oder Hereward the Wake (1865) evozieren Balladen, teilweise anachronistisch, die heroischen Charaktereigenschaften seiner Figuren: in einem Fall mit einem Liedtext, der erst seit 1832 nachgewiesen ist. Gelegentlich singt sogar Robin Hood eine Ballade über den Ur-Outlaw Hereward, einen aus den Anglo-Saxon Chronicles ([E] Peterborough MS, Eintrag für 1070) bekannten anti-normannischen Rebellen, 29 der selbst munter aus Balladentexten zitiert und der als Inspiration für die englische Public School bezeichnet wird (S. 76). In den bekannteren sozialkritischen Landarbeiter-Romanen Yeast (1848/1851) und Alton Locke (1850), letzterer mit einem Chartisten-Dichter als Hauptfigur, verwendet Kingsley pasticheartig »working class songs to create false intertexts« (S. 79). 30

[42] 

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts ist mancher urbane Zeitgenosse der Meinung, »the people have lost the good old ballads [...] the popular songs now are written by litterateurs in London«, so Thomas Hughes in Scouring of the White Horse (1859), ein Befund, der auch von James Hepburn im ersten Band seiner kürzlich erschienenen Anthologie bestätigt wird. Wie bereits in der früheren Besprechung betont, kann Hepburn nachweisen, daß eine große Anzahl von Texten von bekannteren Autoren der Mittelklasse stammt, geschrieben für Bühne, Music Hall oder Buchpublikation. Wenn die Texte sich als populär herausstellten, kopierten die diskriminierten Autoren der Verleger Catnach oder Pitt sie und brachten sie erneut unters Publikum. 31 Jackson-Houlston betont zwar gelegentlich, daß Klassenschranken die vorurteilslose Übernahme von working class-Texten verhindert hätten (S. 92). Das Beispiel der Mrs. Gaskell zeigt jedoch im Gegenteil, daß sie in allen ihren Romanen der ländlichen und der urbanen Bevölkerung des industriellen Nordens Lieder und Balladen zuschreibt, die funktional den Kontrast zwischen der idyllischen ländlichen Vergangenheit und der gegenwärtigen Deprivation insinuieren sollen (S. 92). Und das, obwohl sie gute Kontakte hatte zu radikalen Schriftstellern in Nottinghamshire, insbesondere zu Mary und William Howitt, Herausgeber auch von Zeitschriften. In Mary Barton (Untertitel: »a Tale of Manchester Life«) zitiert sie mehrfach aus den Gedichten des autodidaktischen Arbeiterdichters Ebenezer Elliott (1781–1849), dessen Corn Law Rhymes (1830) auch auf einen Autor wie Carlyle Eindruck machten – allerdings ohne daß die Autorin Rücksicht auf die ursprünlichen Kontexte genommen hätte und ohne Elliotts radikale Ansichten den Lesern der Mittelklasse zuzumuten (S. 104). Auch das lange Zitat des in verschiedenen Versionen bekannten »The Oldham Weaver« zeigt für Jackson-Houlston, »[that] Gaskell is following her usual course of mediating a working-class view by letting the account of human suffering speak for itself, but softening the note of rebelliousness« (S. 108).

[43] 

Ähnliches gilt – insofern argumentiert Jackson-Houlston folgerichtig – auch für Autoren wie Dickens oder Thackeray, obwohl sich beide Autoren im Hinblick auf die Funktionalisierung der Songs und die Art der intertextuellen Manipulation unterscheiden. In Dickens‹ Romanen werden durch Lieder eher Klassenängste artikuliert, bei Thackeray schafft gemeinsames Singen entsprechender Texte einen sexuellen, ansonsten nicht weiter verbalisierten Subtext, der Erzähler, Leser und Figuren einbezieht, unter Ausschluß allerdings weiblicher Leser.

[44] 

Der Fall des musikalischen Thomas Hardy

[45] 

Thomas Hardy hatte zeit seines Lebens ein elementares Interesse an gesungenen Balladen und anderen Formen des folk song, angefangen mit den traditionellen mündlichen Kultur in Dorset bis hin zu gedruckten Quellen wie Percys Reliques of Ancient English Poetry (1765), William Chappells Popular Music of the Olden Time (1855–59) oder John Hullahs The Song Books (1866); er besaß auch handschriftliche Sammlungen des Großvaters und des Vaters – die Exemplare aus seinem Besitz befinden sich heute in der Thomas Hardy Collection im Dorset County Museum. Jackson-Houlston betont zu Recht die besondere Bedeutung der lokalen und mündlichen Traditionen, so daß sich die Frage nach der Rolle von F.J. Childs English and Scottish Ballads (Boston 1857–59) berechtigterweise in den Hintergrund tritt. Dafür geht er auf die »music performed by the local bands in church« ein, deren Medium, die sog. carols, an der Schnittstelle von Mündlichem und Schriftlichem standen und deren politisch motiviertes Verschwinden von Hardy in seinen Romanen thematisiert wird (etwa in Under the Greenwood Tree, 1872).

[46] 

Andererseits bilden sich in traditionellen Tänzen und Liedern die mit Aufstiegswünschen assoziierten kultureller Konflikt ab. Hardy Bezugnahme auf ein Balladenrepertoire, das seinen Lesern nicht mehr unbedingt vertraut gewesen sein muß, dokumentiert auch seine ambivalente Einstellung gegenüber dem »traditionellen Erbe«. So hat er, obwohl seine Romane stets tragische Komponenten aufweisen, fast nie auf eine tragisch endende Volksballade zurückgegriffen, sondern eher auf Texte mit pastoralen Assoziationen; dabei bleiben die für viktorianische Leser möglicherweise irritierenden sexuellen Komponenten im Subtext verborgen. Im Grunde hat auch Hardy, so Jackson-Houlston, die Werte der urbanen Mittelklasse internalisiert, blieb daher »anxious about undermining the system he had fought hard to join« (S. 167).

[47] 

Folgerungen

[48] 

Jackson-Houlstons Resümee hätte zu Zeiten einer streng materialistischen Literaturgeschichtsschreibung sicherlich Entrüstung hervorgerufen:

[49] 
So, was there a plot? No, problably not, at least in the sense of a conscious, concerted and malign attempt by the authors discussed here to suppress traditional working-class song culture because it was working-class. Such a theory would offer a neat conclusion to this book, but the truth is more complicated. (S. 173)
[50] 

Sicherlich handelte es sich nicht um bewußte Unterdrückung oder bösartige Manipulation, eher um das nicht-problematisierte Reproduktion hegemonialer kultureller Diskurse.

[51] 

Die literaturwissenschaftlichen Ergebnisse Jackson-Houlstons geben den Anreiz, auch andere Gattungen nach balladenhaften »songs and snatches« zu durchforschen. Man wird dabei zu erstaunlichen Ergebnissen gelangen, wie folgendes Beispiel aus dem ersten Akt von Tom Taylors Erfolgsstück The Ticket-of-Leave Man (1863) ahnen läßt. Es spielt in den Bellevue Tea Gardens in einem Vorort Südlondons; als der Gastwirt seine Gäste darum bittet, Bestellungen aufzugeben, fügt er hinzu: »The nigger melodists will shortly commence their unrivalled entertainment, preliminary to the orchestral selection from Beethoven’s Pastoral Symphony«. Nach dieser Mischung aus volkstümlichen und klassischen Elementen gibt es dann im dritten Akt eine Einlage: eine »sensation ballad« mit dem Titel »The Maniac’s Tear«, gesungen von einer jungen Frau: »scene – Criminal Ward, Bedlam! Miss St. Evremond is an interesting lunatic – with lucid intervals. She has murdered her husband [...] Emmy! if you’d just shift those trotters and her three children, and is supposed to be remonstrating with one of the luncacy commissioners on the cruelty of her confinement«. 32

[52] 

Daß das kommerzialisierte englische Theater des 19. Jahrhunderts auf Elemente der Popularkultur und der hohen Kultur zurückgreift, ist angesichts der Music Hall-Kultur nicht weiter verwunderlich. Interessant sind dabei die Autoren: Literaten, die zwar heutzutage weitgehend unbekannt sein mögen, die aber zu den Trägern einer hegemonialen Kultur der Mittelklasse gehörten. Das zeigt auch der inzwischen publizierte zweite Band von James Hepburns kommentierter Sammlung A Book of Scattered Leaves: Poetry and Poverty in Broadside Ballads of Nineteenth-Century England – Study and Anthology. 33 So gehörte, um einige Beispiele zu nennen, Miss Agnes Strickland (1796–1874) zu einer bekannten Familie von Schriftstellerinnen, sie selbst veröffentlichte Romane und Kinderbücher; 34 James Bruton war Hepburn zufolge ein »successful professional singer and songwriter« (S. 289), Henry Valentine »a modestly monied self-publicist« (ebd.). Thomas Peckett Prest, verwandt mit dem Erzbischof von Durham Cathedral, wurde nicht nur durch The String of Pearls (Sweeney Todd) (1846, dramatisiert 1847, Gegenstand des Musicals von Stephen Sondheim) bekannt, sondern auch durch zahllose weitere Sensationsromane. 35

[53] 

Die Übergänge zwischen der mündlich überlieferten Volkskultur und dem sog. realistischen Roman« sind, so kann Jackson-Houlston zeigen, fließend. Das gilt auch für die Schnittstellen mit den gar nicht so realistischen Romanen der populären penny magazines, 36 Bestandteile einer bereits von Martha Vicinus untersuchten working class culture. 37 Damit ergibt sich ein weites Untersuchungsfeld, das ein gehörigen Maß an Kenntnis auch entlegener Texte, viel Fingerspitzengefühl beim Aufspüren von intertextuellen Anspielungen und auf jeden Fall einen schnellen Rechner erfordert.


Prof. Dr. Uwe Böker
Technische Universität Dresden
Institut für Anglistik und Amerikanistik
Zeunerstraße 1c
DE - 01062 Dresden

Ins Netz gestellt am 29.10.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Empfohlene Zitierweise:

Uwe Böker: Fälschungen und manipulierte Intertextualität. (Rezension über: C.M. Jackson-Houlston: Ballads, Songs and Snatches. The Appropriation of Folk Song and Popular Culture in British Nineteenth-Century Realist Prose. Aldershot: Ashgate 1999.)
In: IASLonline [29.10.2004]
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Anmerkungen

Zu Jackson-Houlstons Definition von folk song im Zusammenhang mit der Diskussion Hardys, vgl. S. 141: »[...] songs originally composed by authors now anonymous, or working in or close to tradition, and which apparently have a life of their own, being reproduced by oral tradition and developing different variants over time«.   zurück
Vgl. S. 1 mit dem Kristeva-Hinweis via Culler-Zitat aus: Structuralist Poetics. London: Routledge 1975. Später verweist die Autorin noch auf Bachtins Konzept der Dialogizität (S. 32). Obwohl ansonsten gelegentlich deutsche Forschung zur Kenntnis genommen wird (natürlich Iser und Jauss), fehlen Hinweise selbst auf ältere Standardwerke wie Ulrich Broich / Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Niemeyer: Tübingen 1985 (mit einer differenzierten Diskussion von Kristeva durch Pfister), oder Heinrich F. Plett (Hg.): Intertextuality. Berlin / New York: de Gruyter 1991.   zurück
Vgl. zu den ersten beiden: Donna T. Andrew / Randall McGowen: The Perreaus and Mrs. Rudd. Forgery and Betrayal in Eighteenth-Century London. Berkeley: University of California Press 2001.    zurück
Bruce O'Brien: Forgery and the Literacy of the Early Common Law. In: Albion 27 (1995), S. 1–18.    zurück
Vgl. Paul Baines: The House of Forgery in Eighteenth-Century Britain. Aldershot: Ashgate 1999, S. 7.   zurück
Zitiert bei Baines, S. 9.   zurück
Vgl. Baines, S. 10–11 und S. 24, Anm. 31. Vgl. auch Peter King: Crime, Justice, and Discretion in England 1740–1820. Oxford: Oxford University Press 2000, S. 274, Table 8.5.: in dieser Liste für den Home Circuit (Zeitraum 1755–1815) steht das Delikt der Fälschung mit 68.3% öffentlicher Hinrichtungen an der Spitze; an zweiter Stelle steht Coining (also ebenfalls ein Fälschungsdelikt) mit 65%, während Robbery / Highway robbery erst mit 50 bzw. 39.2% zu Buche schlagen.   zurück
Baines, S. 14–15.   zurück
E. N. Hooker (Hg.): The Critical Works of John Dennis. 2 Bde. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1943, II, 191–91; zit. bei Brean S. Hammond: Professional Imaginative Writing in England 1670–1740. ›Hackeney for Bread‹. Oxford: Clarendon Press 1997, S. 38. Vgl. auch Lord Chesterfield in seiner Kritik an der Theaterzensurgesetzvorlage von 1737: »Wit, my Lords, is a sort of property: it is the property of those who have it, and too often the only property they have to depend on.« Dennis bezeichnet im übrigen »Thoughts and Inventions« als »inviolable guaranties of personal identity; and it is the very immateriality of them, their very intangibility, that makes them most real« (Hammond, S. 38).   zurück
10 
Baines zit. S. 38.   zurück
11 
Baines zit. S. 44. Anm. 129. The Dunciad IV, 119 (note) sowie ›Declaration‹: Twickenham Edition, V, 353, 237–238 (original in black letter).   zurück
12 
Vgl. Fiona J. Stafford: ›Dangerous Success‹. Ossian, Wordsworth, and English Romantic Literature. In: Howard Gaskell (Hg.): Ossian Revisited. Edinburgh: Edinburgh University Press 1991, S. 49–50.   zurück
13 
Vgl. zur Kontroverse Dr. Johnson-Macpherson auch Howard Gaskills eigene Einleitung zu Ossian Revisited, S. 1–16.   zurück
14 
James Boswell: Life of Johnson, zit in Baines, S. 105.   zurück
15 
Vgl. dazu Gerhard Plumpe: Eigentum – Eigentümlichkeit. 'Über den Zusammenhang ästhetischer und juristischer Begriffe im 18. Jahrhundert. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979), S. 175–196.   zurück
16 
Vgl. Johann Aßbeck: Why are my Country-Men such Foes to Verse? Untersuchungen zur schottischen Dichtung des frühen 18. Jahrhunderts in ihrem Verhältnis zum englischen Klassizismus. Frankfurt / M.: Lang 1986, S. 301.    zurück
17 
Vgl. Uwe Böker: Sprache, literarischer Mark und kulturelle Orientierung. England und englische Sprache als Vermittler schottischer Literatur in Deutschland. In: Claudia Blank (Hg.): Language and Civilization. A Concerted Profusion of Essays and Studies in Honour of Otto Hietsch. Franfurt / M.: Lang 1992, Band I, S. 291–322; dgl.: The Marketing of Macpherson: The International Book Trade and the First Phase of German Ossian Reception. In: Gaskell: Ossian Revisited, S. 73–93.   zurück
18 
Text-Ausgaben: 3 vols. 1765; rev. ed. 1767, 1775, 1794; postum 1812. Vgl. die Neuausgabe von Nick Groom (Hg.): Reliques of Ancient English Poetry. London: Routledge / Thoemmes Press 1996.   zurück
19 
Der Begriff Grooms, S. 43, der sich hier auf Judith D. Carvers unveröffentlichte Dissertation: Thomas Percy and the Making of the Reliques of Ancient English Poetry, 1756–1765, stützt (B.Litt thesis, Oxford University 1973).    zurück
20 
Vgl. Ian Haywood: The Making of History. A Study of the Literary Forgeries of James Macpherson and Thomas Chatterton in Relation to Eighteenth-Century Ideas of History and Fiction. London: Associated University Presses 1986, S. 19–24.   zurück
21 
Zit. in Groom, S. 54, aus Ritson: Ancient Engleish Metrical Romanceës (1803).    zurück
22 
Gentleman's Magazine, 35 (1765), S. 179–183, zit. bei Groom, S. 55.   zurück
23 
Vgl. dazu auch Nick Groom: The Making of Percy's Reliques. Oxford: Clarendon Press 1999.    zurück
24 
Zit. in Groom, S. 54.   zurück
25 
Groom, S. 56. »Gothic temperament« bezieht sich hier auf den Mythos einer englischen Verfassung, die angeblich aus der Zeit vor der normannischen Eroberung stammte und whiggistische Konzepte von Freiheit legitimieren sollte. Vgl. dazu Uwe Böker: Angelsächsische Geltungsgeschichten der frühen Neuzeit: Die Legitimierung der Ancient Constitution und das Prinzip der Rule of Law. In: Gert Melville / Hans Vorländer (Hg.): Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Köln: Böhlau 2002, S. 203–241.    zurück
26 
T.B. Haber: The Chapter-Tags in the Waverley-Novels. In: Publications of the Modern Language Association 45 (1930), S. 1140–1149.   zurück
27 
Zu den Möglichkeiten elektronischer Recherche vgl. auch: The Traditional Ballad Index Bibliography Version 1.8. URL: http://www.csufresno.edu/folklore/BalladIndexBib.html, bzw.: The Traditional Ballad Index: An Annotated Bibliography of the Folk Songs of the English-Speaking World. URL: http://www.csufresno.edu/folklore/BalladSearch.html (24.09.04). Einzig für »'Tak your auld cloak about you« war kein Eintrag zu finden.    zurück
28 
Vgl. Keith Hollingsworth: The Newgate Novel 1830–1847. Bulwer, Ainsworth, Dickens, & Thackeray. Detroit: Wayne State University Press 1963, S. 102. Vgl. Jackson-Houlston, Anm. 7, S. 86.   zurück
29 
»Hereward the Wake: Introduction«. In: Stephen Knight / Thomas E. Kelly (Hg.): Robin Hood and Other Outlaw Tales. Kalamazoo, Mich.: Medieval Institute Publications 1997; siehe auch URL: http://www.lib.rochester.edu/camelot/teams/hereint.htm (30.09.04).   zurück
30 
Man darf jedoch nicht, wie Jackson-Houlston es tut, allein nach der Intertextualität der Balladen und folk songs fragen, sondern muß auch andere Referenzen mit einbeziehen. So gilt etwa Alfred Lord Tennyson um die Mitte des Jahrhunderts als Repräsentant der »democratic art«, der »revelation of the poetry which lies in common things« (bei Kingsley wie auch bei Mrs. Braddon); vgl. Uwe Böker: Lord Byron, Flaubert und Mrs. Braddon. In: Werner Huber / Rainer Schöwerling (Hg.): Byron-Symposium Mannheim 1982. Paderborn: Universität Gesamthochschule Paderborn 1983, S. 120–141.   zurück
31 
Vgl. Uwe Böker: Rezension von James Hepburn: A Book of Scattered Leaves. Poetry of Poverty in Broadside Ballads of Nineteenth-Century England. Study and Anthology. Lewisburg: Bucknell University Press 2000. URL: IASL-Online, 29.01.2002.   zurück
32 
Tom Taylor hatte von 1845 bis 1847 den Chair of English am University College in London inne und war von 1874 bis zu seinem Tode 1880 Herausgeber der satirischen Zeitschrift Punch. Das reformorientierte Melodrama um einen entlassenen Strafgefangenen wurde am 27 Mai 1863 in Londoner Olympic Theatre uraufgeführt. Text in: George Rowell (Hg.): Nineteenth Century Plays. 2nd ed. Oxford: Oxford University Press 1990; Zitat S. 278.   zurück
33 
Vgl. oben Anm. 31. Der zweite Band Hepburns ist 2001 unter dem gleichen Titel mit fortlaufender Seitenzählung erschienen.   zurück
34 
Vgl. John Sutherland: The Stanford Companion to Victorian Fiction. Stanford: Cal.: Stanford University Press 1989, s.v. Strickland.   zurück
35 
Vgl. Sutherland, s.v. Prest, sowie Louis James: Fiction for the Working Man 1830–50. A Study of the Literature Produced for the Working Classes in Early Victorian Urban England. Harmondsworth: Penguin 1974 (siehe die Indexeinträge).   zurück
36 
Vgl. James: Fiction for the Working Man, S. 176–77.   zurück
37 
Vgl. Martha Vicinus: The Industrial Muse. A Study of Nineteenth-Century British Working-Class Literature. London: Croom Helm 1974, Kap. 1 (»Street Ballads and Broadsides: The Foundation of a Class Culture«).    zurück