Bödl über Sawyer: Die Welt der Wikinger.

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Klaus Böldl

Die Wikinger
– ferne Nachbarn aus der Nähe betrachtet

  • Birgit und Peter Sawyer: Die Welt der Wikinger. Aus dem Englischen von Thomas Bertram. (Die Deutschen und das europäische Mittelalter). Berlin: Siedler 2002. 476 S. Geb. EUR (D) 30.
    ISBN 3-88680-641-3.


Peter Sawyer, seit einiger Zeit emeritierter Historiker aus Leeds, und seine schwedische Frau Birgit, die in Trondheim mittelalterliche Geschichte lehrt, zählen seit Jahrzehnten zu den international ausgewiesenen Kennern der nordeuropäischen Geschichte namentlich des frühen Mittelalters. Peter Sawyer etwa hat in "Politikens Danmarkshistorie", einem ambitionierten vielbändigen Werk zur Geschichte Dänemarks, den Band zur Wikingerzeit geschrieben. 1 Sein besonderes Interesse galt dabei der Entstehung des Staates Dänemark im frühen Mittelalter. In einer anderen Monographie verfolgt er diesen Prozess der Nationenbildung in Schweden, wo sich der Übergang von mehr oder minder gentil verfassten >Kleinkönigtümern< zur mittelalterlichen Monarchie aufgrund der fast völlig fehlenden schriftlichen Quellen womöglich noch schwieriger nachzeichnen lässt als im Falle Dänemarks. 2 Birgit Sawyer hingegen hat sich durch ihre sozial- und rechtsgeschichtlichen Analysen mittelalterlicher Runeninschriften 3 sowie durch familien- und mentalitätsgeschichtliche Studien 4 einen Namen gemacht.

Wikinger und Deutsche
– eine ferne Nachbarschaft

Dass die Herausgeber der vierbändigen Reihe "Die Deutschen und das europäische Mittelalter" das Ehepaar Sawyer für den Band zu Skandinavien engagierten, lag also nahe, zumal Peter Sawyer auch durch mehrere Gesamtdarstellungen der Wikingerzeit hervorgetreten ist – die erste liegt mehr als vierzig Jahre zurück; 5 die letzte, bei der er als Herausgeber fungierte, erschien auf deutsch vor drei Jahren. 6 Eine gewisse Inkongruenz ergibt sich freilich aus dem übergeordneten Titel der Reihe und dem des vorliegenden Buches – kann von den >Deutschen< im eigentlichen Sinne doch wohl erst ab dem 11. Jahrhundert, also etwa ab dem Ende der Wikingerzeit, gesprochen werden. Es ist insofern ein Anachronismus, die >Wikinger< als die Nachbarn der >Deutschen< zu behandeln, entspricht den wesentlichen Perioden der Wikingerzeit im Norden auf dem Kontinent doch die Karolingerzeit.

Im 11. Jahrhundert stand >Deutschland< hingegen längst keine diffuse heidnische >Wikingerwelt< mehr gegenüber, sondern die christlichen Königreiche Norwegen, Schweden und Dänemark. Immerhin bilden die deutsch-skandinavischen Handelsbeziehungen ab dem 12. Jahrhundert, die für alle beteiligten Nationen von enormer Bedeutung waren, ein wichtiges Thema der Mittelalterforschung – dieses aber kann in einem Buch, das den Titel "Die Welt der Wikinger" trägt, naturgemäß nur gestreift werden. Es wäre zweifellos sinnvoller gewesen, analog zu den beiden Bänden "Das westliche Europa" und "Das östliche Europa" den vorliegenden "Das nördliche Europa" zu nennen – denn immerhin ist es ein wenig irreführend, das gesamte skandinavische Mittelalter mit dem – zugegebenermaßen zugkräftigen – Wikinger-Begriff zu erfassen.

Transparente Darstellung
eines verwickelten Gegenstands

Welche Erwägungen die Herausgeber auch immer bei der Entscheidung geleitet haben mögen, den Schwerpunkt des Skandinavien-Bandes auf das Frühmittelalter zu legen, Peter und Birgit Sawyer haben die Gelegenheit genutzt, für das deutsche Lesepublikum eine Summe ihrer vielfältigen Forschungen zum Thema zu ziehen. Allerdings weist "Die Welt der Wikinger" an vielen Stellen über die bisherigen Publikationen der Sawyers hinaus, haben sie doch großen Wert darauf gelegt, neueste Forschungsresultate zu berücksichtigen.

Das Ansehen, das Peter Sawyer als Mittelalterhistoriker in der englischsprachigen Welt genießt, beruht nicht nur auf seiner hohen fachlichen Kompetenz, sondern auch auf seinem in der mediävistischen Zunft keineswegs selbstverständlichen Talent, Geschichte ohne unangebrachte Vereinfachungen doch anschaulich und allgemeinverständlich zu vermitteln. Dieses Talent bewährt sich auch in der vorliegenden Darstellung über weite Strecken und schlägt sich namentlich in der transparenten Gliederung ihres komplexen Gegenstands nieder. Da das Buch zudem ein Namens- und Orts-, wenn auch kein Sachregister aufweist, kann es bis zu einem gewissen Grad als Kompendium und Nachschlagewerk dienen.

Wikinger als Europäer

Im Einführungskapitel üben die Autoren Kritik an den traditionellen Darstellungen der Wikingerzeit und legen ihre eigene methodische Vorgehensweise dar. Der Abschnitt "Einige Schlussfolgerungen" beginnt mit dem Satz "Wir versuchen zu zeigen, dass Skandinavien in vielerlei Hinsicht anderen Teilen Europas weit ähnlicher war, als im Allgemeinen anerkannt wird (...)" (S. 17). Die Tendenz, das vielfach als >Nachtseite< des europäischen Mittelalters wahrgenommene wikingerzeitliche Skandinavien zu entmythologisieren, ist in der Forschung schon seit längerem zu beobachten; dass sich diese neue Sichtweise in der breiteren Wikinger-Rezeption noch kaum bemerkbar macht, hängt sicherlich mit der Faszination zusammen, die gerade die exotischen Elemente der Wikingerkultur auf den >interessierten Laien' ausüben. Der Titel "Die Welt der Wikinger", der ja einen geschlossenen Kosmos suggeriert, ist indessen sicherlich nicht geeignet, diesen Grundgedanken des Werkes zu transportieren.

Eine komplexe und hierarchische Gesellschaft

Eine weitere Schlussfolgerung, welche die Autoren aus ihren methodologischen Vorüberlegungen ziehen, liegt in der Zurückweisung der evolutionistischen Geschichtsmodelle, welche die Forschung lange Zeit geprägt hätten. In der Tat hat sich die Vorstellung, die Skandinavier hätten sich im Verlauf des Mittelalters von einer >primitiven< zu einer >komplexen< Gesellschaft entwickelt, ("oft mit der versteckten Andeutung, dass es sich normalerweise um eine Veränderung hin zum Besseren gehandelt habe", S. 19) als nicht haltbar erwiesen; vor allem die moderne Ethnologie und Anthropologie hat dieses aus der Aufklärung stammende Fortschrittsdenken widerlegt.

Mit Recht wird etwa auch darauf verwiesen, dass die Herausbildung der nordischen Königreiche nicht einfach als Endresultat einer linear verlaufenden Ausbreitung von regionalen Oberherrschaften interpretiert werden kann. Allerdings bleibt die Argumentation der Autoren hier etwas diffus; warum man einerseits nicht von linearen geschichtlichen Verläufen ausgehen könne, wohl aber vom "Prozess der Christianisierung" und von der "Evolution des Rechts" (S. 20), hätte einer eingehenderen Darlegung bedurft.

Gegen die in älteren Darstellungen vornehmlich skandinavischer Provenienz rekurrente Vorstellung des wikingerzeitlichen Gemeinwesens als "freie(n) bäuerliche(n) Demokratien" setzen Peter und Birgit Sawyer das in der neueren Forschung bereits weithin akzeptierte Konzept einer frühen skandinavischen Gesellschaft, die "sozial und politisch hierarchisch, mit unterschiedlichen Arten von Herrschaften und Oberherrschaften" (S. 21) gegliedert gewesen sei. Überhaupt liegt der Schwerpunkt des Buches auf der politischen Geschichte, auf der Diskussion von Macht und Herrschaft im mittelalterlichen Skandinavien. Dies trägt einerseits dazu bei, die Wikingerkultur zu entmystifizieren, auf der anderen Seite aber kommt durch diese Fokussierung eine eher konservative Auffassung der Historie zum Tragen, die Geschichte vornehmlich als Geschichte von Fürsten und Königen definiert.

Land und Leute

Nach einem Kapitel zur Quellenlage, auf deren Diskussion noch näher einzugehen sein wird, folgt ein überaus informativer Abschnitt über die geographischen, demographischen und klimatischen Verhältnisse in der "Welt der Wikinger", in dem auch die sonst in derartigen Darstellungen meist vernachlässigten Samen berücksichtigt werden. Anschließend werden die sozialen Strukturen der Wikingergesellschaft behandelt. Die Dreiteilung der Gesellschaft, die das Eddalied "Rígsþula" suggeriert, wird als hochmittelalterliches Konstrukt identifiziert, das den Bauernstand verherrliche und das – eine durchaus überraschende Konklusion – "vielleicht als früheste Ausarbeitung protestantischer Ethik" (S. 80) verstanden werden könne. Tatsächlich sei der Aufbau der Gesellschaft viel komplexer und namentlich hierarchischer gewesen.

Die folgenden drei Kapitel behandeln im wesentlichen die Aktivitäten der Wikinger, die ihr Bild bis heute prägen, nämlich den Handel, die Kolonisationen und die Piraterie. Gerade was die Entwicklung früher Handelszentren wie Ribe, Haithabu und Groß-Strömkendorf angeht, werden neuere Erkenntnisse der archäologischen Forschung präsentiert; die "Unternehmungen der Wikinger im Westen", wie der Titel des Kapitels 7 lautet, gehören ja zu den Spezialgebieten von Peter Sawyer.

Mit neueren und sehr interessanten Ergebnissen wird der Leser im Unterabschnitt über die Besiedlung Islands vertraut gemacht. So werfen die von Agnar Helgason 2000 und 2001 im "American Journal of Human Genetics" veröffentlichten DNA-Analysen der Bevölkerung Islands, Skandinaviens und der Britischen Inseln neues Licht auf die Besiedlungsgeschichte Islands, erwies sich doch durch diese Untersuchungen, dass 75 % der männlichen Isländer skandinavischer Herkunft sind, während dieser Anteil bei den Frauen bei lediglich 37,5 % liegt. Ein wesentlicher Anteil der Landnehmerfrauen dürfte demnach irokeltischer Provenienz gewesen sein.

Ferner belegen die Analysen eine besonders starke matrilineare Verbindung zwischen den Hebriden und Island, die mit der häufigen Erwähnung dieser Inselgruppe in der altisländischen "Landnámabók" korrespondiert. Sehr knapp werden hingegen die Kolonien auf Grönland und in Nordamerika behandelt, die freilich mit der deutsch-skandinavischen Geschichte des Mittelalters kaum etwas zu tun haben. Dies gilt allerdings auch für die Aktivitäten der schwedischen >Rus< in Osteuropa, die ausführlich erläutert werden.

Die folgenden beiden Kapitel befassen sich mit der das wikingerzeitliche Skandinavien prägenden dänischen Hegemonie sowie mit der Christianisierung des Nordens, die in erster Linie unter politischen Gesichtspunkten beleuchtet wird. Der sich daran anschließende Abriss der skandinavischen Geschichtsschreibung wirkt etwas unvermittelt, zumal in den folgenden Kapiteln der Faden der politischen Geschichte wieder aufgenommen wird mit der Diskussion der Faktoren, die das Ende der Wikingerzeit bewirkten. Das nächste Kapitel verfolgt die Entwicklung der merkantilen und der Siedlungsstrukturen, ehe mit einem Abschnitt über die sozialen und politischen Verhältnisse nach der Wikingerzeit die politische Historie abgeschlossen wird.

Recht lieblos ist das Kapitel 15 "Kunst" geraten, das zwar eine Reihe von guten Abbildungen enthält, aber sehr an der Oberfläche bleibt und die wikingerzeitliche Kunst weder in ihrer religiösen noch in ihrer sozialen Funktion überzeugend zu fassen vermag. Ein langes Zitat aus einer Deutung des gotländischen Bildsteins Ardre VIII durch den Archäologen Ingmar Jansson ist zwar interessant, doch erfährt der Leser weder etwas über die unike Bildsteintradition Gotlands im allgemeinen noch über die religions-, sozial- und sagengeschichtlichen Probleme, die sich mit diesen Monumenten verbinden. So wird diese offenbar als >Fallbeispiel< gedachte Passage beim nicht vorgebildeten Leser wohl einige Fragen offen lassen.

Wie nahezu alle vergleichbaren Überblickswerke zu den Wikingern schließt die Darstellung mit einem rezeptionsgeschichtlichen Ausblick. Die Autoren haben sich dabei im wesentlichen darauf beschränkt, die Studien von Lars Lönnroth zu diesem Thema zusammenzufassen; schon in dem von Peter Sawyer herausgegebenen Band "Die Wikinger" hatte Lönnroth ja diesen Gegenstand bearbeitet.

Kleinere Irritationen

Zusammenfassend lässt sich "Die Welt der Wikinger" als eine vielseitige und seriöse Darstellung einer Epoche charakterisieren, über die selbst in mediävistischen Fachkreisen nicht wenige Klischees und Vorurteile kursieren. Die nüchterne und unaufgeregte Analyse der Ereignisse und Strukturen des skandinavischen Frühmittelalters mag viel zu dessen Entmythisierung beitragen. Dass einige Bereiche, die außerhalb der Forschungsinteressen des Ehepaars Sawyer liegen, wie etwa die Kunst oder die heidnische Religion, ein wenig summarisch und oberflächlich abgehandelt werden, mag man bedauern, doch sind solche Unebenheiten angesichts der zahlreichen Aspekte, die das Wikinger-Thema aufweist, kaum zu vermeiden. Eine Reihe sehr hilfreicher Karten und Tafeln sowie sechs Anhänge, die verschiedene Detailprobleme behandeln, runden das Werk ab.

Die Übersetzung weist freilich einige sprachliche Schnitzer auf. So liest man etwa Sätze wie: "Es gibt Autoren, etwa Bjørnson, Geijer und Oehlenschläger, die setzen den verwegenen Wikinger in Gegensatz zum friedlichen Bauern." (S. 339) Einige Seiten weiter findet sich die kryptische Formulierung "Längst nicht mehr die marodierenden wikingischen Plünderer europäischer Klöster und Dörfer hat man in der dramatischen Gestalt von Leif Eriksson einen neuen Helden von stärker amerikanischem Typus erkannt." (S. 342) Den Beinamen des Königs Haraldr gráfeldr sollte man wohl eher mit "Graumantel" als mit "Graufell" übersetzen (S. 188).

Erstaunt wird der Leser zur Kenntnis nehmen, dass die Annahme des Christentums durch die Norweger in Mostar stattgefunden haben soll (vgl. S. 212, 213 sowie den Eintrag im Ortsregister auf S. 471); gemeint ist freilich die Insel Moster (altisl. Mostr, heute Bømlo) vor der südlichen Westküste Norwegens. Neben solchen Fehlern finden sich auch Angaben, die eher Verwirrung stiften als zur Klärung beitragen, wenn etwa im Anhang "Römische und byzantinische Zeugnisse über Skandinavien" Caesars "De bello Gallico" mit der Klammerbemerkung "(Der gallische Krieg, erstmals 1507)" (S. 345) erläutert wird – zumal bei keiner der sonst erwähnten Quellen irgendwelche Hinweise auf Erstausgaben oder auf (früh)neuzeitliche Rezeption gegeben werden.

Überaus irreführend ist es ferner, den Inhalt der Prosa-Edda als "altnordische Mythologie und Legenden" (S. 40) zu definieren; der Begriff "Legende" wird im Deutschen anders verwendet als im Englischen. Freilich sind solche inhaltlichen Unstimmigkeiten wie auch die Fehler in der Wiedergabe skandinavischer Namen kaum dem Übersetzer anzulasten. Es wäre dem Buch sicher zugute gekommen, wenn man von Verlagsseite einen Fachberater herangezogen hätte, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Bibliographie, in der man einige wenigstens für einen deutschsprachigen Leserkreis grundlegende Titel vermißt. Angesichts der zentralen Bedeutung, welche die Autoren Runeninschriften als historischen Quellen beimessen, ist es erstaunlich, dass selbst ein unverzichtbares Standardwerk wie Klaus Düwels "Runenkunde" 7 nicht aufgeführt wird (zumal sich die Autoren im Vorwort für Düwels Hilfe bedanken).

Positivistische Quellenkritik

All diese Kritikpunkte vermögen den unbestreitbaren Wert von "Die Welt der Wikinger" als einer überaus informativen und sachkundigen Einführung in ein komplexes Themengebiet nicht nennenswert zu schmälern. Doch ungeachtet der zahlreichen positiven Argumente, die sich für dieses Buch in die Waagschale werfen lassen, hat man nach beendeter Lektüre das Gefühl, über wesentliche Aspekte der Kultur des skandinavischen Mittelalters im Unklaren geblieben zu sein. Das Weltbild, das die damaligen Menschen in ihren Alltagsverrichtungen wie in den großen historischen Unternehmungen geleitet haben mag, die symbolischen Ordnungen von Raum und Zeit, mit deren Hilfe man sich orientiert hat, die Formen des kulturellen Gedächtnisses, die diese schriftlose Gesellschaft geprägt haben, und die damit im Zusammenhang stehende systemische Bedeutung von Religion und Kunst: Diese Bereiche, die zweifellos ebenso der "Welt der Wikinger" angehören wie etwa die langanhaltenden Streitigkeiten um die Königsmacht in Dänemark oder die Geschichte des Danelaws, werden in Peter und Birgit Sawyers Darstellung nur gestreift.

Die Geschichtsschreibung namentlich Peter Sawyers ist in hohem Grade einem positivistischen Paradigma verpflichtet und, in Zusammenhang damit, einer vor allem im Hinblick auf die norröne Literatur recht rigiden Quellenkritik, die für die Erschließung ereignisgeschichtlicher Zusammenhänge unerlässlich sein mag, der Rekonstruktion einer >Welt<, wie sie der Buchtitel suggeriert, aber nicht unbedingt dienlich ist. Zwar wird konzediert, dass die "Sagas bis zu einem gewissen Grad eine Überlieferung mit einigem Rückhalt in der Realität widerspiegeln" (S. 38), dennoch möchten die Autoren nicht einmal die sogenannten Gegenwartssagas als Quellen gelten lassen: "In jedem Fall ist Zeitgenossenschaft keine Garantie für Wahrheit. Autoren verfolgten ihre eigenen Absichten, ließen Dinge aus und verzerrten andere bewusst aus taktischen oder anderen Gründen." (S. 39)

Diese Argumentation wirft ein bezeichnendes Licht auf die Frage, was die Autoren unter Geschichte verstehen, nämlich nicht die Rezeption, Verarbeitung und Tradierung erinnernswerter Ereignisse, sondern diese Ereignisse selbst. Da nun keine Quelle ein historisches Ereignis objektiv, d.h. in absoluter Vollständigkeit wiedergeben kann, verfährt jeder Historiker notwendig selektiv und perspektivierend, 8 – in dieser Hinsicht unterscheiden sich die Historiker Peter und Birgit Sawyer keineswegs von ihren mittelalterlichen Kollegen Adam von Bremen oder Snorri Sturluson. Zweifellos ist es eine wichtige Aufgabe des Historikers, mit Hilfe der Quellenkritik verlässliche von phantastischen Quellen zu unterscheiden. Wie problematisch es jedoch ist, die Bedeutung von Quellen einzig und allein nach der Überprüfbarkeit der in ihnen mitgeteilten >harten< Fakten zu bemessen, wurde in letzter Zeit innerhalb der skandinavistischen Forschung vielfach diskutiert. 9

Eine lediglich das Faktische abschöpfende Quellenanalyse führt jedenfalls kaum zu befriedigenden Aufschlüssen über soziale und kulturelle Verhältnisse des nordischen Mittelalters. Denn die Art und Weise, wie sich Überlieferungen in schriftlichen (oder auch bildlichen) Quellen manifestieren, typologisierend, umdeutend oder etwa auch "verzerrend", ist selbst ein überaus wichtiger Aspekt von Geschichte, wenn er auch weniger über Ereignisse als über die Haltung der Menschen zu Ereignissen und zur Vergangenheit überhaupt aussagt. Und selbst die phantastischsten Quellen können mitunter interessante Aufschlüsse über soziale und mentale Strukturen geben. Eine Darstellung, die auch kulturelle und soziale Aspekte einbezieht und somit wenigstens in Ansätzen den Anspruch einer historischen Anthropologie erhebt, sollte eine zentrale und vielschichtige Quelle wie die "Heimskringla" nicht schon aufgrund ihrer Literarizität beiseite lassen.

Adam von Bremen:
nur ein geschickter Propagandist?

In einer scharfsinnigen und kenntnisreichen Analyse arbeiten die Autoren im Anhang 2 heraus, daß es sich bei Adam von Bremens "Hammaburgensis ecclesia pontificum" um ein tendenziöses, die tatsächlichen kirchenpolitischen Verläufe stark verzerrendes und umdeutendes Werk handelt. Der Schlusssatz klingt fast wie eine Entschuldigung: "Damit soll Adam keineswegs verunglimpft werden, vielmehr geht es darum, ihm das Verdienst für ein geschicktes Propagandawerk zuzuschreiben, das bis auf den heutigen Tag Generationen von Historikern in die Irre geführt hat." (S. 356).

Adams Kirchengeschichte ist ein Propagandawerk, und aufgrund seiner zentralen Stellung in den mittelalterlichen Quellen zur skandinavischen Geschichte ist es wichtig, auf diesen Umstand in aller Deutlichkeit hinzuweisen. Doch gleichzeitig ist Adams Werk sehr viel mehr als eine klerikale Tendenzschrift, enthält dieser Text doch eine Fülle von religionshistorischen und auch -psychologischen Details, von Hinweisen auf politische, soziale und religiöse Strukturen im wikingerzeitlichen Norden, und nicht zuletzt reflektiert er auch hochinteressante zeitgenössische Vorstellungen über die Beschaffenheit Skandinaviens und seiner Bewohner. Es ist zu bedauern, daß das Festhalten an einem bereits vielfach widerlegten quellenkritischen Paradigma die Autoren dazu bestimmt hat, zentrale Überlieferungen nur marginal zu berücksichtigen oder, wie etwa bei Adams Kirchengeschichte oder Saxos "Gesta Danorum" große Teile des Bedeutungspotentials ungenutzt zu lassen.

Resumé

So ist dem Ehepaar Sawyer mit "Die Welt der Wikinger" aufs Ganze gesehen ein überaus fakten- und facettenreiches Überblickswerk gelungen, das seine Existenzberechtigung gegenüber den zahlreichen vergleichbaren Werken nicht zuletzt auch aus der Aktualität vieler der eingearbeiteten Forschungsergebnisse bezieht. Doch findet diese Aktualität leider keine Entsprechung in der methodischen Ausrichtung des Buches. Zumindest aus textwissenschaftlicher Perspektive lässt sich der innovative Anspruch der Autoren nicht recht nachvollziehen, denn die "(energische) ... Kritik an Rechten, Sagas und frühen Geschichten" (S. 21), die sie sich auf die Fahnen schreiben, wurde schon vor bald hundert Jahren von den Brüdern Weibull zum Programm erhoben und gehört seitdem weithin zum guten Ton der skandinavistischen Mediävistik.

Weit eher erscheint der Band "Die Welt der Wikinger" als ein Beispiel für konservative Geschichtsschreibung, und zwar sowohl mit den positiven als auch mit den weniger erfreulichen Implikationen dieses Attributs: solide und verlässlich ist der Band in der Aufarbeitung historischer Fakten und archäologischer Befunde, doch andererseits wirkt er ein wenig hausbacken in seinem positivistischen Pathos und seinem Mangel an kulturwissenschaftlicher Reflexivität.


Klaus Böldl
Institut für Nordische Philologie
Ludwig Maximilians Universität
Amalienstraße 83
D–80799 München

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Ins Netz gestellt am 21.09.2003
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Anmerkungen

1 Peter Sawyer: Da Danmark blev Danmark. Fra ca. år 700 til ca. 1050. (Gyldendal og Politikens Danmarkshistorie Bind 3). Copenhagen 1988.    zurück

2 Peter Sawyer: När Sverige blev Sverige. Alingsås: Victoria Bokförlag 1991.    zurück

3 Birgit Sawyer: Property and Inheritance – the runic evidence. Alingsås: Victoria Bokförlag 1988.    zurück

4 Birgit Sawyer: Kvinnor och familj i det forn- och medeltidiga Skandinavien. Trondheim: Historisk institutt 1998 (Skriftserie fra Historisk Institutt 24).    zurück

5 Peter Sawyer: The Age of the Vikings, o. O.: Arnold 1962 (second edition 1971).    zurück

6 Peter Sawyer (Hrsg.): Die Wikinger. Geschichte und Kultur eines Seefahrervolkes. Aus dem Englischen von Thomas Bertram. Stuttgart: Theiss 2000 (dt. Ausgabe von "The Oxford Illustrated History of the Vikings", Oxford 1997).    zurück

7 Klaus Düwel: Runenkunde. 3., vollständig neu bearbeitete Aufl. (Sammlung Metzler 72). Stuttgart, Weimar: Metzler 2001.    zurück

8 Vgl. Paul Veyne: Geschichtsschreibung – und was sie nicht ist. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990 (edition suhrkamp 1472), S. 14.    zurück

9 Vgl. Preben Meulengracht Sørensen: Den norrøne litteratur og virkeligheden. In: P. M. S.: At fortælle Historien. Triest: Edizioni Parnaso 2001. S. 113–122; Sørensen, Preben Meulengracht: Der Runenstein von Rök und Snorri Sturluson – oder >Wie aussagekräftig sind unsere Quellen zur Religionsgeschichte der Wikingerzeit?<. In: P. M. S.: At fortælle Historien. (s. o.). S. 131–141. Skovgaard-Petersen, Inge: Studiet af kilderne i den ældste nordiske historie. En historiografisk oversigt. In: Gunnar Karlsson (red.): Kilderne til den tidlige middelalders historie. Reykjavík: Sögufélag 1987. S. 7–29.    zurück