Böldl über Kaufhold: Europas Norden im Mittelalter

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Klaus Böldl

Der lange Marsch der Skandinavier nach Europa

  • Martin Kaufhold: Europas Norden im Mittelalter. Die Integration Skandinaviens in das christliche Europa (9.—13. Jh.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. 176 S. Kart. € 14,90.
    ISBN 3-8967-8418-8.


Die "andere" Wikingerzeit

Das Interesse breiterer, d.h. in diesem Falle nicht-nordistischer Leserkreise am skandinavischen Mittelalter hat sich von jeher auf das Phänomen der >Wikinger< begrenzt. Gerade in den letzten Jahren manifestiert sich an einer Vielzahl von populären Fernsehsendungen, an Titelgeschichten im SPIEGEL (32 / 2000) und im "National Geographic" (Mai 2000), an den großen Wikingerausstellungen in Berlin, Paris und Kopenhagen, aber auch in den anspruchsvollen Monographien etwa von Rudolf Simek 1 , Peter Sawyer 2 oder Régis Boyer 3 ein gesteigertes Interesse an den Wikingern und ihrer vorgeblich archaischen Welt. Aber auch wenn gerade die letztgenannten Autoren sich um eine Differenzierung des landläufigen Wikinger-Images und um den Abbau von oftmals auch politisch bedenklichen Klischees bemühen, so ist doch nicht zu übersehen, worin die Attraktivität der Wikingerkultur nach wie vor liegt: in der Faszination am Vor-Zivilisatorischen, an einer scheinbar weitgehend naturförmigen, noch keinerlei Triebregulierungen unterworfenen Gesellschaft.

Die Wikingerkultur ist in ihrer Alterität eher ein Projektionsraum des zivilisationsmüden Menschen als ein Gegenstand historischer Auseinandersetzung; seit den Tagen des Baron de Montesquieu, der in seinem De l'esprit des lois die ungebundenen Nordleute als Sachwalter der Freiheit meinte preisen zu können, hat sich an dieser verklärenden Sicht auf das nordische Frühmittelalter im Grunde wenig geändert. Der zweifellos bestehende Gegensatz zwischen dem heidnischen und illiteraten neunten und zehnten Jahrhundert einerseits und dem christlich-feudalen Hochmittelalter Skandinaviens auf der anderen Seite wird in der populären Wahrnehmung über Gebühr verschärft, indem man die Wikingerkultur nicht als einen Teil des europäischen Frühmittelalters, sondern als eine in sich geschlossene Kultur der Andersartigkeit, kurz gesagt: als eine Gegenwelt konzipiert.

Vor allem die angelsächsische und skandinavische Geschichtswissenschaft hat demgegenüber in den letzten Jahrzehnten aufgezeigt, wie verflochten der wikingerzeitliche Norden mit dem restlichen Europa war, und in welchem Maße sich z.B. die internationalen Handelswege des Mittelalters den Aktivitäten dänischer, norwegischer und schwedischer Wikinger verdanken. Die historische Anthropologie und die Mentalitätsgeschichte andererseits arbeiteten ein in vielen Zügen übereinstimmendes Weltbild von christlichen West- und Mitteleuropäern und heidnischen Nordleuten heraus. Vor allem die Rekonstruktion des Frühmittelalters als eines >archaischen< Zeitalters führte dazu, dass man den Gegensatz zwischen spätheidnischen und frühchristlichen Weltbildern heute weniger dramatisch faßt als früher. So erklärt sich auch das Ende der Wikingerzeit nicht durch einige verlorene Schlachten oder gar einzig aus der Niederlage des Norwegerkönigs Harald des Harten in der Schlacht von Stamfordbridge (1066), durch die England aus der skandinavischen Machtsphäre ausschied, vielmehr stellt sich das Aufgehen des Nordens im mittelalterlichen christlichen Europa als Resultat eines vielschichtigen Prozesses dar, dessen Anfänge mindestens bis ins 10. Jahrhundert zurückreichen.

Kontinuität im nordischen Mittelalter

Naheliegenderweise hat die mehr oder weniger eingestandene Sehnsucht nach dem Exotischen, die sich im populären Wikingerinteresse kundtut, den Blick auf die vielfältigen ökonomischen und politischen Bezüge, in denen der wikingerzeitliche Norden steht, weitgehend verstellt. Auch die Kolonien im Nordatlantik oder die Staatengründungen in Westeuropa stellen sich in dieser Sichtweise eher als Ausdruck romantischer Abenteuerlust dar denn als die sozio-ökonomischen und politischen Prozesse des Frühmittelalters, als die sie zu analysieren wären. Und schließlich führt die einseitige Fixiertheit auf die Wikinger dazu, dass die außerordentlichen kulturellen Leistungen des skandinavischen Hochmittelalters außer Betracht bleiben oder gar mit den Jahrhunderte älteren Manifestationen der Wikingerkultur in eins gesetzt werden.

Vor allem die vielleicht bedeutendste kulturelle Schöpfung des 13. Jahrhunderts, die Konstruktion einer immens sinnbesetzten Wikingervergangenheit im Medium der Sagaliteratur, wird oft genug in inadäquater Weise als letzter Ausläufer des Wikingerzeitalters betrachtet. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus erfreulich, dass eine Neuerscheinung über Europas Norden im Mittelalter schon im Untertitel einen von der Wikinger-Literatur deutlich verschiedenen thematischen Schwerpunkt signalisiert: Die Integration Skandinaviens in das christliche Europa (9. — 13. Jh.) knapp und allgemeinverständlich darzustellen, hat sich der Heidelberger Historiker Martin Kaufhold vorgenommen.

Das Buch, das auf einer Vorlesung über die "Grundzüge der nordischen Geschichte im Mittelalter" (7) basiert und vom Autor vorsichtig als "Essay" klassifiziert wird, ist gleichzeitig eine Geschichte der mannigfaltigen Begegnungen der Skandinavier mit ihren Nachbarn im Süden und Südwesten, angefangen mit den Wikingerüberfällen auf englische und irische Klöster ab dem späten 8. Jahrhundert bis hin zur Etablierung der Hansekaufleute in Bergen und Stockholm im 13. Jahrhundert. Die signifikanten Entwicklungen, denen der Norden in diesem halben Jahrtausend unterworfen war, sind aufs innigste miteinander verknüpft: der Glaubenswechsel und die daraus resultierenden mentalen und ethischen Veränderungen, die Herausbildung der nordischen Königreiche Dänemark, Norwegen und Schweden durch einen tiefgreifenden politischen Strukturwandel, an dessen Ende die Rezeption des feudalen Systems stand, sowie die fortschreitende politische, ökonomische und ideologische Integration in die europäische >Staatengemeinschaft<.

Von Aposteln und Räubern

Kaufholds Darstellung setzt mit den Missionsaktivitäten des Hl. Ansgar ein, über dessen Reisen nach Dänemark und zu dem mittelschwedischen Handelsplatz Birka wir durch die Vita Anskarii seines Schülers Rimbert verhältnismäßig gut orientiert sind. Ansgars Mission ist für die Kirchengeschichte Norddeutschlands sicherlich von größerer Bedeutung als für die des Nordens; während Ansgars Aktivitäten in Birka keine Spur hinterließen, sich wohl in Wirklichkeit auch in der gottesdienstlichen Betreuung der dort ansäßigen christlichen Händler erschöpften, resultierte der kirchenpolitische Ausgriff auf Skandinavien und den Ostseeraum in der Gründung des Erzbistums Hamburg-Bremen im Jahre 863.

Das folgende Kapitel behandelt die frühe Phase der Wikingerzüge, die man üblicherweise mit dem Überfall auf das Kloster Lindisfarne in Northumbria im Sommer des Jahres 793 beginnen läßt. Durch die Briefe Alcuins wurde dieses Ereignis nicht nur in der gesamten Christenheit bekannt; der aus derselben Region stammende >Bildungsminister< Karls des Großen lieferte gleichzeitig auch ein lange Zeit verbindliches Deutungsmuster, demzufolge die Wikingerüberfälle als Strafe Gottes aufzufassen seien. In den 830er Jahren griffen die Raubzüge auch auf das Frankenreich über, das unter Ludwig dem Frommen in eine schwere Herrschaftskrise geraten war und den Aggressionen der dänischen und norwegischen Seefahrer zunächst wenig entgegenzusetzen hatte.

Die häufig geäußerte Theorie von der Überbevölkerung der bewohnbaren Regionen des Nordens als Grund für die Expansion der Wikinger weist Kaufhold zurück, allerdings ohne zwischen den Plünderungszügen und den späteren kolonisatorischen Aktivitäten — nur für letztere wären demoskopische Argumente allenfalls zu erwägen — deutlich zu unterscheiden. Kaufholds Erklärungsmodell weist dem gegenüber soziale und psychologische Momente auf:

Die Verbindung von lohnenden Zielen und der schnell verbreiteten Kunde von diesen lohnenden Zielen mit einer Haltung, die solchen Abenteuern gegenüber aufgeschlossen war, bietet eine mögliche Erklärung für das schwunghafte Einsetzen der Wikingerfahrten seit den 830er Jahren (S.33)

— nicht aber für den konstatierten Zeitpunkt.

Die Wikinger als Kolonisatoren

Nach dem Abklingen der aggressiven, von Plünderungen und Belagerungen geprägten ersten Phase der Wikingerzeit und mit den ersten Kolonisationsunternehmungen in England, Irland und der Normandie tritt die Christianisierung der Skandinavier als integrierendes Moment des historischen Prozesses in Kaufholds Darstellung immer stärker in den Vordergrund. "Das Problem des Religionswechsels war das zentrale Problem der gemeinsamen Identität dieser Epoche" (S.38), wobei diese gemeinsame Identität freilich erst errungen werden mußte.

Kaufhold wählt als erstes konkretes Beispiel für die religiöse, kulturelle und politische Integration von Skandinaviern in die europäische Welt die Normandie, muss dabei allerdings einräumen, dass dieser Prozess aufgrund der schlechten Quellenlage kaum nachzuvollziehen ist (vgl. S.42). Kaufhold zufolge war die Integration der Normannen in ihren neuen westfränkischen Lebensraum nach etwa vier Generationen abgeschlossen, was im engen Zusammenhang mit der Bekehrung der nordischen Stammländer zu sehen sei.

Im darauffolgenden Kapitel behandelt der Verfasser die Entwicklungen im Norden des 10. und frühen 11. Jahrhunderts, wobei Schweden allerdings ausgespart bleibt. Die Christianisierung Norwegens wird ebenfalls äußerst knapp beschrieben; auf die Rolle Olafs des Heiligen als Vollenders der Bekehrung und politischen Einigung Norwegens wird nicht eingegangen. Ein eigener Unterabschnitt ist allerdings der nordatlantischen Expansion gewidmet, also den Versuchen, auf Grönland und an der Küste Nordamerikas zu siedeln.

Der Norden wird europäisch

Das nächste Kapitel "Island — am Rande des hochmittelalterlichen Europa" liefert eine eng an den norrönen Quellen, die die isländischen Anfänge freilich teilweise mythisieren, orientierte Schilderung der Besiedlung der Nordatlantikinsel sowie der berühmten Vorgänge auf dem Allthing des Jahres 1000, auf dem die Isländer das Christentum annahmen.

Der nun folgende Abschnitt "Das Ringen um die kirchliche Hegemonie im Norden in der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts" greift das schon im vorigen Kapitel angeschnittene Thema der Missionierung wieder auf, wobei besonders die Rolle des Erzbistums Hamburg-Bremen und die Kirchengeschichte Adams von Bremen beleuchtet werden. Die letzten beiden Kapitel des Buches schließlich analysieren die Entwicklungen des 12. und 13. Jahrhunderts, also etwa die Herausbildung der kirchlichen Strukturen und den wachsenden Einfluß des Papsttums im Norden, die Festigung der Königsmacht, ferner die Etablierung des kanonischen Rechts und die im 13. Jahrhundert stetig an Bedeutung gewinnenden merkantilen Beziehungen, wobei natürlich in erster Linie an die den Nordeuropahandel von Bergen und Stockholm aus kontrollierende Hanse gedacht wird.

"Ein großes Thema für ein kleines Buch"

Schon aufgrund der ungünstigen Quellenlage gibt es kaum einen Aspekt der Geschichte des skandinavischen Nordens, der nicht mehrdeutig wäre und entsprechend intensive Debatten hervorgerufen hätte; das gilt für die Bewertung der Wikingerzüge ebenso wie für die Interpretation der Quellen zur Christianisierung des Nordens sowie zur Entstehung der drei skandinavischen Königreiche. Man würde einer einführenden Überblicksdarstellung entschieden zu viel aufbürden, wenn sie alle diese Forschungsprobleme im Detail zur Darstellung bringen sollte.

Wer einen derart komplexen Prozess wie den der Integration Skandinaviens in die europäische Staatenwelt allgemeinverständlich und knapp gefaßt beschreiben möchte, muß vielmehr den Mut aufbringen, vielschichtige Zusammenhänge zu vereinfachen, weniger signifikante Quellen zu übergehen und Aspekte auszublenden, die an sich wichtig sein mögen, aber die zentralen Argumentationslinien der Darstellung verdunkeln würden. Wer ein "großes Thema für ein kleines Buch" (S. 9) wählt, bietet der Kritik von vornherein zahlreiche Angriffspunkte, doch sollte der Kritiker seinerseits bei der Bewertung den notwendigerweise essayistischen und unvollständigen Charakter eines solchen "kleinen Buches" stets vor Augen haben. Doch auch bei gebührender Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte kommt man aus skandinavistischer Sicht um einige kritische Anmerkungen zu Martin Kaufholds Essay nicht herum.

Die kaum zu vermeidende Unvollständigkeit eines solchen Essays könnte zumindest bis zu einem gewissen Grad durch eine Bibliographie kompensiert werden, die dem Leser die Möglichkeit gibt, offen gebliebenen Fragen durch weiterführende Lektüren nachzuspüren. Das Literaturverzeichnis ist angesichts der Komplexität des Themas jedoch ungemein knapp gehalten und läßt eine ganze Reihe von zentralen Arbeiten zum skandinavischen Mittelalter vermissen. Da sich Kaufholds Arbeit nicht speziell an ein skandinavistisches Fachpublikum richtet, ist es durchaus vertretbar, die Bibliographie im wesentlichen auf deutsch- und englischsprachige Titel zu begrenzen.

Dass die skandinavische Fachliteratur aber nicht vollständig ignoriert werden kann, konzediert Kaufhold selbst durch die Aufnahme von Knut Helles Norge blir en stat in sein Schriftenverzeichnis. Seit 1964, als dieses Werk zum ersten Mal erschien, hat die Geschichtswissenschaft in den skandinavischen Ländern, nicht zuletzt auch im Rahmen einiger groß angelegter interdisziplinärer Forschungsprojekte, erhebliche Fortschritte im Hinblick auf ein genaueres Verständnis der Christianisierungs- und Reichseinigungsprozesse erzielt. Erwähnt sei hier nur das Ende der achtziger Jahre in Uppsala ins Leben gerufene Projekt "Sveriges kristnande", dessen Resultate unsere Perspektive auf die Bekehrungsgeschichte Schwedens zwischen der Missionierung Ansgars und der Zeit Eriks des Heiligen nicht wenig verändert haben.

Doch weder dieses noch irgendein anderes der großen nordischen Mittelalterprojekte findet bei Kaufhold Erwähnung. Und selbst die knappste Bibliographie sollte ein Werk wie Maja Hagermans Spåren av kungens män 4 nicht vermissen lassen, eine zu Recht als bestes schwedisches Sachbuch preisgekrönte Darstellung des Europäisierungsprozesses, dem Schweden und der Norden im Mittelalter unterworfen wurden.

An englischsprachigen Titeln fehlen bedauerlicherweise so einschlägige Arbeiten wie Jón Hnefill Áðalsteinssons klassisches Werk über die Bekehrung Islands, Under the Cloak 5 , das 1999 in einer erweiterten und aktualisierten Neuauflage erschienen ist, oder Peter Sawyers Essay The Making of Sweden 6 , der ein von Kaufhold fast völlig ignoriertes Problem der nordischen Geschichte behandelt, nämlich die Frage nach der Entstehung des schwedischen Nationalstaats durch die Vereinigung der Svear mit den götischen Stämmen. Auch Jón Viðar Sigurðssons anregende und in mancherlei Hinsicht zum Überdenken erstarrter Vorstellungen zwingende Dissertation 7 über die Institutionen des isländischen Freistaats sollte selbst in die kürzeste Literaturliste über den Norden im Mittelalter Eingang finden.

Es mag beckmesserisch erscheinen, das Fehlen bestimmter Titel in einer Bibliographie zu monieren; doch indiziert dieser Mangel eine generelle Schwäche von Kaufholds Essay, nämlich die des öfteren fehlende Berücksichtigung neuerer Forschungsergebnisse über die innernordischen Entwicklungen im Mittelalter. Deutlich wird dies beispielsweise an seiner Darstellung des isländischen Freistaats, dem Kaufhold mit Recht ein eigenes Kapitel widmet. Er folgt in seiner Darstellung der Bekehrung Islands unkritisch den von Ari Thorgilssons Íslendingabók abhängigen Sagas, die aus recht durchsichtigen ideologischen Gründen die Bekehrung als eine norwegische Initiative darstellen; schon Ari beginnt den Abschnitt seiner Íslendingabók mit dem Postulat "König Olaf, der Sohn Tryggvis (...), führte das Christentum in Norwegen und Island ein" 8.

Die Einflußnahme Olaf Tryggvasons auf die Bekehrungsaktivitäten in Island sind ein kaum bezweifelbares Faktum; dass Island vorher vollkommen heidnisch gewesen sein soll, ist indessen eine schon lange nicht mehr haltbare Annahme. Ari Thorgilsson und seinen Nachfolgern ging es offensichtlich darum, ein aus hochmittelalterlicher Perspektive unerwünschtes, weil irisch geprägtes, Christentum aus der Tradition zu eliminieren. Etwa 40 % dürfte der Anteil von Iren an den Einwanderern ausgemacht haben, und wenn es sich dabei auch um vornehmlich unterprivilegierte Teile der Bevölkerung gehandelt hat, so ist ihr kultureller und religiöser Einfluß auf den isländischen Staat doch wohl der Rede wert — vor allem wenn das >Zusammenwachsen< Europas und des Nordens in Rede steht. 9

Nicht wenige der altnordischen Überlieferungen lassen verschiedene Auslegungen zu; die Berichte über die Annahme des Christentums in Islands gehören zweifellos dazu. Doch enthält gerade das Island-Kapitel des Essays auch Unstimmigkeiten, die kaum zur Diskussion zu stellen sein dürften: So sind die Isländersagas keineswegs im Zeitraum zwischen 1190 und 1230 geschrieben worden (vgl. S. 73) die jüngsten der >klassischen< Sagas fallen ins 14. Jahrhundert, während 1190 sicherlich noch keine Isländersaga zu Pergament gebracht worden ist; hier liegt offensichtlich eine Verwechslung mit der Blütezeit der norrönen Historiographie vor, die genau in diese Zeit fällt. Ferner läßt sich die Auffassung Kaufholds, Ari hätte in der Íslendingabók die angestammte relative Chronologie zugunsten der christlichen Zeitordnung aufgegeben, am Text kaum verifizieren; die intellektuelle Leistung Aris, der zwischen oralen und literarischen Formen der historischen Tradition zu vermitteln hatte, liegt ja gerade in der geschickten Ineinanderblendung des autochthonen anthropomorphen Zeitkonzepts und der absoluten Chronologie des christlichen Heilsplans.

Wenngleich Kaufholds Essay insgesamt flüssig und gut lesbar geschrieben ist, so kommt es doch hin und wieder, vermutlich infolge des Knappheitsgebots, zu mißverständlichen oder irreführenden Gedankengängen. So heißt es im Zusammenhang mit der Besiedlung Grönlands und Nordamerikas durch Isländer:

Die Grenze für ein integrierbares, bewohntes Siedlungsland verlief bei Island. Zwischen Island und Norwegen bestand ein regelmäßiger und einigermaßen routinierter Schiffsverkehr. Für Grönland galt dies nur kurzzeitig. Auf längere Sicht war die Insel zu abgelegen und zu arm an eigenen Mitteln, um einen regelmäßigen Handelsverkehr zu unterhalten oder nur anzuregen. Die Grönländer selber hatten zuwenig Holz, um eigene Schiffe zu bauen, und sie gerieten ins Abseits. (S. 63)

Diese Passage suggeriert ein Scheitern der Siedlungsversuche bereits in der ersten Phase — tatsächlich bestanden die beiden nordischen Siedlungen auf Grönland rund 500 Jahre, bis an die Schwelle der Neuzeit. Die kolonisatorischen Aktivitäten im nordamerikanischen >Vínland< und auf Grönland verliefen allzu unterschiedlich, als dass man sie der Kürze halber in eins setzen dürfte, wie Kaufhold es tut.

Zumindest mißverständlich ist des weiteren die Angabe, Schonen habe während der Wikingerzeit "ebenso wie der Südwesten Norwegens (...) unter dänischer Herrschaft" (S. 54) gestanden — Schonen war vielmehr bis 1645 stets ein integrierender Bestandteil Dänemarks gewesen, auf den Schweden auch vorher nie Anspruch erhoben hatte. Die ehemalige Zugehörigkeit weiter Teile des heutigen Südschwedens zu Dänemark ist aber gerade ein Faktum, dessen Kenntnis bei deutschen Lesern nicht vorausgesetzt werden kann, das aber für das Verständnis der dänischen Machtposition im vormodernen Skandinavien unerläßlich ist.

Die Form des Essays, als den Kaufhold seine Darstellung verstanden wissen möchte, berechtigt bis zu einem gewissen Grad zu einer subjektiven Auswahl der Aspekte, unter denen die Europäisierung des Nordens zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert veranschaulicht werden soll; der Kritik sind hier daher, wie schon erwähnt, recht enge Grenzen gesetzt. Viele dieser signifikanten Aspekte sind zweifellos glücklich gewählt; vor allem die beiden letzten großen Kapitel über die Etablierung der Kirchenstrukturen im 12. Jahrhundert sowie über die Entwicklungen des 13. Jahrhunderts bieten eine profunde und lehrreiche Analyse der hochmittelalterlichen Prozesse zwischen dem Norden und Europa. Überhaupt vermag Kaufhold seine Stärken immer dann auszuspielen, wenn er den Integrationsprozess aus europäischer Perspektive bzw. mittels außernordischer Quellen in den Blick nehmen kann. Doch auf der anderen Seite bleibt der Eindruck einer allzu torsohaften Darstellung, bei der manches Wesentliche ausgeblendet bleibt. So erscheint es zumindest erstaunlich, dass die zentrale, weit über Skandinavien hinausstrahlende Integrationsgestalt des nordischen Mittelalters, Olaf der Heilige, nur drei oder vier Mal en passant erwähnt wird; und ebenso fragwürdig mutet gerade in der heutigen Zeit die Entscheidung an, die schwedischen Aktivitäten in Ost- und Südosteuropa, die Rolle, welche die ostnordischen >Rus< im Kiewer Reich gespielt haben, mit keinem Wort zu erwähnen.

Fazit

"Europas Norden im Mittelalter" hätte ein für Historiker, Nordisten und allgemein geschichtlich interessierte Leser überaus nützliches und lehrreiches Buch werden können, wenn Martin Kaufhold sich auf die Darstellung der hochmittelalterlichen skandinavisch-europäischen Entwicklungslinien beschränkt hätte, die er zweifellos kompetent überschaut. Das hochgesteckte Ziel Kaufholds, fünf Jahrhunderte skandinavischer Geschichte im Lichte einer fortschreitenden Europäisierung transparent zu machen, muß indessen als verfehlt bezeichnet werden. Das offensichtlich weitgehende Desinteresse Kaufholds an den Arbeiten seiner skandinavischen Kollegen ist sicherlich einer der Hauptgründe dafür. Die durchaus beachtlichen Erträge der neueren skandinavischen Mittelalterforschung sind leider nur in sehr geringem Maße in Kaufholds Präsentation der innernordischen Entwicklungen eingegangen; dies macht sich besonders schmerzlich im Island-Kapitel sowie in der recht inkohärenten und schwer nachvollziehbaren Aufarbeitung der Bekehrungsgeschichte Kontinentalskandinaviens bemerkbar. Zentrale Fragen der neueren Forschung wie die nach dem iro-keltischen Element im isländischen Freistaat oder nach dem Einfluß der englischen Kirche auf die Missionierung Norwegens und Schwedens kommen so gut wie gar nicht ins Bild.

Am Ende bleibt der Eindruck eines im Aufbau und streckenweise auch in der Diktion recht zerfahrenen Werks, das wichtige Aspekte der innernordischen Entwicklung in einem nebulösen Ungefähr beläßt und nur in seinen Analysen des 12. und 13. Jahrhunderts zu überzeugen vermag.


Dr. Klaus Böldl
Universität München
Institut für Nordische Philologie
Amalienstraße 83
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 19.02.2002
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Anmerkungen

1 Rudolf Simek : Die Wikinger (Beck'sche Reihe; 2081) München: 1998.   zurück

2 Peter Sawyer (Hg.): Die Wikinger. Geschichte und Kultur eines Seefahrervolkes (OA: The Oxford Illustrated History of the Vikings, Oxford: 2000) Aus dem Engl. von Thomas Bertram. Stuttgart 2000.   zurück

3 Régis Boyer: Die Wikinger. Aus dem Franz. von Linda Gränz (OA: Les vikings. Histoire et civilisation. Paris 1992) 2. Aufl. Stuttgart 1995.   zurück

4 Maja Hagerman: Spåren av kungens män. Om när Sverige blev ett kristet rike i skiftet mellan vikingatid och medeltid. Stockholm 1996.   zurück

5 Jón Hnefill Áðalsteinsson: Under the Cloak. 2nd ed. Uppsala 1999.   zurück

6 Peter Sawyer: The Making of Sweden. Alingsas 1989.   zurück

7Jón Viðar Sigurðsson: Chieftains and Power in the Icelandic Commonwealth. Translated by Jean Lundskær-Nielsen (The Viking Collection; 12) Odense 1999.   zurück

8 Islands Besiedlung und älteste Geschichte. Übertragen von Walter Baetke (Thule. Altnordische Dichtung und Prosa; 23) Düsseldorf, Köln 1967. S. 49.   zurück

9 Vgl. hierzu beispielsweise Jónas Gíslason: Acceptance of Christianity in Iceland in the year 1000 (999). In: Tore Ahlbäck (ed.): Old Norse and Finnish Religions and Cultic Place Names. Åbo, Stockholm 1990, S. 223—255.   zurück