Bogner über Riedl: Öffentliche Rede in der Zeitenwende - Preprint

Ralf Georg Bogner

Peter Philipp Riedl: Öffentliche Rede in der Zeitenwende. Deutsche Literatur und Geschichte um 1800. (Studien zur deutschen Literatur 142) Tübingen: Niemeyer 1997. VI, 418 S. Kart. DM 116,-.



Forschungen zur Rhetorik im 18. Jahrhundert

Die bildungsgeschichtliche Stellung, sozialhistorische Einbettung und poetologische Bedeutung der Rhetorik in den Dekaden um das Jahr 1800, insbesondere ihr immer wieder beschworener und auf verschiedenste Weise begründeter Nieder- oder Untergang, sind mehrfach heftig und kontrovers diskutiert worden. Nach Ansicht von Walter Jens beispielsweise liegen die Ursachen für die massive Kritik an der Rhetorik im späten 18. Jahrhundert in der eskapistischen Ideologie des Bürgertums, "das sich, realer Herrschaft beraubt, im reinen Reich der Kunst für mangelnden politischen Einfluß schadlos halten" wollte und daher ein primär wirkungsorientiertes Instrumentarium für die Herstellung von Texten ablehnte.1 Manfred Fuhrmann hingegen rückt die "Umkrempelung des Bildungswesens" um 1800 in den Vordergrund, einen institutionengeschichtlichen Prozeß, "welcher unter anderem auch die Rhetorik zum Opfer fiel", und verweist auf die sukzessive Abschaffung des klassischen Rhetorikunterrichts an den Gymnasien und das Schwinden einer aktiven Beherrschung des Lateinischen.2 Joachim Dyck und Jutta Sandstede wiederum haben jüngst mit einer umfassenden Quellenbibliographie den Nachweis der ungebrochenen Ubiquität der Rhetorik während des gesamten 18. Jahrhunderts zu führen versucht,3 dabei in ihren Titelaufnahmen freilich vor allem die gewaltigen Transformationen, denen die rhetorischen Techniken verpflichteten Anweisungen zur Textproduktion zwischen 1700 und 1800 unterworfen waren, erkennbar werden lassen.

Der Stellenwert der Rhetorik im sozialhistorischen Kontext am Ende des 18. Jahrhunderts ist, dies zeigt sich an den Diskussionen, noch lange nicht hinreichend untersucht, selbst wenn man zugesteht, daß manche Debatten und Verwirrungen sich schlichtweg aus der Vermengung unterschiedlicher Bedeutungen des Begriffs Rhetorik (klassische Schulrhetorik, partieller Rückgriff auf traditionelle rhetorische Muster in diversen Anleitungen für die Textherstellung, gesellschaftlicher und ästhetischer Rang von Reden) ergeben. Angesichts der Forschungslage erscheint die Publikation von Peter Philipp Riedls Studie zur "öffentliche[n] Rede in der Zeitenwende" umso erfreulicher, auch deswegen, weil ihr Verfasser explizit gegen Jens, Fuhrmann und andere den Anspruch erhebt, den "Gesamtkomplex der Rhetorikdiskussion [...] facettenreicher und differenzierter" darzustellen, als dies bisher geschehen sei (S. 371). Er stellt sich selbst

"die zentrale Aufgabe, den Gesamtdiskurs über das Phänomen der öffentlichen politischen Rede in Deutschland seit dem späteren 18. Jahrhundert bis 1815, mit dem Kulminationspunkt der Französischen Revolution, [...] in seinen wesentlichen Zügen aufzufächern und zu diskutieren." (S. 4)

Antike Rhetorik als Untersuchungsfolie

Bemerkenswerterweise ist die umfangreiche Studie über die "öffentliche Rede" um 1800 jedoch nicht bildungsgeschichtlich orientiert. Der Rhetorikunterricht an den zeitgenössischen Bildungseinrichtungen als die theoretische Grundlage jedweden oratorischen öffentlichen Auftretens wird in seiner um 1800 außerordentlich starken Transformationen unterworfenen Ausrichtung und in seinem veränderten Stellenwert von Riedl ebensowenig in den Blick genommen wie die einschlägigen rhetorischen Lehr- und Handbücher mit ihrem je spezifischen Zuschnitt auf die aktuellen Erfordernisse und sozialen, politischen und diskursiven Kontexte.4 Lediglich "Bestrebungen zur Reform des Kathedervortrags" (S. 229-241), vor allem diesbezügliche Überlegungen von Fichte, Humboldt, Schelling, Schleiermacher sowie Henrik Steffens, behandelt der Vf. in einem Unterkapitel, ohne freilich die praktische Umsetzung der unterschiedlichen Reformkonzepte an den Universitäten weiter zu verfolgen.

Riedl strebt darüber hinaus auch keine historisch- systematische Untersuchung der Rhetorik um 1800 an. Sein Interesse gilt nicht der zeitspezifischen Ausdifferenzierung des Systems der Rhetorik als Instrumentarium der Verfertigung verschiedenster Gattungen von Texten. Die Grundzüge von Aufbau und Disposition charakteristischer rhetorischer Modelle um 1800, die besonderen Akzentuierungen spezifischer rhetorischer Strategien oder die Bandbreite an auxiliarer Literatur will der Vf. mit der vorliegenden Studie nicht vermessen. Der "Gesamtdiskurs über das Phänomen der öffentlichen politischen Rede" wird, wie die Bezüge und Zitate immer wieder zeigen, auf der Folie des Systems der klassischen Rhetorik, d. h. der Modelle von Aristoteles, Cicero und Quintilian beurteilt. Die unausweichliche Konsequenz der Entscheidung, öffentliche Rede um 1800 nicht im Rahmen zeitgenössischer, sondern antiker rhetorischer Systeme zu situieren, ist, daß die historisch tatsächlich ausgeprägten Formen "öffentliche[r] Rede in der Zeitenwende" verblüffenderweise nur am Rande behandelt werden. Weil, so Riedl, "der öffentlichen Rede in Deutschland ihre klassischen Felder, Parlament und Gerichtshof, fehlten" (S. 2), weil das genus deliberativum und das genus iudiciale in den absolutistisch regierten deutschen Territorien und an den weitgehend nur schriftlich arbeitenden deutschen Gerichtshöfen keinen Raum gehabt hätten, habe sich öffentliche Rede um 1800 "lediglich auf dem Feld der Literatur voll und ganz entfalten" können (S. 1), und daher habe eine Untersuchung dieses Themas primär dessen literarische Reflexion aufzuarbeiten. So kommt es denn, daß der vorliegende Band seinen Gegenstand, mit Bedauern sei es gesagt, weitgehend verfehlt.

Problematik einer antikisierenden Definition von Rhetorik

Riedls Projektion der klassischen Rhetorik in die Redepraxis des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ist deswegen der Fragestellung so unangemessen und auch im ganzen so schief, weil eine der wichtigsten Eigenschaften von Rhetorik, vielleicht ihr größtes Potential, damit völlig ausgeklammert und negiert wird, nämlich die Möglichkeit, die von ihr bereitgestellten Techniken zur Produktion von Texten selektiv, adaptiv und transformativ immer wieder neuen sozialen und diskursiven Herausforderungen anzupassen. Das System der Rhetorik ist von seinen Anfängen an stetig umgebaut und umformuliert worden, um für neue Zwecksetzungen und Aufgaben in veränderter Form jeweils andere Lösungsvorschläge zur Gestaltung eines wirkungsorientierten Textes zur Verfügung stellen zu können. Es gibt daher für die Rhetorik nicht das "ureigenste Feld" der Betätigung (32), sondern nur ein jeweils im historischen Kontext angesiedeltes; wenn sie in ihrer "ursprüngliche[n] Eigenschaft [...] ein Mittel der politischen Entscheidungsfindung" war, besagt dies nichts über ihre späteren Eigenschaften und Funktionen unter anderen geschichtlichen Bedingungen; und wenn in England im Parlament und am Gericht tatsächlich öffentliche Reden gehalten werden konnten, wurde das System der Rhetorik deswegen nicht an und für sich besser in die Praxis umgesetzt.

Wer daher das Phänomen öffentlicher Rede in Deutschland um 1800 nach dem Maßstab von Ciceros genera dicendi bewertet, muß notwendigerweise zu einem negativen, für jeden Fall aber zu einem falschen Ergebnis kommen. Literatur- wie auch Rhetorikgeschichte kann nicht als Geschichte des Abweichens konkreter neuzeitlicher Texte von antiken Mustern, kann nicht als Defizit-Historie betrieben werden, so sehr man die politische und rechtliche - und damit auch die rhetorische - Situation Deutschlands "in der Zeitenwende" bedauern mag. Riedl bezieht sich sogar punktuell auf einige Theoretiker des 18. Jahrhunderts, die Geschichts- und Parlamentsrede explizit aus den genera dicendi ausschließen: Genus deliberativum und genus iudiciale finden bei Gottsched keinen Platz im rhetorischen System (S. 25), Garve und Herder bewerten die markante Verdrängung jener Formen von Rede aus dem öffentlichen Leben durchaus positiv (S. 188 und 209), Theodor Heinsius unterscheidet drei Formen des Vortrags - die Rede auf dem Theater, vom Katheder und von der Kanzel - und verabschiedet programmatisch das überkommene antike Modell der drei genera dicendi (S. 210). Riedls antikisierende Definition von öffentlicher Rede um 1800 geht mithin auch an den zeitgenössischen theoretischen Entwürfen der Kunst der Beredsamkeit vorbei.

Formen öffentlicher Rede um 1800 - Predigt

Zurück zu den verschiedenen Formen öffentlicher Rede um 1800 und ihrer (defizitären) Darstellung im vorliegenden Band. Die entscheidendste systematische Veränderung auf dem Gebiet der genera dicendi erfuhr die Rhetorik in ihrer Geschichte bekanntlich infolge der Christianisierung Mitteleuropas durch die Erweiterung der klassischen oratorischen Gattungstrias um die Predigt. An der Wende zum 18. Jahrhundert war sie in Deutschland nach wie vor, neben der Theaterbühne und der universitären Kanzel, die wichtigste und die breitenwirksamste Form öffentlicher Rede. Riedl räumt sogar ein, daß die Predigt um 1800 "den größten legalen Spielraum für freie Meinungsäußerung" geboten habe (S. 297); da sie aber nicht in das seiner Arbeit zugrundeliegende Modell der klassischen Rhetorik paßt, wird sie in der doch recht voluminösen Studie über den "Gesamtdiskurs" zur öffentlichen Rede auf nur etwa 20 Seiten flüchtig gestreift (S. 294-317). Genauer gesagt, will Riedl sich ausschließlich "politische[n] Predigten" (294) widmen, wobei er allerdings alle Predigten insgesamt aufgrund ihres Öffentlichkeitscharakters als "strukturell politisch" (296) einstuft. Die exemplarischen Analysen, welche die These einer bis dahin nicht dagewesenen "Blüte" (298) der politischen Predigt "in der Zeitenwende" belegen sollen, dokumentieren gelegentliche Reflexe auf die aktuelle, krisenhaft erlebte politische Wirklichkeit, deuten diese freilich, wie Riedl selbst eingesteht, mit allgemeinen metaphysischen "Topoi" wie Krankheit, Verblendung und Selbstsucht des Zeitalters, um schließlich stets in Appelle zur individuellen religiösen Läuterung zu münden (S. 311).

Wer solcherart gestaltete Predigten als "politisch" bezeichnet, wird allerdings nicht von einer Blüte des Genres um 1800 sprechen dürfen, sondern eine ungebrochene Tradition derselben bis zu Luther zurückverfolgen können. Daß ferner viele Prediger sich zuletzt während des Befreiungskriegs für Kriegspropaganda von der Kanzel in Dienst nehmen ließen, ist in der Geschichte der Militärseelsorge aller christlichen Konfessionen ebenfalls kein Novum. Schleiermacher, Riedls Kronzeuge für die vorgeblich massive Politisierung der Predigt, hat im übrigen die "Anwendung der Politik auf der Kanzel‘" selbst sogar als marginales "Grenzgebiet der Predigt apostrophiert" (S. 303). Der Vf. der Studie über die öffentliche Rede wäre demnach gut beraten gewesen, die Predigt um 1800 nicht pauschalisierend als "strukturell politisch", sondern als - immer noch - strukturell religiös zu begreifen und ihre reich ausdifferenzierten Formen von den Sonn- und Feiertags- über die Lob- und Heiligen- bis hin zu den Grabpredigten nachzuzeichnen. Daran hindert Riedl wiederum aber sein nicht näher begründetes Verdikt, daß "die Geschichte der Predigt im frühen 19. Jahrhundert [...] vorwiegend die Geschichte der protestantischen Predigt",5 und hier "allen voran" der Predigt von Schleiermacher sei (296). Es ist geradezu grotesk, wie hier ein literar- und sozialhistorisch zentrales Phänomen mit der größten Breitenwirkung (und die Untersuchung der Transformationen der "Öffentlichkeit", der "Interdependenz von Rhetorik, Macht und Meinung" hat der Vf. sich ja auch auf seine Fahnen geschrieben, S. 2, 13 u. ö.!) reduziert, vereinfacht und verzerrt wird.6

Politische Festrede

Noch trauriger steht es um die an den absolutistisch regierten Höfen noch bis ins späte 18. Jahrhundert höchst bedeutsame politische Fest- und Huldigungsrede. Sie wird in die Untersuchung erst gar nicht aufgenommen. Von ihr sei, bemerkt Riedl wegwerfend, "in erster Linie gelehrte Unterwürfigkeit erwartet" worden (S. 17). Diese Erwartung wurde beileibe aber nicht immer erfüllt. Die Rhetorik selbst reicht dem Orator eine Reihe subtiler Strategien an die Hand, mit deren Hilfe er vordergründig loben - und hintersinnig kritisieren kann. Schon in der Auswahl, Disposition und Gewichtung des Stoffes liegen bedeutende Potentiale für den Tadel, größere noch in der bewußten Auslassung oder in der Ironie. Letzterer bediente sich, um nur ein berühmtes Beispiel zu nennen, Heinrich Leopold Wagner in seinem Neujahrsgedicht "Phaeton" an den Fürsten Ludwig von Saarbrücken-Nassau auf derart skandalöse Weise, daß der Text in den letzten Zeilen nachgerade in eine bösartige Satire auf den panegyrisch Gefeierten umkippt.7 Die einzigen Festansprachen aber, die Riedl in seiner Studie, wenn auch sehr knapp, behandelt, sind Reden zu den Siegesfeiern nach dem Befreiungskrieg (S. 182-188). Als repräsentativ für die Kultur der Festrhetorik um 1800 können diese singulären Reden freilich nicht gelten.

Öffentliche Vorlesung

Große Beachtung schenkt der Vf. im Kontrast zu Predigt und Festrede den in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von mehreren bekannten Philosophen veranstalteten öffentlichen Vorlesungen. Gerade das Beispiel Fichtes, dessen Vortragszyklen ausführlich gewürdigt werden (S. 241-294), verschärft das angesprochene Problem des mangelnden Interesses für die Predigt noch mehr. Die breite Analyse von einigen Dutzenden in, wie Riedl selbst mitteilt, höchst elitärem Rahmen vorgetragenen (S. 271), in der Öffentlichkeit kaum rezipierten (S. 274) Reden kontrastiert auf das Schärfste mit der Geringschätzigkeit gegenüber dem Massenmedium Predigt, gerade in einer Arbeit, der es um die Transformation von Öffentlichkeit im Zeichen von Macht, Meinung und Rhetorik während der "Zeitenwende" geht. Schwerer freilich noch wiegt das Problem, daß der größere Teil der Untersuchung aufgrund der genannten systematisch-rhetorischen Prämissen gar nicht mit "öffentlicher Rede", mit Predigten, Festreden oder Vorlesungen, sondern mit Literarisierungen von Rede, mit stark rhetorisch geprägten poetischen wie auch Gebrauchsschriften und mit theoretischen Stellungnahmen zur Rhetorik befaßt ist. Daß dabei manches wichtige Material gesichtet wird und im einzelnen luzide rhetorische Einzelanalysen gelingen, ist nicht zu leugnen. Der selbstgestellte Anspruch aber kann nicht eingelöst werden, und die Gesamtkonzeption erscheint fragwürdig.

Rhetorik im literarischen Kanon

Der Hintergrund dieser Probleme der Darstellung dürfte indes nicht nur in der Ausrichtung an den klassischen genera dicendi, sondern auch in einer weitgehenden Orientierung am literarischen Kanon, dem Predigten und andere Gelegenheitsreden bekanntlich nicht zugerechnet zu werden pflegen, zu suchen sein. Die Studie zur "öffentliche[n] Rede" beschäftigt sich, so ihr Untertitel, mit "Literatur und Geschichte um 1800", und "Literatur" meint, wie bei der Lektüre sehr schnell deutlich wird, mit einigen Ausnahmen zentrale Texte der Literatur- und Philosophiegeschichtsschreibung. Gegenstand ausführlicher und umfangreicher Analysen sind unter anderem der Prozeß um des Esels Schatten aus Wielands Geschichte der Abderiten (S. 42-59), Goethes Reineke Fuchs (S. 59-87), Adam Müllers Zwölf Reden und Kleists Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden (S. 123- 154), Novalis‘ Die Christenheit (S. 200-208) sowie Fichtes Vorlesungszyklen (S. 241-294). Für die Analyse von Dramen, in denen öffentliche Reden und ihre Wirkungen auf der Bühne dargestellt werden, wählt Riedl Hölderlins Tod des Empedokles, Schillers Demetrius und Büchners Dantons Tod aus (317-369), drei Texte, die bekanntlich an der "Zeitenwende" nicht öffentlich aufgeführt wurden, während auf andere, durchaus publikumswirksame Texte, etwa von Vulpius oder Zschokke, weil sie "heute nahezu vergessen" seien (S. 334), lediglich in einer Fußnote verwiesen wird. Diese Akzentuierungen sind umso unverständlicher, als der Vf. sich in seiner Einleitung noch über Reinhart Kosellecks Konzept der Begriffsgeschichte gerade dewegen mokiert, weil diese "einseitig kanonisierte Theoretiker" bevorzuge (S. 14). Die ganze Bandbreite rhetorisch geprägter literarischer Gebrauchsformen kommt lediglich in dem - durchaus gelungenen - Abschnitt zur (schriftlichen) Propaganda der deutschen Jakobiner in der Mainzer Republik voll in den Blick (S. 159-171). Ansonsten aber herrscht über weite Strecken hin der Kanon, und das führt bei einer Arbeit zum Thema der öffentlichen Rede, die traditionellerweise weitgehend8 aus jenem ausgeschlossen worden ist, zu einer schwerwiegenden Verzerrung der Relationen.

Rhetorik und Politik

Ein weiteres zentrales Anliegen der Studie, das ebenfalls im Untertitel "Literatur und Geschichte um 1800" angesprochen wird, ist die Einbettung der zeittypischen Verwendung von und Reflexion auf bestimmte rhetorische Strategien in die spezifische historische Krisensituation. Die verschiedensten Stellungnahmen zu Wert und Unwert dieses Instrumentariums für die Herstellung von Texten werden ebenso umfänglich ausgebreitet wie die Indienstnahme der Rhetorik für die möglichst wirkungsvolle Vermittlung politischer Positionen bis hin zur Propaganda. Die Relationierung von "Literatur und Geschichte" ist jedoch nicht durchgängig wirklich geglückt. In Wielands Geschichte der Abderiten und Goethes Reineke Fuchs sieht Riedl deutliche negative Stellungnahmen der beiden Autoren zu "rhetorischen Überwältigungsstrategien, denen ein unaufgeklärtes Volk hilflos ausgeliefert ist" (S. 54f.), zur "genuin[en] Fragwürdigkeit der rhetorischen Kunst" (S. 79). Darüber hinaus aber "verarbeiten" die beiden Autoren, so Riedl, in diesen Texten "die unmittelbaren politischen Erfahrungen, die sie in und mit ihrer Zeit gemacht hatten." (S. 80) Näherhin:

Die Herausforderung der Französischen Revolution entfachte die Diskussion über das Für und Wider der öffentlichen politischen Rede in Deutschland mit neuer Schärfe und Brisanz. Die hier vorgestellten Antworten Wielands und Goethes fallen negativ aus, wobei Wieland in seinem Roman noch nicht einmal auf unmittelbare revolutionäre Erfahrungen zurückgreifen konnte." (S. 86)

Wieland hatte, darin liegt nun das Problem, mit der Arbeit an der Geschichte der Abderiten im Jahr 1773 begonnen und sie 1781 abgeschlossen; er konnte demnach gar keine Stellungnahme zur Revolution darin abgeben. Riedl löst diese Schwierigkeit nicht, indem er nach anderen "unmittelbaren politischen Erfahrungen" sucht, auf welche der Text möglicherweise eine "Antwort" darstellen könnte, sondern indem er dem Schriftsteller die quasi prophetische Fähigkeit zuspricht, die "revolutionäre Propaganda in Frankreich regelrecht antizipiert zu haben." (S. 80) Dem läßt sich nichts anderes als ein Glaubenssatz entgegenhalten: Fasse es, wer es zu fassen vermag! Allgemein ist zu konstatieren, daß "Literatur und Geschichte" von Riedl anhand von Gebrauchsschriften und Vorlesungen mehrfach in einen stringenten sozialhistorischen Zusammenhang gebracht werden, die Relationierung von Drama und Roman um 1800 mit den Zeitgeschehnissen jedoch deutlich weniger überzeugend ausfällt. Wenn der Vf. zum Beispiel behauptet, die Reichstagsszene aus Schillers Demetrius sei "offenkundig" (S. 354) eine kritische Reaktion auf die Geschehnisse in der französischen Nationalversammlung, oder genauer gesagt, sie könnte auf diese Weise interpretiert werden, hätte man doch noch einige triftige Argumente für diese Deutung erwartet.

Zeitenwende auch in der Rhetorik?

Zuletzt noch ein Wort zu der ebenfalls bereits im Titel herausgehobenen "Zeitenwende". Die Entscheidung, die krisenhaften politischen Entwicklungen im Alten Reich zwischen 1780 und 1815 mit diesem Terminus auf einen markanten Begriff zu bringen, ist nachvollziehbar und vernünftig. Viel wichtiger ist jedoch die Frage, ob damit auch ein zutreffender Terminus für die Bezeichnung eines Umbruchphänomens der Rhetorikgeschichte, um die es Riedl ja primär zu tun ist, gefunden wird. Dies ist freilich nicht zu erkennen. Daß sich Propagandisten schriftlich wie mündlich in politischen Krisensituationen der Rhetorik bedienen, daß sich die rhetorischen Strategien in den feindlichen Lagern weitgehend gleichen, daß den Demagogen alsbald der Mißbrauch der Rhetorik, auch in literarisierter Verschlüsselung, vorgeworfen, die Rhetorik insgesamt ethisch disqualifiziert wird, daß in Kriegszeiten eifrige Prediger die Männer an die Front hetzen, daß manche Theoretiker die Kraft des mündlichen Vortrags über-, andere unterschätzen, - das alles gilt für die "Zeitenwende" ebenso wie für die Jahrzehnte, teils auch die Jahrhunderte davor und danach. Darin läge kein Problem, wenn sich Riedl einfach die Darstellung der spezifischen zeittypischen Ausprägung dieser Diskurse mit allen ihren historischen Einzelheiten vorgenommen hätte. Aber gerade der hohe (jedoch nicht eingelöste) Anspruch, den Niedergang der Rhetorik um 1800 mit dem Konzept der "Zeitenwende" zu erklären, hinterläßt nach der Lektüre eine umso größere Enttäuschung. Riedl gibt keinerlei Antworten auf die Frage, inwiefern, und wenn ja, warum sich der Status, die kritische Einschätzung und auch die praktische Verwendung der Rhetorik in der Zeit zwischen 1780 und 1815 signifikant verändert haben. Es bleibt zu hoffen, daß sich bald ein anderer Forscher oder eine andere Forscherin dieser brennenden Fragen mit größerer konzeptueller Umsicht, breiterer Materialkenntnis und höherem interpretatorischem Geschick annehmen möge.


Dr. Ralf Georg Bogner
Ruprecht-Karls-Universität
Germanistisches Seminar
Hauptstr. 207-209
D-69117 Heidelberg

Preprint der im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) erscheinenden Druckfassung. Ins Netz gestellt am 13.07.1999

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Peter Philipp Riedl hat unter dem Titel Wann sind Reden öffentlich? eine Replik auf diese Rezension verfaßt.


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Anmerkungen

1 Walter Jens: Art. Rhetorik. In: Werner Kohlschmidt/Wolfgang Mohr (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet v. Paul Merker und Wolfgang Stammler. 2., neu bearb. Aufl. Bd. 3. Berlin, New York: de Gruyter 1977. S. 432-456. Hier S. 433.   zurück

2 Manfred Fuhrmann: Rhetorik und öffentliche Rede. Über die Ursachen des Verfalls der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert. (Konstanzer Universitätsreden 147) Konstanz: Universitätsverlag 1983. S. 17-19. Vgl. grundlegend zur Veränderung des Status der Rhetorik in den Bildungseinrichtungen um 1800: Ingrid Lohmann: Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit. Zur pädagogischen Transformation der Rhetorik zwischen 1750 und 1850. München, New York: Waxmann 1993.   zurück

3 Vgl. Joachim Dyck/Jutta Sandstede: Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistelographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Bde. 1-3. Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann-Holzboog 1996. Bd. 1, S. XV-XXIV.   zurück

4 Bei den Rhetoriklehrbüchern für den pädagogischen Gebrauch, die genannt werden, handelt es sich um einige der bekannten Reprints aus dem Scriptor Verlag (Baumeister, Fabricius, Hallbauer, Weise), die freilich alle aus dem späten 17. und aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts datieren. Die in der Quellenbibliographie von Dyck/Sandstede aufgearbeitete und schon in älteren Publikationen angedeutete Fülle an Anleitungen zur Rhetorik aus der Zeit um 1800 wird nicht auch nur in Ansätzen zur Kenntnis genommen. Vgl. auch Dieter Breuer/Günther Kopsch: Rhetoriklehrbücher des 16. bis 20. Jahrhunderts. Eine Bibliographie. In: Helmut Schanze (Hg.): Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.-20. Jahrhundert. Frankfurt/Main: Athenäum 1974. S. 217-355. Hier S. 292ff.   zurück

5 Die einschlägige Bibliographie zur katholischen Predigtsammlung nennt hingegen für den fraglichen Zeitraum beinahe 300 Publikationen, - und darin sind die zahllosen Predigteinzeldrucke noch nicht einmal erfaßt. Vgl. Werner Welzig (Hg.): Katalog gedruckter deutschsprachiger katholischer Predigtsammlungen. Bd. 2. (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 484) Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1987. Nr. 494 (1780)-Nr. 775 (1815)   zurück

6 Den Status der Predigt in der Öffentlichkeit hätte Riedl beispielsweise an den sog. "Predigerkritiker"-Schriften exemplarisch analysieren können: Nach der Aufhebung der Zensur durch Josef II. erschienen zahlreiche Broschüren, die sich, teils in direkter Bezugnahme auf vorangegangene Sonntagspredigten, kritisch mit der zeitgenössischen Kanzelberedsamkeit und ihren Vertretern beschäftigten; die Publikation einiger Gegen- und Schutzschriften fachte die Diskussion noch weiter bis hin zu skandalösen Ausmaßen an.   zurück

7 Vgl. Heinrich Leopold Wagner: Phaeton. Hg. und mit einem Nachwort vers. v. Christoph Weiß. St. Ingbert: Röhrig 1990.   zurück

8 Eine Ausnahme bilden etwa Goethes Reden in der Weimarer Freimaurerloge, die der Vf. jedoch nicht erwähnt.   zurück