Borchmeyer über Krämer: Musiktheater

Dieter Borchmeyer

Deutschsprachiges Musiktheater
als multimediales Ereignis


Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung (Studien zur deutschen Literatur, 149/50) Tübingen: Max Niemeyer 1998. 2. Bde. XXII,933 S. DM 276,- ISBN: 3-484-18149-4



Zur Forschungslage

Die Literaturwissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten ihren traditionellen Gegenstandsbereich mehr und mehr entgrenzt. Nichts Menschliches scheint ihr mehr fremd zu sein, zumindest sofern es sprachlich fixiert ist. Nur ausgerechnet eines der folgenreichsten und meistrezipierten literarischen Phänomene der letzten Jahrhunderte löst nach wie vor philologische Verlegenheit aus: das Libretto und die Oper überhaupt. Als multimediales Spektakel wird ihre literarische Seite von Literaturwissenschaftlern und Literaturkritikern immer noch vielfach geleugnet – mit Argumenten und einer verächtlichen Haltung, die sich von derjenigen Gottscheds nach wie vor nicht allzu weit entfernen.

Dafür nur ein repräsentatives Beispiel: "Ich glaube nicht, daß das Opernlibretto eine literarische Form ist und in der Literatur eine Rolle gespielt hat", behauptet Marcel Reich-Ranicki in seinen Gesprächen mit Peter von Matt. "Sofort werden Sie sagen, aber Hofmannsthal ...", fährt er fort. "Das ist das einzige Gegenbeispiel. Librettos, die von Mozart, Verdi oder Puccini komponiert wurden, sind literarisch beinahe ohne Bedeutung. Nur der eine Hofmannsthal hat die Regel durchbrochen." 1

Patrick J. Smith hat 1971 in seinem Buch The Tenth Muse den neun Musen der antiken Mythologie eine zehnte hinzugesellt: eben die Muse des Opernlibrettos, der er das gleiche Recht einräumt, unter der Führung von Apollon Musagetes zu singen und zu tanzen wie den anderen Musen. Mit dieser Einführung einer neuen Muse opponiert Smith gegen das, was er "the persistent stream of uninformed and misleading comment on the opera libretto, fostered by ignorance and perpetuated by indifference" nennt. 2

Die Dramaturgie der Oper läßt sich freilich nur in der Wechselwirkung von musikalischer, theatraler und literarischer Exegese erhellen. 3

Da Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft als Einzeldisziplinen methodisch deshalb überfordert sind, haben sie sich bis in jüngste Zeit weithin der Analyse des Librettos als "unbekannter literarischer Größe" (Klaus Günther Just), 4 und überhaupt der Dramaturgie der Oper verschlossen. Das bisherige mangelnde Interesse der Philologie an der erst vierhundert Jahre alten literarischen Sonderform des Librettos steht in merkwürdigem Mißverhältnis zu ihrer ungeheuren Verbreitung und Popularität, die von kaum einem großen Dramatiker der Weltliteratur erreicht wird, aber auch zu ihrer eminenten Bedeutung als Traditionsträger nicht nur theatraler Strukturen und Topoi, sondern auch allgemeinen Kulturwissens.


Eine Pionierleistung

Erst im letzten Vierteljahrhundert haben die Librettistik und die interdisziplinäre Erforschung des multimedialen Genres der Oper bedeutende Fortschritte gemacht, obwohl nicht zu verkennen ist, daß sie im Vergleich mit anderen Leistungen der modernen Philologie und Musikwissenschaft noch in den Kinderschuhen stecken. Aus ihnen hat sie jetzt freilich die monumentale Arbeit von Jörg Krämer heraustreten lassen, die man als Pionierleistung ersten Ranges bezeichnen muß. Krämer verbindet literatur-, musik- und theaterwissenschaftliche Kompetenz auf so souveräne Weise, daß es kaum mehr möglich ist, seine Monographie einer bestimmten Einzeldisziplin zuzuordnen. Damit schafft er freilich einen hermeneutischen Standard, der von späteren wissenschaftlichen Untersuchungen zum Musiktheater, sofern sie von einem einzelnen Wissenschaftler stammen, nur schwer einzuholen sein wird. Nur ein sensibel aufeinander abgestimmtes Forschungsteam wird fortsetzen können, was Krämer hier auf interdisziplinärem Wege allein leistet.

Krämer untersucht, was man in der Forschung bisher das "Singspiel" des späten 18. Jahrhunderts zu nennen pflegte. Diesen Terminus mit seinen deutschtümelnden Implikationen zieht er in Zweifel, da er mit dem historischen Gebrauch des Begriffs kollidiert: mit dem "Singspiel" war im 18. Jahrhundert meist nichts anderes als die Oper gemeint, also gerade nicht das "Schauspiel mit Gesang" (wie Goethe die erste Fassung von Erwin und Elmire nennt), also das Theaterwerk, das aus gesprochenen Dialogen und Musiknummern besteht. Der im 18. Jahrhundert noch unbekannte Begriff des Musiktheaters, den Krämer für seine Untersuchung bevorzugt, ist weit umfassender, weil er alle Formen musikalischen Theaters, so auch das Melodram, umgreift.


Unterhaltungs- und Repräsentationstheater
als Massenphänomen

Das deutschsprachige Musiktheater des 18. Jahrhunderts, so Krämers Ausgangspunkt, ist Unterhaltungs- und Repräsentationstheater, mitnichten "moralische Anstalt". Aufgrund seiner Popularität, ja Massenwirksamkeit – die dem Siegeszug des Romans vergleichbar ist und ihre größten Wellen gleichzeitig mit ihm schlägt: "Operettenwut" und "Romanensucht" sind also Parallelphänomene des späten 18. Jahrhunderts – hat das Musiktheater die rein literarische Dramatik durchaus an den Rand der Theaterpraxis gedrängt. Das germanistische Lieblingskind des "bürgerlichen Trauerspiels" beispielsweise ist nicht mehr als ein randständiges literarisches Phänomen, von dem her – das betont Krämer immer wieder mit Nachdruck – sich kein authentisch-repräsentatives Bild der Theaterpraxis der Zeit gewinnen läßt. Im übrigen ist das reine Sprechtheater ohnehin eine "Chimäre" (Krämer, S. 29), da es eine genaue Trennung von Sprech- und Musiktheater in dieser Zeit nicht gab, sondern beide durch eine Vielzahl von Zwischen- und Übergangsformen verbunden waren und aufeinander wirkten.

Als >Massenmedium< ist das deutschsprachige Musiktheater des 18. Jahrhunderts freilich auch schnellerem Verschleiß ausgesetzt. Alle seine Werke – mit Ausnahme von Mozarts Entführung aus dem Serail und Zauberflöte – sind nach der Wende zum 19. Jahrhundert aus dem Repertoire und bildungsbürgerlichen Geschmackshorizont herausgefallen.

Als Massenphänomen kommt dem Musiktheater besondere Signifikanz für die Befindlichkeit des Publikums zu – weit höhere als dem mehr auf die Vernunft als die Sinne rekurrierenden Sprechtheater. Die Analyse jener Befindlichkeit ist das vornehmliche Untersuchungsziel Krämers: die Erhellung der Anthropologie des Musiktheaters, seine Bedeutung als Spiegel der neuen Subjektivität des Zeitalters, als Forum einer "sentimentalen Geschichte der Gesellschaft" (Marcel Proust; zitiert bei Krämer S. 6). Krämer scheut sich nicht vor genauen empirischen, statistischen Recherchen, um herauszufinden, welche Werke tatsächlich die meistgespielten und resonanzreichsten waren; auf sie vor allem sucht er seine dramaturgisch-anthropologischen Analysen zu stützen.

Glücklicherweise waren die beiden erfolgreichsten Werke des Genres auch die ästhetisch bedeutendsten, nämlich die beiden deutschen Opern Mozarts. Erst an ihnen kann Krämer seine ganze interdisziplinäre Interpretationskunst entfalten, deren Stringenz offenkundig mit dem Rang der analysierten Werke zunimmt. Allerdings beschränkt sich Krämer nicht auf die repräsentativen >Erfolgsstücke< – Weiße / Hillers Die Jagd, Wieland / Schweitzers Alceste, Gotter / Bendas Melodram Medea und die beiden einschlägigen Mozart-Opern –, sondern behandelt als Gegenpol trotz ihrer Qualität auffallend resonanzlos gebliebene Werke wie Herders Brutus, Klein / Holzbauers Günther von Schwarzburg und die Singspiele Goethes, um zu ergründen, warum ihnen Erfolg und Breitenwirkung trotz beachtlicher ästhetischer Qualität versagt blieben.

Der Untersuchungszeitraum wird nach einleuchtenden Kriterien begrenzt. Gewissermaßen der Terminus post quem ist das Jahr 1766, in dem der überwältigende Erfolg von Christian Felix Weißes und Johann Adam Hillers Die verwandelten Weiber einen Neubeginn des deutschsprachigen Musiktheaters markiert (das schon einmal um 1700 eine dominierende Position in der Theaterpraxis innegehabt, aber nach 1720 total an die italienische Oper verloren hatte). Offenkundig hängt die neue Erfolgskurve des deutschsprachigen Musiktheaters seit dem Ende des Siebenjährigen Kriegs mit der Seßhaftwerdung der Wanderbühnen zusammen, die eine Qualitätssteigerung der Theaterproduktionen auf allen medialen Ebenen zur Folge gehabt hat. Der Terminus ad quem ist 1791, das Uraufführungsjahr der Zauberflöte, mit der sich die deutsche Oper endgültig - gleichwertig - neben der italienischen Oper etabliert.


Kulturgeographische und soziologische
Rahmenbedingungen

Krämer beschreibt präzise die kulturgeographisch-soziologischen Rahmenbedingungen des deutschsprachigen Musiktheaters, seine Wanderbewegung von den großen Messe- und Handelsstädten über die kleineren Residenzen und – gegen Ende des Jahrhunderts – zurück zu den großen Residenzstädten sowie die Schwerpunktverlagerung vom nord- und mitteldeutsch- protestantischen Singspieltyp à la Weiße und Hiller zu dem süddeutsch-katholischen, der mit Mozart schließlich den Gattungssieg davonträgt. Eine auf zuverlässigem Datenmaterial basierende Kapitelfolge bietet eine exakte Soziologie der Rolle der Librettisten (im Unterschied zur italienischen Hofoper fast immer nebenberuflich tätiger Kompilatoren) und der Komponisten (meist Kapellmeister- oder Liebhaberkomponisten), der Darsteller, Publiken und Publikationsformen.

Besonders überzeugend ist Krämers Überwindung der starren sozialhistorischen Typologie >des< Adels und >des< Bürgertums, welch letzterem das deutschsprachige "Singspiel" meist zugeschlagen wird. In Wirklichkeit verdankt es seinen Durchbruch gerade dem Adel (zumal in den großen Residenzen), während weite Teile des Bürgertums theaterfeindlich oder -desinteressiert waren. Die eigentliche Trägerschicht des "Singspiels" ist eine aus Adel und Bürgertum gemischte Oberschicht, die von wechselseitiger Assimilation und Amalgamierung berufsbürgerlicher und höfischer Perspektiven geprägt ist und in einer überständisch-empfindsamen Dilettantenkultur mit einer spezifischen Öffentlichkeitsstruktur zusammenfindet.


Empfindsame Kultur

Diese Kultur analysiert Krämer zunächst am Beispiel von Weiße / Hillers Die Jagd: Familialisierung der patriarchalischen Ordnung, empfindsame Kommunikation über die Standesgrenzen hinweg im Gegensatz zur abgrenzenden Interaktion des Hofes, der universal-natürliche emotionale Code (mit den Tränen als seinem wichtigsten Siegel) gegenüber dem galant- künstlichen Code (Kälte, Verstellung, Differenz von Herz und Rede) sind ihre Charakteristika. Die "Utopie der empfindsamen Gesellschaft" als "politikferne Gemeinschaft der von Natur aus richtig Empfindenden" (Krämer, S. 172) manifestiert sich zumal in der Musik, im Singspiel als "empfindsamer Leitgattung" (Krämer, S. 175 u.ö.), bei Hiller vor allem im Lied, das als Träger des empfindsamen Codes der Arie als Repräsentantin des galanten Codes gegenübertritt.

Die Musik konstituiert die dramatischen Figuren nicht als Individuen und Subjekte, sondern gerade als typenhafte Repräsentanten anthropologischer Codes. In diesen Codes verständigt sich nun die empfindsame Kultur über sich selbst: über ihr Menschenbild und über die Vision einer universalen familialen Organisation der Gesellschaft, die die abgelehnten >kalten< Strukturen der politischen Herrschaftsrationalität des galanten Diskurses ersetzen soll. (Krämer. S. 198).
So stiftet das Singspiel eine Empfindungsgemeinschaft nicht nur innerhalb seiner Handlung, sondern auch zwischen Bühne und Publikum.

Freilich zeigt Krämers zweites Exempel: die Alceste von Christoph Martin Wieland und Anton Schweitzer, die eben in höfischem Kontext entstanden ist, daß sich auch Formen der höfischen Oper, zumal die Arie, schließlich an empfindsame Wert- und Gefühlshaltungen, die bei Hiller dem Lied vorbehalten blieben, assimilieren können.

Das Gegenbeispiel ist Anton Kleins und Ignaz Jacob Holzbauers Günther von Schwarzburg, dessen Figuren ausschließlich der Staatsspitze angehören und weithin ohne Innenleben gezeigt werden. Auf pathetische Unbeweglichkeit hin angelegt, entbehren sie jeder empfindsamen Emotionalität und Identifikationsmöglichkeit des Publikums. Wie das Libretto einer höfisch-taktischen Intrigendramaturgie gehorcht, folgt Holzbauers Vertonung den überständigen artifiziellen Schemata der späten Seria. Trotz der auch von Mozart gerühmtem Kühnheit der Partitur war der Oper deshalb kein dauerhafter Erfolg beschieden.

Anders das Melodram (Beispiel: Medea von Friedrich Wilhelm Gotter und Georg Anton Benda), das gegen die empfindsame Stereotypik nicht durch den Rekurs auf ältere Traditionen, sondern im Geiste des Sturm und Drang opponiert: durch eine "extreme Nahsicht auf das Individuum" (Krämer, S. 309), die Ersetzung der gemeinschaftsstiftenden >sanften< Empfindungen durch normverletzende, heftige, ja exzessive Leidenschaftlichkeit und das tragische Ende statt eines sentimentalen lieto fine.


Mozarts "Entführung aus dem Serail"

Das ist die musikdramatische Situation, die Mozart vorfand, als er die Entführung aus dem Serail komponierte. Seine revolutionäre Leistung ist, daß er zum erstenmal die Musik zum "eigentlichen Raum der dramatischen Handlung" macht, die Personen über ihre empfindsame Stereotypik hinausführt und ihnen eine "Tiefenschärfe" verleiht, zu der das Libretto kaum Anlaß gibt (Krämer, S. 415). Die Musik folgt nicht mehr den textlichen und szenischen Vorgaben, sondern schafft die Szene, die theatrale Wirklichkeit aus sich selbst heraus und verlagert zudem die eigentliche Dramatik von der äußeren Bühnenhandlung ins Innere der Figuren. Mozarts diskontinuierliche Satztechnik – Krämer folgt hier den wegweisenden Studien von Thrasybulos Georgiades – verträgt sich nicht mehr mit dem Optimismus der protestantischen Aufklärung, den präformierten und standardisierten Gefühlen der empfindsamen Dramatik, sondern stellt die menschliche Existenz in ihrer inneren Bedrohtheit, Widersprüchlichkeit und Abhängigkeit von der Kontingenz, Unvorhersehbarkeit des Weltgeschehens dar.

Wohl noch nie hat ein Interpret der Entführung das so bewegend und mit solcher exegetischen Reife an der szenisch-musikalischen Dramaturgie Mozarts verdeutlicht, deren poetisch-theatrale Bedeutungshaftigkeit weit über die im Vergleich mit ihr eher einflächige Aussagekraft des Textes hinausgeht.

Außerordentlich überzeugend und eindrucksvoll ist auch der Vergleich des Weltbildes der Mozartschen Oper mit dem des nord- bzw. mitteldeutsch-protestantischen Singspiels, deren Differenz sich im Vergleich der Stephanischen Bearbeitung des Bretznerschen Urlibrettos mit diesem selber besonders zwingend demonstrieren läßt. Bei der Bretznerschen Anagnorisis stellt sich heraus, daß Bassa Selim der Vater Belmontes, bei Stephani / Mozart, daß letzterer der Sohn von Bassa Selims Todfeind ist. Im aufgeklärt-protestantischen Singspiel mündet demgemäß die Handlung im typisch empfindsam-kleinfamiliären Wiedererkennungsglück à la Nathan der Weise, bei Mozart im spätabsolutistisch-katholischen Clemenza-, Großmuts-, Verzeihens- und Gnaden-Akt (der freilich auch seine empfindsamen Züge hat, wie Krämer vielleicht stärker hätte hervorheben können).


Goethes Singspiele

Gegenüber dieser revolutionären Umgestaltung des deutschsprachigen Musiktheaters hatten Goethes Singspiel-Experimente ganz einfach keine Chance mehr. Die Entführung >schlug< wohl in einem vieldeutigeren Sinne, als Goethe geahnt hat, >alles nieder<. In einem wiederum meisterlichen Kapitel stellt Krämer am Vergleich der Singspiele Goethes in ihrer Urfassung und späteren Bearbeitung dar, wie jener die Musik immer stärker dramaturgisch zu funktionalisieren sucht, aber ganz und gar nicht im Sinne der nun durch das Wiener Singspiel, vor allem durch Mozart favorisierten spezifisch musikalischen Theatralität, sondern im Geiste der Autonomie des literarischen Kunstwerks.

Seine Funktionalisierung der Musik unterscheidet sich deutlich von der neuen, auf musikalischer Autonomie beruhenden Musikdramaturgie, wie sie etwa in Mozarts Entführung aus dem Serail so deutlichen Ausdruck findet. Die Erfolglosigkeit von Goethes Libretti rührt daher weniger daher, daß er keine >kongenialen< Komponisten fand, wie es meist in der Forschung dargestellt wird; das Problem liegt eher darin, daß Goethes Dramaturgie keinen Raum für die aktuellen Entwicklungen auf musikalischer und musiktheatralischer Ebene läßt, während sie zugleich von den älteren [erfolgverbürgenden dramaturgischen und empfindsamen] Modellen des mittel- und norddeutschen Singspiels abweicht. (Krämer, S. 504)
Für Goethes Versuch einer "Integration von Komponenten des Musiktheaters in eine neue Art von Sprechtheater" mit hochgradig selbstreflexiven, metatheatralen Zügen (die das neue Musiktheater nicht brauchen konnte) ließ sich kein >Komponist< finden, der etwas auf sich und die neue theatrale Musiksprache hielt - er ist dafür in seiner Umkomponierbarkeit in die szenische Struktur des Faust II eingegangen, der in weiten Teilen eben eine imaginäre Wort- Oper darstellt.


Höhepunkt:
Interpretation der "Zauberflöte"

Glanzvoller Höhepunkt der Monographie Krämers ist seine Interpretation der Zauberflöte, die ganze Bibliotheksregale mit Forschungen über Mozarts geheimnisumwobene Oper zu Makulatur macht, das >Rätsel< des vermeintlich so widersprüchlichen Werks definitiv löst und alle mystifizierenden Interpretationshypothesen (seit Otto Jahns romantischer "Bruch"-Hypothese, die schon dadurch zu widerlegen ist, daß Mozart seine Oper gar nicht der Handlungsreihenfolge nach komponierte) ein für allemal in den Orkus verbannt.

Überzeugend interpretiert Krämer das Zauberflöten-Libretto als synkretistischen Text, als >Patchwork< aus Versatzstücken aller Art – was keineswegs abschätzig gemeint ist –, wie es wohl nur in Wien als "einzigartigem Schnittpunkt verschiedener Theatertraditionen und musikalischer Stile" entstehen konnte (Krämer, S. 546f.). Gerade die Heterogenität des Schikanederschen Librettos mit seinen verschiedenen, sich überlagernden, ablösenden, ja wechselseitig >dekonstruierenden< Anthropologien, die schlechterdings nicht auf einen Nenner zu bringen sind, kam Mozarts musikalischer Dramaturgie entgegen, welche eine "Landschaft kontrastierender Perspektiven und Stile" schafft (Krämer, S. 549).

Das demonstriert Krämer, ausgehend von einer akribischen, über zehn Seiten langen musikalisch-dramaturgischen Analyse von Taminos Sonett – denn ein solches ist seine weltberühmte Arie "Dies Bildnis ist bezaubernd schön" –, zumal an den sich überlagernden überständigen und zukunftsweisenden Liebeskonzeptionen sowie ihren verschiedenen musikalischen Ausdruckswelten, die sich um ein neues, in der "Anthropologie der Exklusions-Individualität" gründendes Liebesideal kristallieren (Krämer S. 566). Dieses neue Liebeskonzept impliziert freilich Risiken, Normverletzungen und Aporien, die zu problematischen "Renormierungen" führen (Krämer, S. 568), mit prekären Ausgrenzungsmechanismen, die aber durch die Gesamtperspektivik des Werks wieder relativiert werden. Die Decke der neuen Normativität ist zu kurz, um alle entstandenen Aporien zudecken zu können.

Die faszinierenden einschlägigen Befunde Krämers ließen sich auch auf andere Werke der Zeit übertragen, zumal auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, deren Turmgesellschaft ähnlich wie Sarastros Priesterorden eine die Risiken und Aporien der neuen Subjektivität nicht immer >abdeckende< Renormierungsinstanz ist.

Dem umfangreichen ersten Band seiner Monographie, der mit der Zauberflöten-Interpretation schließt – der wohl bedeutendsten, die bisher geschrieben worden ist –, läßt der Verfasser einen knapperen zweiten folgen, der in Analogie zu den dramaturgischen Analysen des ersten Bandes die gleichzeitige Theorie des Musiktheaters von Gottsched bis Schiller – mit seinen sowohl ästhetisch-dramaturgischen als auch anthropologischen Tendenzen – verfolgt.

Den Beschluß der Monographie bildet eine Dokumentation mit dem Verzeichnis sämtlicher aufgeführter deutschsprachiger Musiktheater-Werke zwischen 1760 und 1800 und einem ausführlichen bibliographischen Apparat, der diese Studie auch als Nachschlagewerk unentbehrlich macht. (Es sei dem Rezensenten gestattet, auf die Besprechung dieses zweiten Bandes aus Umfangsgründen zu verzichten.)

Rühmenswert ist nicht zuletzt der Wissenschaftsstil dieser profunden Abhandlung, die in einer klaren Prosa geschrieben ist und auf jegliches modisches Theoriegeflunker verzichtet.


Gesamturteil

Krämers Monographie ist der wohl bedeutendste Beitrag der Germanistik - und nicht nur dieser - zur Dramaturgie des Musiktheaters, keineswegs nur eine "Probebohrung", wie der Verfasser unter Zuhilfenahme des Topos der affektierten Bescheidenheit meint (Krämer, S. 7) – vielmehr eine ausgereifte und in ihrem thematischen Bereich erschöpfende Untersuchung, die durch ihre umfassende wissenschaftliche Kompetenz in allen am >Gesamtkunstwerk< Oper beteiligten Medien neue Maßstäbe setzt.


Prof. Dr. Dieter Borchmeyer
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Germanistisches Seminar
Hauptstr. 207-209
D - 69117 Heidelberg

Ins Netz gestellt am 16.05.2000.

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Anmerkungen

1 Marcel Reich-Ranicki: Der doppelte Boden. Ein Gespräch mit Peter von Matt. Zürich 1992, S. 162.   zurück

2 Patrick J. Smith: The Tenth Muse. A Historical Study of the Opera Libretto. London 1971, S. VII.    zurück

3 Vgl. Dieter Borchmeyer (Hrsg.): Mozarts Opernfiguren. Große Herren, rasende Weiber, gefährliche Liebschaften. Bern / Stuttgart 1992, S. 1 ff..    zurück

4 Klaus Günther Just: Das Opernlibretto als literarisches Problem. In: K.G.J.: Marginalien. Bern / München 1976, S. 27-45.   zurück


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