Braungart über Peter: Geselligkeiten

IASLonline


Wolfgang Braungart

Geselligkeit im 18. Jahrhundert:
sozialgeschichtlich, kulturgeschichtlich
– auch ästhetisch?

Kurzrezension zu
  • Emanuel Peter: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert (Studien zur deutschen Literatur; 153) Tübingen: Niemeyer 1999. 359 S. Kart. € 63,00.
    ISBN 3-484-18153-2.


Geselligkeit und Literatur in der frühen Neuzeit – das ist, wie bei Peter selbst deutlich wird, nun nicht gerade ein völlig unbestelltes Forschungsfeld. Wohl aber ist noch zu wenig konkret untersucht, wie sich "Geselligkeit als produktions- und wirkungsästhetische Kategorie in der Literatur" (S.6) darstellt. Die Einleitung, die die wichtigsten Aspekte der soziologischen und geschichtswissenschaftlichen Geselligkeitsforschung umreißt, 1 steuert auf diese These zu:

Die relative Unschärfe des soziologischen Begriffs von Geselligkeit wird auch durch die Vernachlässigung des ästhetischen Aspekts hervorgerufen, den bereits Simmel mit den Merkmalen >Spielform< und >symbolische Bedeutsamkeit< der Form angesprochen hat. (S.16)

Damit ist – sehr zu Recht, wie ich meine – ein grundsätzliches Problem thematisiert, dem tatsächlich höchste sozial- wie kulturwissenschaftliche Aufmerksamkeit gebührt. Gruppenprozesse, soziale Prozesse überhaupt sind immer auch ästhetische Prozesse (vgl. S.24); ästhetische Prozesse können nicht nur sozial wirksam sein, sondern das Soziale auch als ein sie selbst strukturierendes Moment in sich aufnehmen. Es kann sogar prägend werden bis in die theoretischen Konzepte hinein.

Mit Bezug auf Norbert Altenhofer erinnert Peter daran, daß die hermeneutische Konzeption bei Schleiermacher selbst zugleich eine gesellige ist:

Geselligkeit wird zur Bedingung für die intersubjektive Auslegung und Anerkennung des ästhetischen Charakters eines (sprachlichen) Kunstwerks im Rezeptionsakt des Publikums. (S.19)

Damit entspricht die >gesellige Hermeneutik< dem eigentlich eigentümlichen Charakter des Ästhetischen, eben nicht im Begriff fixierbar zu sein und stillgestellt werden zu können, sondern immer wieder und immer wieder neu >viel zu denken zu geben< (Kant). Kant selbst hatte in der Kritik der Urteilskraft schon postuliert, daß das ästhetische Urteil so beschaffen sein müsse, daß es dem anderen angesonnen werden könne. Wer ästhetisch urteilen wolle, habe seine eigenen unmittelbaren Interessen zurückzustellen. Man könnte auch sagen: Das ästhetische Urteil hat als ein solches gesellig zu sein. Es setzt virtuell den andern mit. Diese Perspektive auf die ästhetische Theoriebildung läßt sich Peter freilich entgehen.

Der in den aktuellen kulturwissenschaftlichen Debatten so wichtig gewordene Begriff der Performativität impliziert im Grunde dieses systematische Problem, das Peter in seiner historischen Studie zum 18. Jahrhundert anvisiert. Performativität schließt beide Aspekte ein: Die Performanz, den ästhetischen, inszenatorischen Charakter des Kunstwerks und seine soziale Kraft und Wirksamkeit, seine Qualität, Wirklichkeit zu konstituieren. 2 Worin freilich "die spezifisch ästhetische Qualität von literarischen Texten [meine Hervorhebung] im Unterschied zu anderen >kulturellen Praktiken<" (S.29) bestehen könnte, ist freilich nicht nur ein vom >New Historicism< erhobener "Anspruch", den dieser "bis jetzt noch nicht eingelöst" habe (ebd.); diese Differenzqualität dürfte generell schwer nachzuweisen sein. Kulturelle Äußerungen sind als solche grundsätzlich ästhetische, weil sie präsentative und symbolische Äußerungen sind. Sie bedeuten in ihrem Gestaltet-Sein für uns etwas und sind uns deshalb mehr oder weniger wichtig. Das ist kein Privileg der Künste; bei ihnen ist es nur besonders auffällig. Wir werden bei ihnen besonders aufmerksam darauf, auch weil es der Kunst-Diskurs so will, von uns diese Aufmerksamkeit fordert und wir durch ihn darauf eingestellt sind. 3

Im Hinblick auf diese kulturelle und soziale Kraft des Ästhetischen, an die Peter zu denken scheint, wirken seine drei Arbeitshypothesen dann aber doch merkwürdig verhalten:

  1. "Neben ihrem ästhetisch innovativen Potential enthalten literarische Texte immer einen Anteil an gesellschaftlichen Mentalitäten" (S.26).

  2. "Literatur kann eine mentalitätstiftende Funktion haben, indem sie traditionelle gesellschaftliche Orientierungsmuster, Konventionen und Normen bewußt in Frage stellt und ästhetische Kontrastbilder entwirft" (S.31).

  3. "Ein kultureller Wandel wird oft durch eine (literarische) Gruppe beschleunigt oder sogar ausgelöst" (S.34).

Diese Thesen wird man in ihrer Allgemeinheit kaum bestreiten wollen. Aber was, das scheint doch die literaturwissenschaftlich zentrale Frage, bringen Mentalitäten und Gruppenbildungen fürs Ästhetische? Inwiefern mit diesen Thesen ein ästhetisches Problem verbunden ist, blitzt in den einzelnen Untersuchungen des Buches eher selten auf und berührt dann auch eher das Aisthetische, also die je unterschiedlichen Konzeptionen und Bewertungen der Sinnlichkeit des Menschen in ihrer Bedeutung für die Geselligkeit. So z. B. in den Rekonstruktionen zur Kategorie des Geschmacks (etwa S.113) oder in den Hinweisen zu Isaak Iselin ("Die gegenseitige Beeinflussung beruht bei Iselin nicht allein auf ethischen Prinzipien, sondern besitzt maßgeblich sinnlich-ästhetische Qualitäten" – S.139). Erst das letzte Kapitel (VIII) "Poetische Geselligkeitsentwürfe um 1800", das sich mit Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten", mit seinem "Märchen" und mit Friedrich Schlegel befaßt, kommt an das von Peter selbst anvisierte Problem einigermaßen heran.

Zuvor aber rekonstruiert Peter verschiedene Konzepte und Diskurse des Geselligen. Naheliegenderweise beginnt er bei Thomasius (Kap. II) und geht auch auf einen literarischen Text ein, auf Johann Beers "Die Teutschen Winter-Nächte". Die Bemerkungen zur "Sozialisation durch geselliges Erzählen" reißen ein Problem an, das zum Leitfaden der ganzen Arbeit hätte werden können – von Boccaccio bis Goethe (oder auch bis in die Gegenwartsliteratur!). Kapitel III behandelt die moralischen Wochenschriften, Kapitel IV vor allem Rousseaus Zivilisations- und Kulturkritik, Iselin und Herder. Kapitel V ist den "Patriotische[n] Organisationsversuche[n] um 1770" gewidmet (Klopstock, auch dem Göttinger Hain, der unter diesem Gesichtspunkt wohl zu einseitig behandelt wird). Das Kapitel VI konzentriert sich auf Spätaufklärung, Freimaurerei, Knigge und Frühromantik (Schleiermachers "Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" und seine "Reden über die Religion"). Kapitel VII schließlich behandelt die späten Aufklärungsgesellschaften und Salons in Berlin, Weimar und die Jenaer Frühromantik.

Gewiß, das sind alles Themen, mit denen man rechnet und die >irgendwie< in den Problemzusammenhang >Geselligkeit im 18. Jahrhundert< gehören. Aber wie genau? Die naturrechtliche Problematik ergibt eine Diskurslinie, die kulturgeschichtliche / geschichtsphilosophische eine andere, die politische eine dritte, der "Generationsbruch", der in der Frühromantik wohl erstmals als ein solcher gesehen und beansprucht wird, eine vierte. Aber wie hängt das alles zusammen? Es stellt nicht recht zufrieden, daß Peter das Problem mit der These, "der Geselligkeitsbegriff [sei] eine Art Scharnier zwischen verschiedenen Debatten im 18. Jahrhundert" (S.328), zu lösen versucht. Der Plural >Geselligkeiten< ersetzt nicht den systematischen Zugriff.

Peter spricht viele Organisationen und Institutionen an, läßt aber viele auch weg: So wird z. B. das Kaffeehaus nur beiläufig erwähnt; Gottscheds >Deutsche Gesellschaft< spielt gar keine Rolle (hier hätte man diskutieren können, ob es nicht auch diese Linie von den barocken Sprachgesellschaften her gibt, nicht nur die sozialethische von Thomasius her). Angeboten hätte sich auch, systematisch die literarischen Gruppen durchzugehen: der schwäbische Dichterkreis um Stäudlin, die Tübinger Stiftler, die Bremer Beiträger, Gleims Freundschaftkult: sie wären doch wohl auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Geselligkeit und ihrer ästhetischen Produktivität zugleich zu diskutieren. Und wenn mit Recht auf Rousseau eingegangen wird: Wäre nicht über Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern nachzudenken (England)? Kann man wirklich bei Thomasius schon von "Modernisierungsdruck" (S.51) sprechen, von "seiner zeitgenössischen Rezeption der französischen Moderne [!]" (ebd.), so wie man im Umfeld dann für 1789 von "Modernisierungsdruck" (S.273) sprechen kann? Sind "Adiaphora und Decorum" wirklich sinnvoll als "Einfallstore der Moderne" (S.52ff.) zu beschreiben? Was ist durch diese Teleologisierung gewonnen? Werden historische Geselligkeitskonzepte erst dadurch für uns wichtig?

Das Problem der Geselligkeit bzw. der "Geselligkeiten" ist zentral für das 18. Jahrhundert. Es wird freilich weiter auf der Tagesordnung der Forschung bleiben, insbesondere die Frage, wie sich "Geselligkeit als produktions- und wirkungsästhetische Kategorie in der Literatur" (S.6) darstellt.


Prof. Dr. Wolfgang Braungart
Universität Bielefeld
Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft
Postfach 10 01 31
D-33501 Bielefeld
Homepage

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 14.08.2002
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]

Anmerkungen

1 Zu ergänzen ist hier unbedingt: Detlef Gaus: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800. Stuttgart u.a.: Metzler 1998. Der erste Hauptteil bringt einen ausführlichen historisch-systematischen Überblick zur Geselligkeit in der frühen Neuzeit mit einem starken Schwerpunkt auf Schleiermacher.   zurück

2 Vgl. Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften (stw; 1575) Frankfurt / M.: Suhrkamp 2002; vgl. zusammenfassend jetzt auch: Hans Rudolf Velten: Performativität – Ältere deutsche Literatur. In: Claudia Benthien / Hans Rufolf Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte (re; 55643) Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2002, S.217 – 242; Sylvia Lasse: Performativität – Neuere deutsche Literatur. In: Ebd., S.243–265.   zurück

3 Verf.: Vom Sinn der Literatur und ihrer Wissenschaft. In: Rüdiger Zymner (Hg.): Einführung in die Allgemeine Literaturwissenschaft. Grundfragen einer besonderen Disziplin. (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Beiträge; 1) Berlin 2001, S.93–105.   zurück