Breuer über Disziplin und Respekt

Ulrich Breuer

Disziplin und Respekt

Goethes Meister um 1800




  • Henriette Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. 2., durchges. Aufl. Tübingen / Basel: A. Francke 2002. XII, 472 S. 7 Abb. Gebunden. EUR 39,00.
    ISBN: 3-7720-2178-6.
  • Franziska Schößler: Goethes »Lehr-« und »Wanderjahre«. Eine Kulturgeschichte der Moderne. Tübingen / Basel: A. Francke 2002. 379 S. Kartoniert. EUR 44,00.
    ISBN: 3-7720-2782-2.


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Literaturwissenschaftliche Arbeiten über Goethe haben es nicht leicht. Wenn sie auf Theorie setzen und methodisch konsequent als Beitrag zur germanistischen Literaturwissenschaft angelegt werden, dann droht ihnen Einspruch von Seiten der Goethe-Philologie: Sie fordert Respekt vor der singulären Erscheinung, kennt noch ein paar übersehene Forschungsbeiträge und misstraut dem Rigorismus der Begriffe ebenso wie ihrer systematischen Ordnung. Entscheidet man sich dagegen für Goethe, dann ist mit disziplinären Ermahnungen zu rechnen: Wo bleiben Anschlussfähigkeit und Vergleichbarkeit der Ergebnisse, methodische Innovationen und theoretisches Niveau?

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Beide hier anzuzeigende Habilitationsschriften zu Goethes Wilhelm Meister-Romanen kennen das Dilemma, begreifen es aber weniger als Hindernis denn als Chance. Entspannt (nicht gelöst) wird es in beiden Fällen über den Einsatz der Text-Kontext-Relation, wobei die Studie Henriette Herwigs eher durch die Konzentration auf den eminenten Text und den Respekt vor seinem Autor auffällt, während Franziska Schößler verstärkt auf den Kontext und seine disziplinäre Profilierung setzt. Text? Das meint in beiden Fällen das analysierte literarische Werk, in Herwigs Untersuchung also Wilhelm Meisters Wanderjahre und in Schößlers Studie Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre. Und Kontext? Darunter begreifen beide Arbeiten in unterschiedlich reflektierter Weise die Kulturschwelle um 1800 und ihre diskursgeschichtlichen Folgen, auf die sie Goethes Meister-Romane reagieren sehen.

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Es liegen damit zwei weitere germanistische Analysen zur Problematik des Zusammenhangs zwischen literarischem Text und soziokulturellem Wandel vor. Wie wird dieser Zusammenhang theoretisch modelliert? Bietet dafür die Konzentration auf den literarischen Text größere Chancen als der Ausgang vom Kontext?

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1. I. Respekt: Herwig über Wilhelm Meisters Wanderjahre

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Titel, Thesen, ...

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Henriette Herwigs Berner Habilitationsschrift erschien erstmals 1997 unter dem Titel Das ewig Männliche zieht uns hinab: »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. Für die zweite, durchgesehene Auflage wurde die Bibliographie aktualisiert und der plakative, den Faust-Schluss in eine feministische Parole verkehrende Haupttitel gestrichen. Da das Buch als Beitrag zum politischen Feminismus schwerlich reüssieren wird, ist die Streichung ein Gewinn. Das Programm der ausgefallenen Titelformel ist in das knappe »Vorwort zur zweiten Auflage« eingewandert, insofern dort besonders »die Aktualität von Goethes Altersroman auch im Hinblick auf Fragen der Geschlechterdifferenz« hervorgehoben wird (S. VII). Da ›Geschlechterdifferenz‹ aber bereits in der ersten Auflage eines von drei Stichworten des Untertitels bildete, wird deutlich, dass die ursprüngliche Titelfindung in erster Linie eine Art Werbefunktion hatte. Der verkürzte Titel trifft präziser und wird auch dem Rang des Buches eher gerecht. Mit Herwigs Arbeit liegt nämlich eine nachgerade klassische Werkmonographie zu Goethes Wanderjahren vor, die den Roman als Einheit setzt und diese Einheit unter drei gleichberechtigten Aspekten analysiert.

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Über den Zusammenhang zwischen den drei Aspekten gibt die dreiteilige These des Buches Aufschluss. Sie betrifft erstens die anthropologischen Diskussionen um und nach 1800, denen Goethe als Vertreter einer antirationalistischen Sichtweise zugeordnet wird. In seiner Anthropologie, der es um den ganzen Menschen geht, ist weder die Vernunft, noch der Mann, noch das Auge privilegiert. Zweitens geht das Buch davon aus, dass in der Umbruchzeit um 1800 Gefährdungen des ganzen Menschen erstmals in massiver Weise sichtbar geworden sind, auf die Goethe mit der spezifischen Form seines Textes reagiert hat. Das zeigt sich insbesondere in der Differenz von Rahmenhandlung und Erzähleinlagen der Wanderjahre. Herwigs Pointe besteht nun darin, dass sie die in der Forschung verbreitete Ansicht, nach welcher die Rahmenhandlung die utopische Botschaft des Textes vermittelt und das Ensemble der Erzähleinlagen die Gefährdungen dieser Botschaft thematisiert, ins Gegenteil verkehrt. Sie behauptet nämlich, dass die Wanderjahre Goethes Anthropologie in Szene setzen, indem die Erzähleinlagen die inhumanen Implikationen der Rahmenhandlung kritisch kommentieren. Medium dieser Kritik ist – so lautet der dritte Teil der These – die Geschlechterdifferenz: Indem sich die Erzählungen ganz »auf die Frage nach dem kulturell codierten Verhältnis zwischen den Geschlechtern« konzentrieren (S. 23), entwickeln sie modellhafte Antworten und Alternativen zu den utopischen, ausschließlich von Männern propagierten Entwürfen der Rahmenhandlung – und damit auch zur Moderne.

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... Temperamente (heiß lesen)

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Es ist also die mittels der Geschlechterdifferenz semantisierte Form des literarischen Textes, die als kritische Antwort auf den soziokulturellen Wandel um und nach 1800 begriffen wird. Zugleich wird der literarische Text aber auch als Darstellung der Anthropologie seines Autors verstanden, die ihrerseits dem soziokulturellen Wandel ein Stück weit enthoben gedacht wird. Nur diese zweite Setzung erlaubt eine aktualisierende Lektüre der Wanderjahre. Da Herwig freilich von ›historischer‹ Anthropologie spricht und enthistorisierende Lektüren des Textes streng kritisiert (S. 386), scheint sie sich gegen die Aktualisierung entschieden zu haben.

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Dem widerspricht allerdings das Lektüreverfahren. Denn das Buch plädiert für eine ›weibliche‹, eine erotische Lektüre des Textes, die alle Einzelzeichen erhitzt und verflüssigt. Das Projekt lautet: Goethe heiß lesen (nur Männer mögen’s kalt). Die Autorin hat sich damit die Lizenz zu einigen sehr persönlichen Stellungnahmen ausgestellt, in denen sie ihrer Bewunderung für Goethes Gerechtigkeitsgefühl (S. 154), seine unparteiische Menschlichkeit (S. 217) und seine ästhetischen Leistungen (S. 217 f., S. 234), aber auch ihrem Missfallen an zynischen Lektüren seiner Texte (S. 238, S. 282) deutlich Ausdruck gibt. Das wirkt zumeist frisch und sympathisch. Senkt man ein bisschen die Temperatur, dann besteht das Verfahren darin, in die Prozesse der Sinnkonstitution immer auch die Standortbindung jeder Äußerung jeder Figur im Roman einzubeziehen. Dafür kann sich Herwig zu Recht auf Lawrence Sterne berufen, und es gehört zu den größten Verdiensten ihres Buches, den Blick für den eminenten Einfluss des Erotikers Sterne auf Goethes Meister-Romane weiter sensibilisiert zu haben. Diesem historischen Zusammenhang wäre künftig weiter nachzufragen. Zwischen Aktualisierung und Historisierung schwankend, bündelt Herwig ihre These schließlich in der treffenden Formel von den Wanderjahren als »Roman der perspektivischen Brechungen« (S. 26).

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Methode und Aufbau

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Die Formel vom Roman der perspektivischen Brechungen verdeutlicht, dass es der Arbeit in erster Linie um die innovative Neulektüre eines eminenten Textes geht und weniger um die Weiterentwicklung der literaturwissenschaftlichen Methodologie. Entsprechend ist ihr Operationsbesteck nur scheinbar bunt bestückt. Zwar weist die »Einleitung« eigens auf die Genderforschung, die Intertextualitätstheorie, die historische Semantik sowie die Geistes- und Sozialgeschichte hin, zuletzt verfährt die Arbeit aber doch im weiten Sinne hermeneutisch: Sie rekonstruiert die Intentionen des Autors und bedient sich dabei altbewährter historisch-philologischer Hilfsmittel. Letzteren verdankt sich unter anderem die Erschließung einiger wichtiger neuer Quellen.

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Auch der Aufbau der Untersuchung ist auf den ersten Blick traditionell: Es handelt sich um eine Serie von zwölf relativ selbständigen Beiträgen, die sich im Anschluss an die »Einleitung« mit sämtlichen eingeschalteten Erzählungen der Wanderjahre in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Text beschäftigen. Dabei werden auch die Fischerknaben-Erzählung im Brief Wilhelms an Natalie (Kap. 7), das Geschehen um Felix, Wilhelm und Hersilie (Kap. 10) sowie der Makarien-Mythos (Kap. 12) einbezogen, obwohl es sich dabei um Elemente des Rahmens handelt. Lässt sich diese Entscheidung immerhin noch mit dem Argument begründen, dass es sich in allen drei Fällen um Erzählungen handelt, dann trifft auch das auf die Rede Lenardos vor dem Auswandererbund (Kap. 5) nicht zu. Zumal Herwig die unmittelbar folgende Rede Odoards in ihre Analyse der Erzählung »Nicht zu weit« (Kap. 10) integriert hat, muss man in diesem Falle wohl von einer unbegründeten Ausnahme sprechen. Weiterhin fällt auf, dass die seltsame Episode am Lago Maggiore nur ganz am Rand behandelt wird, obwohl es sich dabei ebenfalls um eine Erzählung handelt. Dass der Bezirk des Oheims und die Pädagogische Provinz in Herwigs Studie nicht eigens behandelt werden, folgt dagegen aus der These der Arbeit. Dennoch schmälert es die Valenz der Ergebnisse, da sich die untersuchten Erzählungen ja allesamt kritisch auf die männlichen Utopien der Rahmenhandlung beziehen sollen. Der Gegenstand der Kritik bleibt damit ein wenig unterbelichtet. Die Aphorismen und die rahmenden Gedichte werden schließlich ohne Begründung aus der Untersuchung ausgeklammert, obwohl sich gerade an ihnen die These vom Roman der perspektivischen Brechungen (wenn auch nicht unbedingt die behauptete Zentralstellung der Geschlechterdifferenz) weiter hätte profilieren lassen. – Eine kurze Zusammenfassung, ein ausführliches Literaturverzeichnis und eine knappe Nachbemerkung schließen das Buch ab; auf Namen- und Sachregister wurde auch in der zweiten Auflage verzichtet.

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Die einzelnen Beiträge beginnen zumeist mit Hinweisen zum Stand der Forschung und zur Entstehungsgeschichte der jeweiligen Erzählungen. Sie bewegen sich dann sehr eng, streckenweise in Form von Paraphrasen, am Untersuchungsmaterial entlang. Die eingeschlagenen Interpretationswege sind in der Regel zielführend, scheuen aber (nicht immer zu ihrem Vorteil) auch vor längeren Umwegen nicht zurück. Zu diesen Umwegen gehören der Exkurs zur Geschichte der christlichen Pilgerfahrt (S. 60–62) und die Erläuterungen zur Sozialgeschichte der Ehre und des Duells (S. 304–309).

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Die gründlichen Analysen der einzelnen Erzählungen gehen nicht immer, aber doch in den meisten Fällen deutlich über den Forschungsstand hinaus. Sie enthalten zahlreiche treffende Beobachtungen, versammeln eine Vielzahl von einschlägigen Befunden und bauen große Deutungslinien auf, von denen einige allerdings auch wieder ergebnislos abbrechen. Bisweilen hat man sogar den Eindruck, an der Deutungsarbeit beteiligt zu werden. So heißt es am Ende der pointierten Interpretation einer Figur plötzlich: »Ich habe übertrieben« (S. 160). Herwigs engagierte und temperamentvolle Arbeit stellt zahlreiche kluge Fragen, von denen jedoch nur wenige eine Antwort finden; die Autorin legitimiert das mit der Faktur des Romans und den Absichten seines Verfassers: »Goethe stellt Lösungen zur Diskussion, entläßt den Leser nicht mit Antworten, sondern mit Fragen« (S. 216). Es bleibt zu fragen, ob der Literaturwissenschaftlerin recht sein darf, was der Goethe-Philologin billig ist.

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Ergebnisse

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Im ersten Kapitel, das der Eingangserzählung »Sankt Joseph der Zweite« gewidmet ist, sowie im zweiten und längsten Kapitel über »Die pilgernde Törin«, werden psychoanalytische Interpretamente eingesetzt, die in der »Einleitung« nicht angekündigt worden sind und neben den nachvollziehbaren Historisierungen wie aktualisierende Fremdkörper wirken. Weder die biographistische Interpolation der Thoranc-Episode aus Dichtung und Wahrheit in die »Joseph«-Novelle noch die Deutung der pilgernden Törin mit Hilfe der Melancholie-Theorie Sigmund Freuds vermögen dabei zu überzeugen. Zur Erklärung der zweifellos vorhandenen Melancholie der Törin wären die Beachtung zeitgenössischer Darstellungen und der Verweis auf weitere Melancholiker im Werk Goethes aufschlussreicher gewesen. Plausibler sind die Ergebnisse einer semantischen Analyse der Belegstellen für ›Torheit‹ in den Lehrjahren. Sie ergeben einen ganzen Fächer von Formen hoffnungsloser Verliebtheit, die in der »Pilgernden Törin« aufgenommen werden und die Figur in der Tat als töricht markieren. Ihre Torheit besteht nach Herwig letztlich in einer absoluten Treueforderung, die sie einseitig auf die Vergangenheit fixiert und für ein situationsadäquates Verhalten untauglich macht.

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Überzeugender ist die Deutung der Erzählung »Wer ist der Verräter?« ausgefallen. Herwig greift hier auf Goethes Aufsatz Entoptische Farben zurück und kann dadurch zeigen, dass die Novelle das physikalische Phänomen des perspektivischen Sehens auf die Ebene der Interaktion zwischen den Figuren überträgt. Lucidor erscheint als Kristall, der zuerst erhitzt und dann abgekühlt wird. Am Ende lernt er, dass alle Phänomene in ihr Gegenteil umkippen können. Als tragische Figur bleibt Lucidors Vater zurück; seine Enttäuschung vermag der Text nur als Leerstelle mitzuteilen (S. 135).

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Besonders hervorzuheben ist die subtile rhetorische Analyse der Rede Lenardos vor dem Auswandererbund, die auch den markierten Bezügen zu Sternes Sentimental Journey nachgeht und erstmals die strukturelle Intertextualität zwischen den Romanen Sternes und Goethes Wanderjahren aufdeckt (S. 180–186). Herwig leitet daraus ab, dass Lenardos Rede sich mit der Autorintention keineswegs deckt, sondern vielmehr als Ausdruck von Skepsis verstanden werden muss. Die Ergebnisse rechtfertigen am Ende doch die Aufnahme des Kapitels in die Untersuchung.

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Zu den Glanzlichtern des Buches gehört die Deutung der Fischerknaben-Erzählung. Sie bettet Wilhelms autobiographischen Bericht zunächst sorgfältig in den Kontext seines Briefes an Natalie ein, wendet sich dann den medizingeschichtlichen Hintergründen zu und charakterisiert anschließend den Vater Wilhelms als typischen Vertreter der Aufklärungsphilosophie. Nach Ausführungen zu den zentralen Symbolen der Erzählung, dem Wasser, den Krebsen und dem Pfingstfest, wird das Ende des Briefes an Natalie untersucht. Während die Erzählung als Darstellung einer Initiation »in den Unterschied zwischen Liebe und Projektion, Freundschaft und Narzißmus, ärztlicher Kompetenz und Kurpfuscherei« sowie als Hinweis auf das Scheitern aufgeklärter Moralphilosophie »am Pragmatismus des bürgerlichen Aufstiegsstrebens« (S. 397) gelesen wird, erscheint der gesamte Brief als Verbindung von »Lebensbeichte und Liebesbeweis« (S. 257). Er fügt sich damit nahtlos in Goethes Bekenntniskonzept ein.

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Bestechend ist auch die detektivische Rekonstruktion der Konfliktgenese in der Erzählung »Nicht zu weit« ausgefallen. Herwig kann zeigen, dass die Figuren letztlich an den Normenkonflikten einer Umbruchzeit scheitern. Hier greift der soziale Wandel besonders deutlich in die Geschlechterverhältnisse ein und treibt sie an den Rand der Destruktion. Gegen die These von der Zersplitterung der Erzählinstanz, die vor allem im Kommentar der Frankfurter Ausgabe vertreten wird, hält Herwig daran fest, dass die Erzählung eine Lösung anvisiert. Sie besteht im Appell, sich gegebenenfalls auch in »Versagungstoleranz« zu üben (S. 338).

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Als problematisch erscheint dagegen der abschließende Beitrag zum Makarien-Mythos. Während man Herwig bei der Quellensicherung durchaus folgen wird, kann die Deutung Makaries kaum überzeugen. Im Anschluss an Hartmut Böhmes anregende, aber nicht unproblematische Deutung der Makarie-Figur wird insbesondere Immanuel Kant zum Prügelknaben der Wanderjahre. Während dieser nämlich im »Beschluß« seiner Kritik der praktischen Vernunft »schamlos zu denken« gewagt habe, dass sich das moralische Gesetz durch den Sternenhimmel legitimieren lasse, könne Makarie nur mit der vagen Hoffnung auf eine stets gefährdete, immer wieder aufs neue auszubalancierende Form der Identität aufwarten (S. 382). Dem wäre vor allem Goethes intensive Beschäftigung mit Kants Kritik der Urteilskraft entgegenzuhalten, die den Einsatz der Metapher im »Beschluß« der Kritik der praktischen Vernunft legitimiert, grundlegende Ansätze zur Position des Ästhetischen in der Moderne enthält und eine Theorie des Organismus entwickelt, die Goethe in hohem Maße angesprochen hat. Eine Polemik gegen Kant ist der Makarien-Mythos insofern sicherlich nicht. Eher scheint Herwigs Vermutung plausibel, dass Makarie als Gegenbild zum Luzifer-Mythos am Ende des achten Buches von Dichtung und Wahrheit angelegt ist. Wenn es, im Ausgriff vom Werk auf den Autor, am Ende der Untersuchung heißt, dass Goethe in Makarie seinen ethischen Anthropozentrismus gegen das Wissenschaftsideal seiner Zeit verteidigt habe, so ist das allenfalls der Rahmen für eine angemessene Deutung der nach wie vor rätselhaftesten Figur der Wanderjahre. Näheres werden wir wohl erst nach einer quellenintensiven Aufarbeitung des Verhältnisses von Ethik, Ästhetik, Astronomie und Astrologie in der Goethezeit wissen können.

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Fazit

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Alles in allem hat Henriette Herwig eine gründlich gearbeitete, kenntnisreiche und lebendig geschriebene Werkmonographie zu Goethes Wanderjahren vorgelegt, die der Erforschung dieses Textes seit der Erstauflage bereits wichtige neue Impulse gegeben hat. Es ist aber nicht zu übersehen, dass die zentrale These des Textes, insbesondere hinsichtlich der Frage nach dem Zusammenhang von Geschlechterdifferenz, sozialem Wandel und historischer Anthropologie, nicht näher ausgeführt und auch nicht überzeugend belegt wird. Sie verharrt im Status einer rahmenden Behauptung, die lediglich der Rechtfertigung einer ebenso akribischen wie überwiegend plausiblen Neulektüre der einzelnen Erzähleinlagen dient. Das ist freilich insofern auch wieder konsequent, als Herwigs Arbeit in ihrer Anlage abbildet, was sie über ihren Gegenstand behauptet: Texte widersprechen ihrem Kontext. Die Goethe-Philologie wird das erfreuen, die Literaturwissenschaft aber will mehr, sie verlangt:

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2. II. Disziplin: Schößler über Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre

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Staatsmann und Dichter

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Im vierten Kapitel des zweiten Buchs der Lehrjahre führen Bergleute vor einer Mühle einen kleinen Dialog auf, mit dem sie den Nutzen ihrer Arbeit für die Landbevölkerung unterstreichen. Wilhelm Meister hat sich das genau angesehen und leitet daraus die Vision eines Paktes zwischen Politik und Literatur zum Wohle der Gesellschaft ab. Der Politiker hätte demnach die diskursiven Zusammenhänge vorzugeben, der Schriftsteller hätte sie – und das erst würde ihn zum Dichter qualifizieren – humoristisch zu bearbeiten:

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Sollte es nicht eine angenehme und würdige Arbeit für einen Staatsmann sein, den natürlichen wechselseitigen Einfluß aller Stände zu überschauen, und einen Dichter, der Humor genug hätte, bei seinen Arbeiten zu leiten?
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Franziska Schößler geht in ihrer Freiburger Habilitationsschrift cum grano salis davon aus, dass in den Meister-Romanen tatsächlich der Staatsmann dem Dichter die Feder geführt hat, und sie investiert erhebliche disziplinäre Energien in den Nachweis dieser Annahme. Auf der Strecke bleibt dabei allerdings der Humor.

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Und mit ihm der Dichter. Entsprechend knapp fällt in der »Einleitung« ihrer Arbeit die obligate ›Verbeugung‹ vor der Goethe-Philologie aus. Diese wird dafür gelobt, die These von Wilhelm Meister als Bildungsroman und die Annahme einer harmonischen Entwicklung bzw. generell einer Zentralstellung des Protagonisten endlich verabschiedet und erstmals die medizinischen, ökonomischen sowie sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Aspekte der beiden Romane in den Blick genommen zu haben. Der Anschluss an die Goethe-Forschung erfolgt damit stark selektiv und er beschränkt sich auf die Ebene der Themen. Forschungsbeiträge zur Form der Meister-Romane werden an dieser Stelle nicht erwähnt. Im Verlauf der Arbeit bekundet die Untersuchung dann vor allem für die Goethe-Studien von Wilhelm Emrich, Hannelore und Heinz Schlaffer sowie Bernhard Buschendorf Sympathien.

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Vom Tanz der Diskurse ...

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Die These des Buches lautet, dass Goethes Lehr- und Wanderjahre »Verschiebungen innerhalb leitender kultureller Diskursformationen vor Augen« führen und dadurch »das Profil der bürgerlichen Moderne« konturieren (S. 9). Im Zentrum der Arbeit stehen damit die Begriffe des kulturellen Wandels und der Moderne, die zugleich den Untertitel des Buches bestimmen. Wie vor allem dem Epitheton ›bürgerlich‹ zu entnehmen ist, versteht Schößler unter der Moderne in erster Linie eine sozialgeschichtliche Konstellation. Während sie den Epochenbegriff mit Michel Foucault (in der Lesart Karlheinz Stierles) und mit Hans Blumenbergs Umbesetzungs-Theorem modelliert (S. 13, Anm. 21), ist sie an den von Sozialhistorikern geforderten Differenzierungen im Begriff des Bürgerlichen offenkundig nicht interessiert. Sie verwendet ihn nämlich in einer Weise, die kaum noch als sorglos bezeichnet werden kann. Das Konzept des kulturellen Wandels dagegen wird von Schößler als »Umstrukturierung und Neukonstellierung von Diskursen« gefasst (S. 9). Gemeint ist damit die Integration vormals selbständiger diskursiver Einheiten in neu formierte Diskurse (der Geniediskurs wird z.B. in den der Medizin integriert) und das Auseinanderfallen vormals eng verbundener Diskurse in selbständige Einheiten (Anatomie und Ästhetik waren z.B. lange verknüpft, treten nach 1800 aber auseinander). Der literarische Text wird dann zum Schauplatz für den Tanz der Diskurse, auf dem sie sich trennen, finden und neu konstellieren. Anlage der Untersuchung und Wortwahl (›vor Augen führen‹) nähren den Verdacht, dass literarische Texte unter diesen Prämissen zur bloßen Illustration von anderweitig längst bekannten Sachverhalten werden müssen. Der Zerstreuung dieses Verdachts ist die fußnotenschwere Erörterung und Begründung des methodischen Vorgehens gewidmet.

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Es verwundert zunächst nicht weiter, dass Schößler ihren disziplinären Ort explizit in der Text-Kontext-Debatte bezieht. Ihr Einsatz in dieser Debatte erfolgt über den New Historicism, dem zufolge durch die Beziehung von Texten auf Kontexte »gesellschaftliche Machtkonstellationen sichtbar werden« (S. 16). Das Programm heißt also noch einmal: Machtkritik. Im Unterschied zum New Historicism will Schößler aber zum einen nicht auf den Sonderstatus literarischer Literatur verzichten und zum anderen legt sie ihre Untersuchung nicht synchron, sondern diachron an. Letzteres führt zur Ausgrenzung anthropologischer Ansätze (S. 18, Anm. 44). Nur so lassen sich im Anschluss an Michel Foucault »die Konstitutionsprinzipien bürgerlicher Subjektivität« eruieren (S. 19). Etabliert werden diese Prinzipien – wiederum mit Foucault – durch eine Körperpolitik, die das anarchische Individuum auf den Zugriff der Märkte abrichtet und es durch Ausschlussverfahren homogenisiert und kollektiviert.

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... zurück zum Text?

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Man kennt das Szenario und ahnt bereits, dass es sich auch in Goethes Meister-Romane einlesen lassen wird. So soll es aber nicht gemeint sein. Denn Schößler kann mit Doris Bachmann-Medick nur den Kopf über diejenigen schütteln, die Literatur zum »puren ›Sozialreport‹« (S. 19) verkürzen. Wenig später beteuert sie:

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Ich möchte allerdings auch in Hinsicht auf meinen Umgang mit Foucaults Analysen [...] festhalten, daß die Goetheschen Romane im Vordergrund stehen werden, nicht aber Foucaults Gesellschaftsmodell. (S. 20)
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Will das, kann das mehr sein als eine rhetorische Geste? Wohl kaum. Der Rückweg vom Tanz der Diskurse zum Text, gar zum »Werk« (S. 17), ist lediglich mit Absichtserklärungen gepflastert, die ihren Status auch gar nicht erst zu kaschieren versuchen: »Mein Vorhaben ist es, die Texte aus großer Nähe und mit philologischer Genauigkeit zu betrachten« (S. 20 f.). Das ist die vorwegnehmende Entkräftung des zu Recht erwarteten Haupteinwands gegen die Untersuchung. In deren Zentrum steht in der Tat nicht der Text, sondern der Kontext, der kulturelle Wandel um und nach 1800. Kultur wird dabei als »Wissensformation« aufgefasst, »als spezifisches Arrangement von Diskursen, das sich um 1800 nachhaltig verändert«; zugleich wird sie aber auch als »Gefüge von Domestikationsstrategien« verstanden (S. 21). Goethes Wilhelm Meister exekutiert dann die kulturelle Formation und ihre Abrichtungsstrategien, fungiert aber auch – so die abschließend angebotene Formel für die Rettung des Textes vor seinem Verschwinden im Kontext – als deren Kommentar, der den Einsprüchen gegen die kulturellen Ordnungen der Moderne eine Stimme verleiht.

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Eleganz ohne Philologie

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Das Lektüreverfahren Schößlers erhebt hohe Ansprüche und ist in den Darbietungsformen erkennbar um Eleganz bemüht, erweist sich aber als philologisch schwach gesichert. – Beginnen wir mit der Philologie. Bereits die Ausführungen zum methodischen Zuschnitt der Arbeit berufen sich häufig auf Informationen aus zweiter und dritter Hand und ziehen statt der zitierten Texte wiederholt einschlägige »Reader« (S. 17) heran. Das setzt sich in den analytischen Teilen der Arbeit, in denen die ausgewerteten kulturgeschichtlichen Informationen ebenfalls vielfach aus der Sekundärliteratur übernommen werden, fort. Es verwundert daher nicht, dass Schößlers Studie so gut wie keine neuen Quellen erschließt und einige Realia nur lückenhaft anmerkt. Der locus amoenus etwa begegnet vor Theokrit (S. 79, Anm. 1) bereits in Platons Phaidros und die Gruppe, die Philine mit dem verletzten Wilhelm in ihren Armen nach dem Überfall auf der Waldlichtung bildet, muss nicht unbedingt (mit Christoph Perels) auf Pietà-Darstellungen und Vesper-Bilder verweisen (S. 92 f.), sondern kann auch an den Beginn von Heliodors Aithiopika erinnern. Schließlich ist die Hochschätzung des Landlebens nicht primär auf Christoph Wilhelm Hufelands Makrobiotik zurückzuführen (S. 117), sondern ein weit verbreiteter und gut erforschter literarischer Topos der Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts. Philologisch unplausibel erscheint schließlich auch der Umstand, dass die Arbeit nur die Münchner Ausgabe anführt und die ausführlichen Kommentare der Frankfurter Ausgabe (mit der Ausnahme von Albrecht Schönes Faust-Kommentar) nicht berücksichtigt.

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Stilistisch setzt die Arbeit wie gesagt ganz auf Eleganz. Das Schwarzbrot der Machtkritik bevorzugt feinere Beläge. Gerne wird man der Arbeit einen gepflegten Stil auch attestieren wollen, bisweilen jedoch gerät der stilistische Aufwand in Schieflage und kippt ins Manierierte um. Dann wird etwas nicht emphatisch, sondern »jubilatorisch« bemerkt (S. 36), aus dem Anwesen des Oheims wird das ›Oheimsche Anwesen‹ (S. 220, vgl. S. 224), aus dem ›Charisma‹ das Verb ›charismatisieren‹ (S. 141) und aus dem unvermeidlichen ›Palimpsest‹ das Adjektiv ›palimpsestisch‹ (S. 269); wiederholt wird im Nebensatz die Negation der adversativen Konjunktion vorangestellt: »[...], sind nicht aber [...] mißzuverstehen« (S. 183, Anm. 1); »[...], werden nicht aber zur Synthese gebracht« (S. 197 f., Anm. 48); »[...], sind nicht aber Produkte der Selbstversorgung« (S. 224), und gelegentlich sind die Zusammenhänge so raffiniert amplifiziert und syntaktisch komprimiert worden, dass neidvoll das Verständnis in die Knie geht: »Sind die Bergbewohner in den Wanderjahren an ›Putzsachen‹, an Kleidungsstücken, interessiert, an modischen Accessoires, so an Luxusgütern, die die natürlichen Bedürfnisse übersteigen« (S. 288). Ist der Stil gepflegt, so die Machtkritik hybride: Sollte es so gemeint gewesen sein?

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Gliederung

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Die theoretischen Ansprüche Schößlers schlagen sich auch in der Anlage der Arbeit nieder. Die Gliederung kann als ausgesprochen gut geglückt gelten, da sie die These der Untersuchung in prägnanter Form wiederholt und dadurch die Beweisführung unterstützt. Die Studie zerfällt in zwei gleich lange Hauptteile, von denen sich der erste mit Wilhelm Meisters Lehrjahren und der zweite mit Wilhelm Meisters Wanderjahren beschäftigt. Die Analyse der Lehrjahre stellt den Subjektivitätsdiskurs und seinen Wandel in den Mittelpunkt. Die einzelnen Kapitel beschäftigen sich in linearer Progression mit der Konstitution des Subjekts, mit seinen Kompensationsversuchen, mit der Rücknahme emphatischer Subjektivität, mit seiner Normalisierung und mit seiner Aufhebung. In hochselektiver Weise werden dabei vor allem das erste Buch, das als Scharnierstelle begriffene fünfte Buch und insbesondere die beiden letzten Bücher der Lehrjahre analysiert. Hinzu kommen einzelne Figuren (Mignon und der Harfner), einzelne Schlüsselszenen (die Begegnung Wilhelms mit Natalie auf der Waldlichtung) sowie einzelne Reden. Das sechste Buch wird – mit schwacher Begründung – übergangen, obwohl Goethe es am 18.3.1795 im Brief an Friedrich Schiller selbst als Scharnierstelle des Romans bezeichnet hat und obwohl die »Bekenntnisse einer schönen Seele« das Prinzip des Einschubs zusammenhängender Erzählungen in eine Rahmenhandlung einführen, das schließlich auch die Wanderjahre strukturiert.

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Anders als im ersten Hauptteil steht im zweiten nicht länger ein bestimmter Diskurs im Mittelpunkt, sondern die Untersuchung arbeitet nun in zyklischer Form verschiedene, allerdings schon im ersten Teil wiederholt berührte diskursive Felder ab: Transzendenz, Landwirtschaft, Interpretation und Überlieferung, Zeiterfahrung, Industrie, Ästhetik, Medizin, Bildung und erneut Transzendenz. Dabei werden bevorzugt die von Herwig ausgesparten Partien des Textes behandelt: der Bezirk des Oheims, die Pädagogische Provinz und die Episode am Lago Maggiore. Die Erzähleinlagen bleiben weitgehend unberücksichtigt. Lediglich »Sankt Joseph der Zweite«, »Wer ist der Verräter?«, »Das nußbraune Mädchen« und die Fischerknaben-Erzählung werden ein wenig näher ins Auge gefasst. Ebenso wie Herwig behandelt auch Schößler abschließend den Makarie-Mythos. Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse und ein vergleichsweise schmales Literaturverzeichnis runden die Studie ab; Namen- und Sachregister sucht man vergebens.

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Mikroanalysen

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In den analytischen Teilen der Arbeit neigt Schößler zu Mikroanalysen, deren Ergebnisse sie dann überraschend schnell zu äußerst weit reichenden Thesen hochrechnet. So werden in den Ausführungen zur Novelle »Wer ist der Verräter?« der sesshafte Lucidor und die mobile Julie als Darstellungen des Epochenumbruchs nach 1800 gedeutet, in dem Beharrung durch Bewegung abgelöst wird. Die abschließende Kutschfahrt beider wird dann auf die Fahrt des Phöbus mit dem Sonnenwagen bezogen und über diesen Kunstgriff zum Sinnbild einer epochalen Versöhnung von Moderne und Vormoderne stilisiert. Da sich Lucidor und Julie in der Kutsche auch unterhalten, lautet das Fazit: »Die Epochen der Seßhaftigkeit und der Mobilität treten ins Gespräch und reichen sich die Hand« (S. 270). Das Beispiel zeigt, dass die Arbeit an überzeugenden Nachweisen für ihre Thesen gar nicht ernsthaft interessiert ist. Es verdeutlicht, dass die Interpretin Zusammenhänge zwischen Text und Kontext so »etabliert« hat (S. 59, Anm. 32), dass die Ergebnisse zu den Thesen passen.

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Ergebnisse

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Positiv hervorzuheben sind die zahlreichen Zwischenresümees und die gelungenen Überleitungen, die das Buch ausgesprochen leserfreundlich machen. Auch einzelne Thesen können durchaus überzeugen. So wird etwa der Nachweis geführt, dass Wilhelms Vater in den Lehrjahren als epochale Übergangsfigur charakterisiert wird (S. 44). Plausibel erscheint auch die These, dass in den Wanderjahren an die Stelle von Ehe und Familie Bündnisse anderer Art treten (S. 166 f.).

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Einspruch wäre vor allem gegen die Ausführungen zur Melancholie in den Lehrjahren zu erheben. Sie operieren auf einem ungesicherten Terrain, weil Schößler sich auf eine zu schmale Forschungsbasis stützt und die Arbeit mit Quellen umgeht. Das zeigt sich bereits bei der Deutung des Harfners, die zwar die Anspielung auf Davids Harfenspiel vor Saul realisiert, das topische Konzept der Melancholietherapie durch Musik aber offenbar nicht kennt (S. 73 f.). Die Ausführungen zur Melancholie Aurelies werden einseitig auf die Modernisierung des medizinischen Diskurses um 1800 bezogen, wobei Schößler einen 1999 im Goethe-Jahrbuch erschienenen einschlägigen Aufsatz von Thorsten Valk übergeht und nicht zu wissen scheint, dass die Liebesmelancholie bereits im 17. Jahrhundert durch Jacques Ferrand (De la maladie d’amour ou mélancholie érotique, Paris 1623) mit europaweiter Wirkung systematisiert worden ist. Wenn es dann heißt, dass der Liebeswahnsinn um 1800 erstmals mediziniert und pathographiert worden sei und dass im Kontext von Aurelies Krankheit »die epochalen Verschiebungen, denen die Lehrjahre nachspüren«, markiert würden (S. 114), dann ist das schlicht eine Folge ungenauer Recherchen.

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Der Umgang mit der Melancholie verdeutlicht im Übrigen auch prägnant die vergleichsweise schlichte geschichtsphilosophische Prämisse des Buches, wonach im Fortschrittsprozess zwischen alt und neu, progressiv und regressiv stets sauber unterschieden werden kann. Es soll hier nur angedeutet werden, dass sich gegen Schößlers ›progressive‹ Deutung des Turm-Archivs als Schriftspeicher und biographisches Archiv der Umstand anführen ließe, dass bereits der junge Goethe im Elsass Volksballaden aufgezeichnet hat, die zumindest die lyrische Produktion des Sturm und Drang entscheidend geprägt haben. Hier bereits wurde durch Speichern und Archivieren »ein neuartiger Kunstdiskurs etabliert« (S. 122), den Schößler erst am Ende des 18. Jahrhunderts als Gegendiskurs zum Sturm und Drang entstehen sieht. Die Kulturtechniken des Speicherns und Archivierens allein besagen also noch nichts über die Eigenart des kulturellen Wandels, den sie angeblich indizieren.

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Wenig überzeugend fällt schließlich auch hier die knappe Deutung des Makarien-Mythos aus. Sie geht auf die Ausführungen Herwigs nicht ein und soll die These belegen, dass dieser Mythos – wie die Wanderjahre überhaupt – sowohl restaurativ (als Rekurs auf vormoderne Sinnbildungsverfahren) als auch innovativ (im Hinblick auf die modernen Krisen des Sinns) gelesen werden kann. Die restaurative Lesart entwickelt Schößler in enger Anlehnung an Jochen Schmidts Deutung des Faust-Schlusses. Makarie wird in dieser Perspektive zur »Einheitsfigur« (S. 350), die in den Wanderjahren einen »Gegenentwurf zu den kollektiven Bezirken und dem sich dort ankündigenden mechanistischen Umgang mit Zeit« darstellt (S. 348). Dagegen geht die innovative Lesart davon aus, dass Makarie im Roman als theatralische Inszenierung angelegt ist. Sie steht für den Kunstgriff der Moderne, Sinnverluste durch Traditionszitate zu verdecken. In dieser Perspektive wird in der Gestalt Makaries mit ironischen Untertönen »ein obsoletes mikro-makrokosmisches Konzept als nostalgischer Sehnsuchtshorizont, als restaurative Utopie, vergegenwärtigt, die den innovativen Tendenzen der neuen Gesellschaft entgegengesetzt wird« (S. 353). Ob – wie Schößlers Analyse nahe legt – nur eine diskursanalytisch geschulte Form von Kulturgeschichte die Spannungen zwischen restaurativen und innovativen Tendenzen in der Moderne auf Dauer produktiv aushalten kann, sei dahingestellt.

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Fazit

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Schößlers Untersuchung überzeugt durch ein ausgeprägtes Methodenbewusstsein, klar konturierte Argumentationslinien, kluge Fragen und neue Perspektiven, wobei vertraute Sichtweisen preisgegeben und Beweislasten umgekehrt werden. Bedenklich erscheint jedoch der Umgang mit dem Detail, wofür in erster Linie die weitgehende Philologieabstinenz der Arbeit verantwortlich zeichnet. Über dem theoretischen Anspruch und den Anstrengungen einer elegant vorgetragenen Machtkritik kommt vor allem die Ironie der untersuchten Texte, ihr ausgeprägter Shandyism, zu kurz. Die latente Geschichtsphilosophie der Untersuchung hat schließlich zur Folge, dass Belege bisweilen arg deformiert oder in überzogener Weise in den Argumentationsgang eingepasst worden sind: Der Text ist dem Kontext zum Opfer gefallen.

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3. III. Text und Kontext

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Kommen wir zum Schluss: Henriette Herwigs Werkmonographie hat die Forschung zu Wilhelm Meisters Wanderjahren neu orientiert und kann inzwischen als Grundlagenwerk der Wanderjahre-Philologie gelten. Da sich die Arbeit jedoch in erster Linie auf die Ausdeutung eines Einzeltextes bezieht, ist sie nur bedingt interessant für Forschungen zum kulturellen Wandel um 1800. Franziska Schößlers Studie wird im Gegenteil – die Prognose sei gewagt – weder die Wilhelm Meister-Forschung noch die Goethe-Philologie nachhaltig überzeugen können, liefert aber wichtige methodologische und thematische Anregungen, die über Goethes Romane hinaus auch für andere Texte und andere historische Disziplinen (vor allem für die Medizin- und Wirtschaftsgeschichte) interessant sein dürften.

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Nimmt man abschließend die Frage nach dem Zusammenhang zwischen literarischem Text und soziokulturellem Kontext, zwischen Respekt vor dem Einzelwerk und Entscheidung für die Einheit der Disziplin, noch einmal auf, dann bietet der Ausgang von der Theorie vermutlich die besseren Startchancen, die Konzentration auf den literarischen Text aber langfristig die größeren Erfolgsaussichten. Entscheiden wir uns also für die Interaktion von Text und Kontext und halten fest, dass beide Bücher zusammen der Germanistik jenen Respekt zu sichern geeignet sind, den sie als Disziplin seit jeher verdient.


Prof. Dr. Ulrich Breuer
Universität Helsinki
Germanistisches Institut
Postfach 24 (Unioninkatu 40 B)
FI - 00014 Helsinki

Ins Netz gestellt am 07.09.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Bernd Hamacher. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Ulrich Breuer: Disziplin und Respekt. Goethes Meister um 1800. (Rezension über: Henriette Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. 2., durchges. Aufl. Tübingen / Basel: A. Francke 2002. – Franziska Schößler: Goethes »Lehr-« und »Wanderjahre«. Eine Kulturgeschichte der Moderne. Tübingen / Basel: A. Francke 2002.)
In: IASLonline [07.09.2004]
URL: <http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Breuer3772021786_881.html>
Datum des Zugriffs:

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