Markus Buntfuß über Nowak: Schleiermacher

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Markus Buntfuß

Die Kunst der Vermittlung

Kurzrezension zu
  • Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung (UTB für Wissenschaft; 2215) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 632 S. Kart. € 24,30.
    ISBN 3-8252-2215-2.


Schleiermacher als Repräsentant seiner Epoche

In der Tat ist der meisterhaften Darstellung von Schleiermachers Leben, Werk und Wirkung des im vergangenen Jahr verstorbenen Kirchenhistorikers Kurt Nowak zu wünschen, dass sie nicht nur in der professionellen "Schleiermacherschen Deutungsindustrie", sondern auch im akademischen Studium und der gebildeten Beschäftigung mit diesem Klassiker der Moderne "schnell zum Marktführer" wird (Friedrich Wilhelm Graf in der FAZ vom 9.10.2001). Denn diese erste, über 600 Seiten starke Werkbiographie seit Wilhelm Diltheys unvollendetem Versuch vereint die ausgezeichnete Darstellungsgabe ihres Autors mit einer ebenso gelungenen wie erhellenden Verschränkung von privater Biographie und öffentlicher Wirksamkeit.

So zeichnet der Biograph Nowak den Menschen Schleiermacher ebenso plastisch als homo religiosus und homme des lettres, geselligen Freund und WG-Genossen, Kirchen- und Wissenschaftspolitiker, politischen Publizisten und Mann der nationalen Bewegung, wie er einen souveränen Überblick über dessen theologische und philosophische Werke, einschließlich der Vorlesungen zu Psychologie, Staatslehre, Pädagogik und Ästhetik gibt.

Dabei besticht vor allem die Ausgewogenheit, mit der Nowak seinen Protagonisten jenseits von Verklärung und Verhüllung als Kind seiner Zeit und maßgeblichen Repräsentanten seiner Epoche charakterisiert. Ebenso ausgewogen geraten ihm auch die pointierten Referate von Schleiermachers komplexen Schriften. Brillant arbeitet Nowak dabei die intellektuelle Physiognomie dieses zweiten großen Dialektikers seiner Zeit heraus. Denn für den einflußreichen Übersetzer und Vermittler von Platons Dialogen gründete der Gedanke wesentlich im Gespräch.

Diese Grundeinsicht erfuhr ihre Realisierung nicht nur in der virtuosen Teilnahme an der geselligen Salonkultur, sondern auch in der Vorlesungspraxis des Universitätslehrers, der sein Kolleg als Räsonnement inszenierte, um die Hörer am Prozess der Erkenntnisgewinnung in statu nascendi teilhaben zu lassen – eine Herausforderung für das Auditorium, die der urteilsfähige Student David Friedrich Strauß mit der Aufgabe verglich, "einen Tänzer in voller Bewegung zu photographieren" (S.236).

Wissenskonzept

In der Dialektik (1839) hat Schleiermacher die theoretische Begründung zu dieser sich aus dem kommunikativen Wechselerweis speisenden Philosophie geliefert, in dem er den Weg zum höchsten Wissen als dialektisch-dialogischen Prozeß entwirft. Zu Recht betont Nowak auch die wissenschaftssystematische und universitätspolitische Pointe dieses genuin modernen Konzepts:

Ein formalistisches Modell des Wissens läuft bei Schleiermacher ins Leere. Wissen ist stets im Werden. Es entzieht sich durch Oszillation zwischen den Polen des Idealen und Realen seiner Verdinglichung. Und es lebt vermöge des Wechselverhältnisses von Individualität und Allgemeinheit aus dem Geist der Geselligkeit im Prozeß der Wissensproduktion. Das Wissenschaftssystem ist ein Symposion. (S.293)

Doch nicht nur in der sokratischen Konzeptualisierung der Wissensproduktion sowie der Einteilung der Wissenschaften in Dialektik, Physik und Ethik folgt Schleiermacher den Weichenstellungen der griechischen Philosophie. Vielmehr gibt Nowak den Theologen der Romantik und Mitbegründer der Humboldt-Universität überhaupt als kundigen Wanderer zwischen griechisch-antikem Weltbild und jüdisch-christlichem Glauben zu erkennen. Der erste Hermeneutikentwurf etwa läßt sich werkgeschichtlich "sowohl im Rückblick auf Platon wie im Vorausblick auf Paulus lesen" (S.155, vgl. S.238).

Schleiermacher – so wird deutlich – ist nach Herder einer der wenigen Denker des Protestantismus, der die Bildungswelten von Athen und Jerusalem nicht gegeneinander ausspielt, sondern konstruktiv aufeinander bezieht. Dazu paßt auch die Beobachtung, dass sich Schleiermacher das kategoriale Rüstzeug zu seiner Religionstheorie und Glaubenslehre weniger aus der altprotestantischen Dogmatik des 16. und 17. Jahrhunderts, als aus den natur- und religionsphilosophischen, anthropologischen und ästhetischen Debatten des 18. Jahrhunderts vorgeben läßt – eine Zeit, die nicht zuletzt durch ihre Antikenverehrung hervorgetreten ist.

Fazit

Mag sich darin auch die Zeitgebundenheit eines Denkers des protestantischen Bildungsbürgertums zu Beginn des 19. Jahrhunderts dokumentieren, die Erschließungskraft dieses Klassikers der Moderne für die historische und systematische Selbstverständigung der gegenwärtigen Theologie und Kulturwissenschaft ist noch längst nicht ausgeschöpft. Dies mit einem eigenen Kapitel zur Wirkungsgeschichte von 1834 bis 1999 verdeutlicht zu haben, darf ebenfalls als Verdienst von Nowaks maßgeblicher Schleiermacher-Biographie gelten:

Schleiermachers >christliche Welt< war die Welt eines protestantischen Theologen und Philosophen an einem bestimmten intellektualgeschichtlichen Ort in einer heute versunkenen historischen Zeit. Sie war stärker von der Umwelt modelliert als er es selber wahrnahm. Das abfällige Urteil späterer Kritiker, wir hätten nichts anderes vor uns als eine Theologie (und Philosophie) der bürgerlichen Epoche, verkennt gleichwohl einen grundlegenden Sachverhalt. Im Werk Schleiermachers finden sich Elemente eines Diskurses, der ungeachtet seiner zeitbedingten Ausgestaltungen unabschließbar und insofern unüberholbar bleibt. Er bewegt sich um Kern- und Grundfragen: Was ist der Mensch? Was ist Religion? Was ist Geschichte, was Kultur, Technik, Kunst, Bildung? Bei aller >Lokalität< arbeitete der Glaubensdenker und Kulturphilosoph in einen weit geöffneten Zukunftshorizont hinein. (S.340)


Dr. Markus Buntfuß
Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Lehrstuhl für Evangelische Theologie I
Wittelsbacherplatz 1
D-97074 Würzburg
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Ins Netz gestellt am 23.06.2002
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Alf Christophersen. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


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