Günter Butzer
Rudolf Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des
Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen
Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus. München: Wilhelm Fink
1997. 295 S. Kart. DM 58,-.
Die Forschung zum deutschen Realismus des 19. Jahrhunderts befindet sich seit den
70er Jahren in einiger Verlegenheit. Seit nämlich im Anschluß an Friedrich
Sengles Entdeckung eines ‘programmatischen Realismus’, der sich unmittelbar nach
1848 formiert, eine genuine Realismus-Theorie deutscher Provenienz gefunden wurde,
teilen sich die Arbeiten in zwei Linien, die, so scheint es, nicht mehr zueinander finden
können. Die eine Richtung
beschäftigt sich nahezu ausschließlich mit Theoretikern wie Julian
Schmidt, Robert Prutz und Hermann Hettner, 1 die andere
hält an der Interpretation der kanonischen Werke und Autoren fest, deren Zahl
nach einer zeitweiligen Erweiterung in den 70er Jahren inzwischen – bedingt durch den
Wechsel germanistischer Theoriebildung von der Sozialgeschichte zu Hermeneutik
und/oder Dekonstruktion – wieder die bekannte (Männer-)Runde von Stifter bis
Fontane umfaßt. 2 Die Erforschung der Beziehung
zwischen dem ‘programmatischen Realismus’ der Theoretiker und dem ‘poetischen
Realismus’ der Autoren steht allenthalben aus.
Schriftsteller und die Entstehung der Massenkommunikation
Rudolf Helmstetter versucht in seiner ambitionierten Studie, diese Lücke
für den Autor Fontane zu schließen, und zwar durch eine neue
Fragestellung, die die literarische Öffentlichkeit, in der die Texte zu ihrer
Entstehungszeit kommuniziert wurden, für die Interpretation fruchtbar macht.
Daß ‘freie’ Schriftsteller wie Raabe und Fontane, aber auch ‘nebenberuflich’
tätige wie Keller und Storm, über die Produktion, Distribution und
Rezeption ihrer Werke aufs engste mit der Entstehung der Massenkommunkation seit
den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts verflochten sind, ist längst kein Geheimnis
mehr. Die Bildungs- und Familienzeitschriften – Die Gartenlaube, Daheim,
Westermanns Monatshefte und viele mehr – bilden den fast unumgehbaren Ort
für die Erstveröffentlichung von literarischen Texten und greifen mit ihren
inhaltlichen wie formalen Normen vehement in deren Gestalt ein. Erst die Gründung der Deutschen Rundschau 1874
führt hier zu einer Differenzierung der literarischen Kommunikation, die jedoch
an der Abhängigkeit der Autoren von den Zeitschriften nichts Grundlegendes
ändert. 3
Die Publikationssituation Fontanes
Auch für Fontane wurde diese
Abhängigkeit wiederholt hervorgehoben. Peter Demetz stellt bereits Mitte der
70er Jahre fest: "[...] ich kann Fontane als Schriftsteller
nicht gerecht werden, solange ich ihn nicht in seiner Verstrickung in die besonderen
Publikationsformen seiner Epoche sehe und seinen feinen, aber oft bedrohten Triumph
über sie gänzlich mißachte." 4
Die ‘Verstrickungen’ Fontanes in die literarischen
Kommunikationsverhältnisse seiner Zeit sind – ebenso wie diejenigen anderer
‘Realisten’ – inzwischen gut erschlossen. 5 Was noch aussteht,
ist die Explikation dessen, was Demetz den ‘Triumph’ Fontanes über die
zeitgenössischen Publikationsformen genannt hat. Die bisherige Forschung geht
über das Konstatieren von Struktur- und Motivparallelen zwischen Texten
Fontanes und zeitgenössischer ‘Trivialautoren’ einerseits und der
unzulänglich begründeten Behauptung eines künstlerischen
Mehrwerts in den Werken Fontanes gegenüber der bloßen
Unterhaltungsliteratur andererseits kaum hinaus. Hier setzt Helmstetter mit seiner Arbeit
ein, indem er den Anspruch erhebt, die Rekonstruktion der historischen
Publikationssituation Fontanes zu vereinbaren mit dem Nachweis seiner
ästhetischen Besonderheit, der sich nicht auf die konsensuell bestätigte
Intuition literarischer Qualität beschränkt. Um dieses Ziel zu erreichen,
verbindet der Verfasser zwei unterschiedliche Methoden: die mediengeschichtliche
Darstellung und die Textinterpretation.
Literatur in ihren historischen Rahmenbedingungen
Das erste Kapitel (S. 13–46) formuliert eine ausführliche Kritik des naiven
Realismusbegriffs in der Fontaneforschung, welche mit Hilfe der Autorbiographie und
eines präsupponierten Wissens um die gesellschaftliche Wirklichkeit in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die literarische Darstellung mit der sozialen
Realität kurzschließt und nach der ‘Wirklichkeitstreue’, der
‘Verklärung’ zeitgenössischen Lebens oder nach dem Grad der
‘Gesellschaftskritik’ in Fontanes Texten fragt. Dieser Auffassung der Beziehung von
‘Literatur’ und ‘Realität’, die ohne Zweifel auch heute noch im Mainstream der
Realismusforschung die dominante ist, hält Helmstetter vor, "die
vermeintliche Durchsichtigkeit realistischer Texte auf das referentialisierbare
Dargestellte" lenke das Interesse "von der literarischen Darstellung ab – von
ihrer Textualität und ihrem literarischen Modus – und auf ihre historischen
Substrate hin" (S. 16). Gegenüber dieser Fragestellung empfiehlt er, sich
um der Erfassung der Besonderheit des eigenen Gegenstandes willen einstweilen auf die
historische Wirklichkeit der Literatur selbst zu konzentrieren, die in erster Linie von den
Bedingungen ihrer Kommunikation bestimmt wird:
Die Fontaneforschung ist in dem Maße unrealistisch, wie sie Fontanes
Produktions- und Publikationsbedingungen ausblendet, die Bedingungskontexte,
in denen er steht, die er voraussetzt, die er reflektiert, auf die er sich bezieht; aber
erst, wenn man seine Kommunikationssituation beachtet, ist zu sehen, wie er die
Rahmenbedingungen produktiv macht und überschreitet (S. 24f.).
Literarische Normen im Werk Fontanes
Die Forderung nach Berücksichtigung der
"Rahmenbedingungen" literarischer Kommunikation ist sicherlich zu
unterstützen. Sie bleibt aber solange problematisch, wie nicht geklärt ist, in
welcher Beziehung ‘Rahmen’ und ‘Inhalt’ zueinander stehen – weist doch bereits die
Terminologie auf ein dichotomisches Denkmodell hin, das die gesamte Argumentation
durchzieht. Der kommunikative ‘Rahmen’, das sind für Helmstetter vor allem die
literarischen Normen, die die Familienblätter an die Texte ihrer Autoren anlegen
und die idealtypisch in den Werken der prominenten Vertreter der
zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur repräsentiert sind. Die Darstellung dieses ‘Rahmens’ für Fontanes Werk
beruht jedoch nicht auf eigenen Forschungen des Verfassers, sondern verdankt sich der
einschlägigen Sekundärliteratur. 6 Nun kann man
von einer Studie über Fontane nicht unbedingt erwarten, daß sie den
publikationsgeschichtlichen Kontext aus den Quellen rekonstruiert. Wenn aber ein solch
großes argumentatives Gewicht auf den Umgang eines Autors mit den
literarischen Normen seines Mediums gelegt wird, kommt es ganz wesentlich auf die
möglichst genaue Bestimmung dieser Normen an.
Die Auswirkung veränderter Medien auf die Literatur
Das zweite Kapitel (S. 47-95), das den öffentlichkeitsgeschichtlichen
Bedingungen des ‘poetischen Realismus’ gewidmet ist, macht die Problematik dieses
allzu stark homogenisierten ‘Rahmens’ deutlich. Solange sich die Darstellung auf die
publizistischen Veränderungen neue Drucktechniken, billige Papierherstellung,
Ausweitung des Distributionssystems, Verbreiterung der potentiellen Leserschaft durch
Alphabetisierung und deren Konsequenzen für die literarische Kommunikation
beschränkt, vermag sie zu überzeugen. Reflexionen wie die folgende
über die neuartige Beziehung von informierenden und literarischen Texten
erscheinen höchst fruchtbar:
Die neuen illustrierten Zeitschriften vermitteln massenmedial Welt-Wissen
und Welt-Bilder, Illustrationen mit fiktiver und realer Referenz stehen
nebeneinander, die Kopräsenz von Bild und Text durchkreuzt die Grenze
von informierenden und literarischen Texten. Im Kontext solcher Praktiken
ändert sich der Status der Fiktion, die Funktion von ästhetischer
Literatur, aber auch der Autorschaft (S. 50).
Literatur gegen literarische Massenkultur
Hier ließe sich ein Modell der medial konstruierten Weltwahrnehmung
entwerfen, das auf eine völlig neue Funktion der Literatur jenseits
ästhetischer Autonomie verweisen würde. Dieser Fragestellung wird
jedoch nicht weiter nachgegangen. Denn das eigentliche Ziel des Verfassers besteht in
der Erarbeitung einer Negativfolie, auf der sich die ästhetische Leistung Fontanes
so deutlich wie möglich abzeichnen kann. Zwar grenzt er sich wiederholt ab
gegenüber kulturkritischen Klagen über den Verfall bürgerlicher
Öffentlichkeit im Zuge der Etablierung einer literarischen Massenkultur, aber sein
eigenes argumentationsstrategisches Interesse liegt gar nicht so weit davon entfernt: Ihm
geht es um die Konstruktion eines ästhetisch minderwertigen Klischees, das von
künstlerischer Seite Innovation provoziert. "Modernisierung auf der Ebene
des Systems", so die These, "bedeutet noch nicht Modernisierung auf der
Ebene der Texte" (S. 65). Die Konstitution literarischer Massenkommunikation
erzeuge zunächst nur anachronistische, obsolete und zurückgebliebene
Werke und bringe erst in einem zweiten Schritt in Absetzung von den kommerziellen
Ansprüchen des Marktes Texte hervor, die "literarästhetischen
Ansprüchen" (ebd.) genügen.
Reflexivität als Kriterium für "echte" Literatur
Die Literaturtheorie, die diese Dynamik von Schema und Innovation, von Norm und
Abweichung zu denken erlaubt, ist offenbar eine modernistische. Ihr Ursprung liegt in
einer Theorie literarischer Evolution, wie sie der russische Formalismus (Tynjanov,
Ejchenbaum) entworfen hat. Helmstetter bezieht sich in erster Linie auf die
Kultursemiotik Jurij Lotmans, der – vermittelt über Pavel Medvedev – kritisch an
die formalistische Tradition anknüpft. Dessen Auffassung vom literarischen Werk
als ‘sekundärem modellbildenden System’ setzt er kühnerweise gleich mit
Gérard Genettes Konzeption einer ‘Literatur 2. Grades’, so daß sich
zwangsläufig eine wertende Dichotomisierung ergibt: ‘echte’ Literatur
wäre demgemäß nur diejenige, die sich durch die Ausbildung einer
reflexiven Textebene von einem literarischen ‘Untergrund’ abhebt, der selbst gar nicht
der eigentlichen Literatur zuzurechnen ist. Mittels dieser eristischen Argumentation
wird das Gros der in den Zeitschriften veröffentlichten Texte aus dem Bereich der
Kunst ausgeschlossen – erst diejenigen Werke, die ihre eigenen
Kommunikationsbedingungen reflektieren, entsprechen dem Niveau des
ausdifferenzierten, autonomen Literatursystems in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts.
Innovation wird also identifiziert mit Reflexivität, und dadurch
wird die Verbindung des literaturwissenschaftlichen Systembegriffs mit dem der
Systemtheorie ermöglicht. Die Ausdifferenzierung des sozialen Systems
‘Literatur’ fordert demgemäß die Reflexivität der literarischen Texte,
und wo diese nicht anzutreffen ist, handelt es sich im Grunde nicht mehr um Literatur.
Hier liegt offenbar eine elegantere Variante des alten Zwei-Schichten-Modells von
‘Kunst vs. Trivialliteratur’ vor, die die eigenen Wertkritierien nicht zu hinterfragen
bereit ist. Deutlich wird dies an der schwankenden Verwendung des Merkmals
‘ästhetisch’, das teils deskriptiv, teils wertend gebraucht wird. So ist einerseits die
Rede von "ästhetischer Literatur" (S. 44) im Sinne der sich
ausdifferenzierenden ‘schönen Künste’, andererseits wird
‘ästhetisch’ in Opposition zu ‘kommerziell’ verwendet (vgl. S. 65), als ob
Literatur, die in den Warenverkehr eintritt (und welche täte das nicht!), keinen
ästhetischen Anspruch mehr erheben dürfte.
Trivialliteratur im Kampf der Geschlechter
Helmstetter unterliegt in dieser Frage einem autonomieästhetischen Vorurteil,
das befördert wird durch einige zweifelhafte Gewährsmänner
für die Beurteilung der Familienblattliteratur. Bei den in den 80er Jahren
auftretenden "Kritikern der Zeitschriftenkultur" (S. 70), die er zustimmend
zitiert, handelt es sich zumeist um Vertreter des Frühnaturalismus wie die
Brüder Julius und Heinrich Hart, die eine Karikatur der zeitgenössischen
Literatur zeichnen, um die eigene Programmatik und Produktion besser exponieren zu
können. Diese Stimmen als auch nur einigermaßen neutrale Beschreibung
des Sachverhalts zu behandeln, ist schlechterdings naiv. Bedenklich wird es aber, wenn
zu dem Zerrbild der Unterhaltungsliteratur auch noch die dazugehörigen Mythen
reproduziert werden. So entwirft der Verfasser ausgehend von der Tatsache, daß
die Leserschaft für Belletristik zum Großteil weiblichen Geschlechts
gewesen ist – dies allerdings nicht erst "durch die periodische
Familienpresse" (S. 76), sondern bereits seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 7 –, ein
Geschlechterkampfszenario, das dem weiblichen Publikum die "Trivialisierung
der Literatur" (S. 77) zur Last legt. Im Bündnis mit den Leserinnen
"kastrieren" die Zeitschriften "die imaginative Bewegungsfreiheit der
Autoren" (S. 72). Gegen diese Kastrationsdrohung sich zu behaupten, setzt einen
wahrhaft heroischen Kampfesmut voraus, dem sich nur wenige der männlichen
Autoren gewachsen zeigen – geht es doch darum, "in einer (kunst-)fremden
Umwelt – ökonomisch und diskursiv – zu überleben" (S. 247).
Verbindung zur Künstlerästhtik der Moderne
Die Reintegration des kanonisierten Autors in die zeitgenössische literarische
Kommunikation mit dem Ziel, ihn abermals zu ‘reautonomisieren’, erweist sich als gar
nicht so verborgene Heroisierung, wie sie die Künstlerästhetik der
Moderne spätestens seit Baudelaire als wichtiges Merkmal ihres Selbstbildes
hervorgebracht hat. "Die wenigen kanonisierten Autoren dieser Zeit werden
vielleicht nur darum heute noch erinnert und gelesen, weil sie sich den Normen dieses
[weiblichen!] Publikums, mit dem sie sich arrangieren mußten, nicht ausgeliefert
haben" (S. 44). Nur derjenige, der sich aus dem amorphen Sumpf der
Massenliteratur auf den Höhenkamm der Kunst emporarbeitet, dem es gelingt,
sich dem weiblichen Publikum zu "defamiliarisieren" (S. 86), hat Anspruch
auf Perennität. "Was immer heute unter literarästhetischen
Gesichtspunkten noch beachtlich und interpretatorischer Aufmerksamkeit würdig
erscheint, ist unter diesen Bedingungen und wohl auch gegen sie entstanden" (S.
75). 8
Die doppelte Lesbarkeit Fontanes
Der tautologische Zirkel des Kanonischen – was Gegenstand der Interpretation ist,
ist kanonisch, und was kanonisch ist, bedarf der Interpretation – legitimiert die
interpretatorische Vorgehensweise, die Helmstetter im dritten und umfangreichsten
Kapitel seiner Untersuchung (S. 97–234) anhand von vier Erzähltexten
(L’Adultera, Irrungen, Wirrungen, Stine und Effi Briest) verfolgt. Seine grundlegende
Hypothese besteht darin, daß Fontane diesen Werken eine ‘doppelte Codierung’
unterlege, die sie sowohl naiv-realistisch als auch reflexiv-modern lesbar mache. Der
Autor "rechnet mit einem geteilten Publikum und zielt auf doppelte Lesbarkeit;
im Oberflächentext versteckt sich ein zweiter, der die Naivität der
stereotypen Elemente unterläuft, und das Verhältnis der beiden Schichten
erzeugt eine Ironie, die die trivialen Elemente auf Distanz bringt und
umfunktioniert" (S. 109). Große Teile der bisherigen Forschung haben, so
der Verfasser, die Werke Fontanes immer nur mit Hilfe des ‘realistischen’ Codes
gelesen und sie damit im Grunde der zeitgenössischen ‘Trivialliteratur’
gleichgemacht; sein Ziel sei es nunmehr, eine moderne, die reflexiven Strukturen
berücksichtigende, Lektüre zu präsentieren.
Dementsprechend
konzentrieren sich die Textinterpretationen über weite Strecken auf
wahrnehmungs-, sprach- und medienkritische Momente und laufen häufig auf die
Dekonstruktion einer unterstellten ‘trivialen’ Primärintention durch das
Herausarbeiten einer ‘ironischen’ Sekundärintention hinaus. L’Adultera wird
aufgefaßt als "Persiflage des gefühlsintensiven
Unterhaltungsromans" und als "historische und systematische
Selbstreflexion der Literatur als Kunst" (S. 109) mit dem Ergebnis, die
Erzählung sei "eine einzige Reflexion über den Unterschied von
Darstellung und Dargestelltem (‘Kunst’ und ‘Leben’), über Typik und
Serialität von Bildern und die Frage nach dem Original – dem
‘Musterstück’ der ‘Gattung’, der Matrix der Serie" (S. 112).
Das Schema und der Einzelfall
Die "Dialektik von Typus und Individuum" wird darüber hinaus als
Grundthema aller behandelten Texte herausgestellt, "und ein durchgehendes
Verfahren ist dabei die Bloßlegung des Schematischen, die stets auch als Beitrag
zur Selbstthematisierung der realistischen Poetik zu betrachten ist" (S. 118). In
Irrungen, Wirrungen werde diese Dialektik gegenüber L’Adultera noch weiter
getrieben: "Jeder Einzel- und Ausnahmefall sieht sich mit dem typisierenden
Schema konfrontiert und behauptet seine Differenz zum Üblichen" (S.
128). Stine wiederum sei "eine extreme, geradezu groteske Fehlbesetzung des
Schemas, das seinen Schematimus bloßlegt, mit dessen Elementen nur noch
gespielt wird" (S. 151f.). Doch das Programm von Schema und Einzelfall wird
nicht nur reflexiv aufgefaßt, sondern durchaus auch inhaltlich verstanden, also
vom ‘discours’ auf die ‘histoire’ expandiert. Damit rücken Helmstetters
Interpretationen wieder recht nahe an die traditionelle Forschung heran, für die
Fontanes ‘Humanismus’ ganz wesentlich in der Betonung des Individuellen
gegenüber dem Allgemeinen der gesellschaftlichen Verhältnisse liegt.
Insbesondere der Abschnitt zu Effi Briest macht deutlich, daß es häufig
lediglich der Grad der Abstraktion ist, der die ‘ironische’ von der ‘trivialen’
Lektüre unterscheidet:
Effi Briest: Die Problematik von Gesellschaft und Individuum
Effi Briest untersucht das Problem des sozialen – und damit auch ‘Menschen’
betreffenden oder beanspruchenden – Handelns auf einer Ebene der Abstraktion,
die von den eher schon exotisch erscheinenden konkreten Anlässen
(wilhelminische Sexualmoral, Duell-Praxis etc.) abzusehen erlaubt (S. 164).
Doch sonderlich konkret ist die Rede vom Allgemein-Menschlichen, das sich hinter
den sozialen Konfliken verberge, schließlich auch nicht. Der wesentliche
Unterschied besteht darin, daß Helmstetter die vermeintlich überzeitlichen
Fragen diskursiv rückbindet und Fontanes Roman mit der zeitgenössischen
Soziologie zusammenführt, deren Grundproblem ebenfalls die Priorität von
Gesellschaft oder Individuum bildet. Zu diesem Problem nehme Effi Briest Stellung,
diesmal allerdings nicht nur durch Reflexivität, durch Bewußtmachung
eingespielter Denkgewohnheiten, sondern durch die narrative Lösung der
epistemologischen Aporie:
Die ‘handlungstheoretische’ Erkenntnisleistung des Romans besteht darin, die
begrifflich kaum zu erfassende Ambiguität zwischen Aktivität und
Passivität des Handelns, also der Selektion von Handlungen und Rollen und
die sozialen und psychischen Bedingungen und Bestimmungen,
Wahlmöglichkeiten und Beweggründe des Handeln [sic] mit
spezifisch erzählerischen Mitteln aufzuzeigen (S. 197).
Die höere Wahrheit der Kunst
Festzuhalten bleibt, daß zumindest dieses Werk Fontanes sich nicht in der
Reflexion narrativer Schemata erschöpft, sondern eine kognitive Leistung
für ein anderes gesellschaftliches System, dasjenige der Wissenschaft, erbringt.
Doch wie der Verfasser selbst schreibt: "Damit ist nur in einem anderen
Vokabular formuliert, was von je her die Effi Briest-Interpretation beschäftigt
hat" (S. 193f.). Indem sie auf dem "spezifische[n] Erkenntnispotential [...]
der Fiktion" (S. 198) insistiert, bewegt sich die Untersuchung wieder auf dem
Terrain der Theorie des ‘programmatischen Realismus’, der – wie schon Ulf Eisele
gezeigt hat – das Postulat epistemologischer Leistung der Kunst von der
Identitätsphilosophie des deutschen Idealismus ererbt hat. Das ästhetische
Werk, so Helmstetters These, hat einen eigenen, höherwertigen Zugang zur
Wahrheit, und diese poetische Wahrheit steht jenseits aller (instrumentellen) Vernunft,
sie ist "nicht aus dem erzählten Geschehen, den diskursiven
Deutungsmöglichkeiten und den alltagsweltlichen Selbstverständlichkeiten
ableitbar" (S. 233f.). Deshalb sei das Kunstwerk in der Lage, die
"fachspezifische[n] Interessen und Perspektiven" zu überwinden, die
"notwendigerweise zu Fragmentierungen des Menschen führen" (S.
234). Die Kunst als Heimstatt des ‘ganzen Menschen’ – mit dieser hehren Auffassung
kehrt der Verfasser heim in den Hort klassisch-idealistischer Ästhetik.
Eine Poetik der Arabeske
So verwundert es auch nicht, daß das poetologische Prinzip, aus dem
Helmstetter die grundlegende Verfahrensweise Fontanes ableitet, in die ‘Kunstperiode’
zurückweist. Im Anschluß an Arbeiten Gerhart
von Graevenitz’ 9 versucht er, Fontanes Texte im
Zusammenhang einer "Poetik der Arabeske" zu verstehen. Die Montage und
Variation von narrativen Schemata und figuralen Stereotypen betrachtet er als
Pluralisierung der Formen, die "die Abhängigkeit der Inhalte von den
Formen und Formaten" (S. 124) herausstelle und dadurch eine ‘meta-triviale’
Literatur ermögliche. Arabesk sei Fontanes Erzählweise zu nennen, weil
sie "den Erzählgegenstand in der Perspektivierung durch unterschiedliche
Formen und Medien der Kunst auffächert und die erzählerische
Hauptsache durch eine Vielheit von Auffassungs- und Darstellungsweisen nicht nur
umrankt, sondern eigentlich erst konstituiert" (S. 125). Das unterscheidende
Merkmal dieser Spielart der Arabeske gegenüber der romantischen liege im
Anschluß an das gesellschaftlich dominante ‘realistische’ Literatursystem und
damit in der bereits erwähnten doppelten Lesbarkeit der Texte. Die ‘realistische
Arabeske’ verkörpere "die Umkehrung aller programmrealistischen
Grundsätze vom Primat der darzustellenden Wirklichkeit über die
Wirklichkeit der Darstellung" und zugleich auch die "Rettung der
Wirklichkeit vor der Naivität ihrer unbedingten alltagsweltlichen
Auffassung" (S. 161).
Solcherart entsteht eine modernistische Linie der deutschen
Literaturgeschichte, die von der Romantik über Fontane ins Fin de siècle weist
und die eine gewisse Plausibilität für sich in Anspruch nehmen darf
(schließlich sind auch noch Texte der ‘frühen Moderne’ wie Carl Einsteins
Bebuquin oder Kurt Schwitters’ Auguste Bolte als ‘meta-trivial’ zutreffend
charakterisiert). Ob allerdings der Begriff der Arabeske der geeignete zur Beschreibung
dieser Linie ist, sei dahingestellt.
Wichtige Erkenntnisse, aber zu starres Interpretationsmodell
Helmstetters Fontane-Interpretationen sind ein exemplarischer Fall dessen, was Paul
de Man die – für ihn übrigens unvermeidliche – Dialektik von ‘blindness’
und ‘insight’ genannt hat. Die Korrektur der sicherlich korrekturwürdigen
Forschung gelangt zu neuen und wichtigen Erkenntnissen über die
Kompositionsweise der Fontaneschen Texte jenseits des ‘realistischen’ Paradigmas,
zugleich verstellt jedoch das Festhalten am Modell der Textinterpretation die Einsicht in
die Voraussetzungen der eigenen ‘Lektüren’. Diese liegen in der
Historizität des Kanonisierungsprozesses selbst. Denn
Fontane wurde ja nicht, wie Keller, Storm und Meyer, im Kontext des
‘realistischen’ Paradigmas kanonisiert, 10 sondern
zunächst von den Berliner Naturalisten um die ‘Freie Bühne’ (Brahm,
Schlenther u.a.) als einer der Ihren vereinnahmt, um schon
bald von der Jugendstilbewegung – etwa im Umkreis der Kunstzeitschrift Pan, in der
Fontane eines seiner letzten Werke publizierte – in Anspruch genommen zu werden. 11 Daher ist es alles andere als ein Zufall, wenn Helmstetter, wie
oben dargelegt, in seinem Bemühen um die Abgrenzung Fontanes vom
‘programmatischen Realismus’ gerade auf zeitgenössische
Gewährsmänner aus diesen Gruppen zurückgreift. Indessen würde die Einsicht in die Relationalität der
eigenen Interpretation den Glauben an ihre Wahrheit unterminieren, und deshalb ist sie
innerhalb des ‘Sprachspiels’ der Textinterpretation nicht möglich – mit Stanley
Fish zu sprechen: "In short, we try to persuade others to our beliefs because if they
believe what we believe, they will, as a concequence of those beliefs, see what we
see". 12
Realismus im Kontinuum ästhetischer Autonomie
Die Konstruktion einer modernistischen Linie in der deutschsprachigen Literatur
des 19. Jahrhunderts unter dem Label einer ‘Poetik der Arabeske’ dient Helmstetter zur
Etablierung eines spezifisch ‘poetischen’ Realismus in Abgrenzung zur
nachmärzlichen Literaturtheorie des ‘programmatischen’ Realismus, und diese
Differenzierung, die zugleich eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach dem
Verhältnis zwischen Theorie und Praxis der deutschen Literatur in der zweiten
Jahrhunderthälfte geben will, wird im vierten und letzten Kapitel des Buches (S.
235–272) in Auseinandersetzung mit den exponiertesten Forschungsarbeiten
(Brinkmann, Preisendanz, Eisele, Plumpe) ausgeführt. Dabei zeigt sich, daß
die These, "die Literatur der realistischen Periode" sei "bereits eine
Etappe der Moderne" (S. 235), genau dann plausibel zu machen ist, wenn die
entsprechenden Werke in ein Kontinuum ästhetischer Autonomie seit der
‘Kunstperiode’ einzureihen sind, das durch die pragmatisch-operationale
Literaturauffassung des Vormärz lediglich unterbrochen wurde.
Klassischer Autonomiebegriff
Zur Begründung dieses Kontinuums schließt der Verfasser insbesondere an
Wolfgang Preisendanz’ Interpretation des zeitgenössischen Begriffs der
‘Verklärung’ an. Preisendanz sieht dessen zentrale
Funktion nicht in der ideologisch verstandenen ‘Beschönigung’ des sozialen
Lebens, sondern im Insistieren auf der Eigenständigkeit des künstlerischen
"Weltverständnisses". 13 Helmstetter legt mit
Recht Wert darauf, daß es sich hier nicht um eine substantialistische, sondern um
eine differenzielle Bestimmung der Besonderheit des literarischen Diskurses handele.
Dieser werde nicht aus allen gesellschaftlichen Zusammenhängen eskamotiert,
vielmehr sei gerade die Autonomie der Literatur gesellschaftlich funktional – nicht im
Sinne einer speziellen Leistung für andere Systeme, sondern gerade in ihrer
Funktion, keine Leistung mehr für andere Systeme zu erbringen. In der bisherigen
Fontaneforschung habe man "entweder die Autonomie hypostasiert (und dadurch
die externen Konditionalisierungen verdeckt), oder sie ignoriert und dadurch
heteronomen Kriterien unterstellt (und auf externe Konditionalisierungen
reduziert)" (S. 243).
Seinem Selbstverständnis
nach schließt Helmstetter an Luhmann an, der ästhetische Autonomie nicht
als soziale "Isolierung und Unbeeinflußbarkeit" schlechthin versteht,
sondern als "Beeinflußbarkeit nach systemeigenen Regeln" 14 – doch in der Praxis wird deutlich, daß sein
Autonomiebegriff noch stark mit demjenigen der klassischen Ästhetik tingiert ist,
etwa wenn er von ästhetischer Autonomie als "Emanzipation oder
Distanzierung von ideologischen Prämissen" spricht, vor allem aber, wenn
er sie "auf der Ebene einiger singulärer Werke" (S. 92f.) verankert.
Autonomie ist aber gerade keine intrinsische Eigenschaft einzelner Texte, sondern eine
Zuschreibung, die durch das Sozialsystem ‘Literatur’ erfolgt.
Helmstetters Autonomiebegriff und die Folgen
Dem substantialistischen Autonomiebegriff ist es auch geschuldet, daß
Helmstetter in der Entstehung literarischer Massenkommunikation zunächst nicht
mehr zu erblicken vermag als "die Herausbildung eines ökonomischen
Sektors" (S. 88). Daß
es sich bereits beim ‘programmatischen Realismus’ der Zeit nach 1848 um den
Versuch gehandelt haben könnte, "die Ausdifferenzierung der Literatur
gegen Prozesse der Entdifferenzierung wieder zur Geltung zu bringen" 15 und damit die Reautonomisierung des Sozialsystems ‘Literatur’
zu betreiben, und daß gerade diese Literaturtheorie als Reflexionsmedium der
zeitgenössischen Literaturproduktion von Marlitt bis Raabe und von Freytag bis
Ebers gedient haben könnte 16 – dieser Gedanke bleibt
einer werkzentrierten Auffassung des Begriffs literarischer Autonomie verschlossen.
Dabei wäre er durchaus kompatibel mit Helmstetters an
Fontane dargelegter These einer zunehmenden Reflexivität der literarischen
Werke – allerdings nur dann, wenn man nicht die Heteronomie des ‘programmatischen
Realismus’ gegen die Autonomie des ‘poetischen Realismus’ ausspielt, sondern ihre
Beziehung verzeitlicht: Fontanes ‘doppelt codierte’ realistisch-reflexive Werke
wären dann verstehbar als paradigmatisches Symptom der Ausdifferenzierung des
bürgerlichen zum avantgardistischen Literatursystem, die von der entstehenden
Massenkommunikation induziert wird und vor allem durch einen
"Komplexitätsgewinn durch erhöhte Reflexivität"
gekennzeichnet 17 ist. Innerhalb dieses Modells hätte auch
die illusionistische Literatur des ‘programmatischen Realismus’ einen Ort jenseits ihrer
ästhetischen Verurteilung – als Beginn der massenmedialen
Simulationsmaschinerie, die im 20. Jahrhundert durch Film, Radio und Fernsehen
immer weiter perfektioniert wird.
Dr. Günter Butzer
Justus-Liebig-Universität
Institut für Neuere deutsche Literatur
Otto-Behaghel-Str.10B
D-3534 Gießen
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der deutschen Literatur (IASL) erscheinenden Druckfassung.
Ins Netz gestellt am 26.10.1999.
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