Wagner über Nekula: Franz Kafkas Sprachen

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Benno Wagner

Linguistische Aufklärung.
Marek Nekula beschreibt
Franz Kafkas Sprachen

  • Marek Nekula: Franz Kafkas Sprachen. "...in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes...". Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2003. 397 S.
    Kart. EUR 98,-.
    ISBN 3-484-73061-7.


Mächtiger als in vergleichbaren Fällen schiebt sich zwischen das Werk Franz Kafkas und das Feld seiner historischen Entstehungsbedingungen die Person des Autors selbst. Schon bald nach der >Entdeckung< Kafkas in der Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg beklagte Friedrich Beißner die Methodenvergessenheit der literaturwissenschaftlichen Annäherungen an Kafkas Texte. Zudem ragte aus diesen Texten in die theoretische Leere der Germanistik vor dem semiotic turn eine Vielzahl hermeneutischer Köder – literarisch transkribierte Biographeme, Theoreme, Philosopheme – die von der Deutungsgemeinschaft dankbar als Lektüre-Schlüssel aufgenommen wurden. Da zudem Quellenbestände wie die Briefe oder Tagebücher, die inzwischen längst als integrale Bestandteile des Kafka'schen Schreibkontinents kartiert worden sind, als vermeintlich außerhalb des Werkes stehende, mithin authentische Quellenbestände gelesen wurden, resultierte aus den nun zahlreich nachzuweisenden Übereinstimmungen zwischen Leben und Werk eine florierende Kafka-Folklore, ein Wissen nicht über Kafkas literarische Welt, sondern aus ihr. Eingebettet in diese Folklore-Schicht liegt bis heute der größte Teil des positiven Wissens, das Kafkas Werk mit seinen historischen Kontexten verbindet.

Vor diesem Hintergrund ist Marek Nekulas neues Buch vorzustellen. Unter dem Titel Franz Kafkas Sprachen. "... in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes ..." verfolgt Nekula ein Projekt, dem man sich zunächst ebenfalls mit einem Kafka-Zitat annähern könnte: "zum ersten Mal in der Menschenzeit ein sicheres Fundament für einen neuen Babelturm [zu] schaffen." Denn gerade im Hinblick auf das Sprachenmilieu, in dem Kafka lebte, und auf die Sprachkompetenzen, über die er verfügte, haben sich Fakten und Folklore derart gegenseitig durchdrungen, daß hier ein sprachwissenschaftlich fundierter Neuansatz bis heute ein unbedingtes Desiderat geblieben ist. Wenn Nekula nun einen solchen Neuansatz vorlegt, so zeichnet sich dieser nicht zuletzt dadurch aus, daß er sich programmatisch den Verlockungen des Babel-Bildes entzieht und sich jener totalisierenden Schlussfolgerungen und Deutungen enthält, die immer nur neue Verwirrung nach sich ziehen. "An die Stelle verbreiteter Mythen" soll ein "bewußt deskriptives Buch" gesetzt werden, "das sich mit dem Phänomen der sprachlichen und kulturellen Vielfalt im Böhmen und Prag des ausgehenden 19. und angehenden 20. Jahrhunderts an einem prominenten Beispiel befasst" (S. xi).

Abgesunkene Mythen

Bei diesen "Mythen" handelt es sich recht eigentlich nur noch um automatisierte Metaphern, um Stereotype einer Forschung, deren Jargon vor den Toren der Sprache allzu oft halt gemacht hat. So wurde die sprachliche und kulturelle Mannigfaltigkeit der Lebenswelt Kafkas auf den Topos des >doppelten< oder >dreifachen Ghettos< reduziert (S. 1), während der Topos der >deutschen Sprachinsel< die sprachlichen Besonderheiten des Prager Deutsch und sodann des literarischen Stils Franz Kafkas auf den Punkt bringen sollte (S. 81). Neben solchen oft nur gedankenlosen Vereinfachungen führt Nekula auch möglicherweise nicht ganz so unreflektierte Verzerrungen vor. Im Frühjahr 1963 hatte die internationale Konferenz von Liblice, ein wichtiges kulturelles Ereignis im Vorfeld des Prager Frühlings, Kafka als wenn schon nicht sozialistischen, so doch immerhin tschechischen Autor in die literarische Diskussion der damaligen CSSR gebracht. So erschien 1964 eine tschechische Übersetzung von Wagenbachs Franz Kafka (1963), die etwa Kafkas Vater Hermann von einem Jungen, "dessen Umgangssprache damals eher tschechisch war", in ein Kind verwandelte, "dessen Muttersprache tschechisch war".

Im gleichen Jahr widerlegte zwar eine Veröffentlichung Unbekannte[r] Briefe Franz Kafkas in der Zeitschrift Plamen die zuvor von J. Louzil geäußerte Behauptung, daß Kafkas tschechischsprachige Briefe an die Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt seine "fast vollkommene Beherrschung der tschechischen Sprache beweisen", indem sie diese Briefe als Übersetzungen deutscher Vorlagen aufwies. Jedoch gab es in diesen Abdrucken wiederum "53 Abweichungen sprachlicher Natur gegenüber den Originalen", wobei "es sich in den meisten Fällen um Nachbesserungen und zwar nicht nur im orthographischen Sinne" handelte (S. 4 ff.). Während es sich in diesem Falle offensichtlich um gezielte Retuschen am Autor-Bild handelt, hat die eher "pessimistische" Beurteilung der Kafka'schen Tschechischkenntnisse in der deutschen Ausgabe der Briefe an Ottla und die Familie andere Gründe: "In dieser Edition findet man nämlich zahlreiche Sprachfehler, die aber nicht von Kafka stammen, sondern durch den Herausgeber in den Text gekommen sind. [...] Diesmal stehen aber die Deformationen des Originals unter einem anderen Vorzeichen als in der tschechischen Edition" (10 f.).

Die Ordnung des Breies

Nekulas Neufundierung bewegt sich innovativ im Dreieck von Linguistik, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft, verfügt aber zugleich über eine solide empirische Basis. Der Verfasser war im Rahmen der Kritischen Kafka-Ausgabe mit textologischen Arbeiten an Kafkas tschechischen Texten befaßt, in deren Rahmen er die in der Bodleian Library (Oxford) aufbewahrte Korrespondenz der Familie Kafka auf der Basis der Originaltexte auswertete; zudem erschließt seine Untersuchung auch einige bislang unberücksichtigte archivalische Quellen, so etwa ein Protokoll der jüdischen Gemeinde oder die für Kafkas Jahrgang relevanten Schulkataloge im Prager Stadtarchiv sowie umfangreiche Quellen aus der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt im Bestand >Statthalterei< des tschechischen Staatsarchivs.

Weshalb eine Kombination von methodischer Offenheit und empirischer Fundierung in diesem Zusammenhang unabdingbar ist, verdeutlicht bereits die einführende Skizze des geschichtlichen und politischen Rahmens der Sprachensituation in Kafkas Böhmen (Kap. 2). Sie kündigt an, womit man es in den folgenden Kapiteln zu tun haben wird: "Ein Brei aus Sprachen, nicht ein System von Sprachen [...]". 1 Deutsch, Tschechisch, Jiddisch, später zunehmend auch Hebräisch, stehen nicht nur untereinander in einem Verhältnis wechselseitiger Einflüsse und Interferenzen, sondern sie weisen (zum Teil infolgedessen) jeweils in sich eine heterogene Menge räumlicher, zeitlicher und funktionaler Schichten auf.

Unter diesen Bedingungen erweist sich die Entscheidung für einen explizit kommunikationstheoretischen Ansatz, der nicht nur "die Sprache als Code, sondern auch die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Verwendung" in den Blick nimmt (S. ix), als methodischer Schlüssel. Die Sprachenverhältnisse innerhalb der Familie Kafka, bisher eine wohlfeile Ressource zur Begründung der unterschiedlichsten Lektüren der Identität Franz Kafkas, werden in den beiden folgenden Kapiteln erstmals einer präzisen, stellenweise geradezu mikroskopischen Analyse unterzogen. Der Leser wird in den Geburtsort des Vaters, das südböhmische Dorf Osek, geführt und erhält einen Einblick in die unterschiedlichen "Orientierungspunkte, Zentren und Lebensrhythmen" der beiden Religionsgemeinschaften (Katholiken und Juden).

Er begleitet Hermann Kafka durch die Schul- und Militärzeit, verfolgt seine berufliche Entwicklung und erlebt ihn als reisenden Absender von Liebesbriefen an Kafkas Mutter. Daß Hermann diese Briefe mithilfe eines "Briefstellers", also eines Bausatzes mit gleichermaßen persönlichen wie stilistisch eleganten Formulierungen verfaßt hat, spricht dabei keineswegs für die von Nekula entkräftete These einer Dominanz des Tschechischen bei Hermann Kafka. Vielmehr handelt es sich dabei um ein damals verbreitetes Verfahren – ein Verfahren, das sein Sohn Franz eine Generation später übernehmen sollte, mit dem Unterschied, daß ihm die gesamte Briefliteratur des 19. Jahrhunderts als Bausatz dienen würde. Schließlich wird der Leser in den Prager Haushalt der Kafkas geführt, der mit seinem Tschechisch sprechenden Personal als vollkommen zweisprachige Umwelt für den kleinen Franz fungiert.

Im anschließenden, Franz Kafkas Deutsch gewidmeten Kapitel verdeutlicht vor allem die Entzauberung der besonders folklore-affinen Floskel vom Einfluss des "Prager Deutschen" auf Kafkas literarischen Stil, wie sehr die Sprache gewissermaßen zum Orient einer folklorisierten Kafka-Forschung hatte werden können. Hier genügt bereits der Hinweis auf einige wenige sozial- und kulturgeschichtliche Elementaria (Prag war als industrielles, administratives und kulturelles Zentrum ein Verteiler von Migrations- und Kommunikationsströmen), um zu einer nach allem verblüffend selbstverständlichen Schlußfolgerung zu gelangen: "Abgesehen davon, dass weder die Eltern und Dienstboten noch die meisten Kommilitonen >ansässige Prager< waren, hat die Bezeichnung >Prager Deutsch< sowohl diachron als auch synchron [...] so viele mögliche Referenten, dass man sie [...] lieber nicht benutzen sollte" (S. 88).

Franz Kafkas Tschechisch:
Annäherungen im Teilbau-Verfahren

Das für die Hauptfrage des Buches, Kafkas Verhältnis zur tschechischen Sprache und Kultur, aufschlußreichste Kapitel beleuchtet seine Schulzeit. Hier wird die doppelte Politisierung der Sprache – als kulturelle Folie für die Herausbildung nationaler Identitäten und als Feld des hieraus resultierenden Nationalitätenkampfes – in ihrer Entwicklung während des 19. Jahrhunderts nachgezeichnet. Die böhmischen Schulen wurden zunehmend zu Stützpunkten im Kampf um die kulturelle Hegemonie bzw. Autonomie der einen oder anderen Nation, die Angabe der individuellen Sprachkompetenzen, das >Bekenntnis<, verwandelte sich – begünstigt durch die Homonymie (>einbekennen< war der amtssprachliche Ausdruck für >angeben<) – von einem Vorgang administrativer Verdatung zu einem quasi-religiösen Akt, die Wahl der Schule wurde, jedenfalls in den national flexiblen Familien, zu einer Wette auf die politische Zukunft.

Und je mehr sich die Zentralregierung aus diesem Konfliktfeld zurückzog, je mehr Freiheiten den Bevölkerungen im >Völkerkerker< Habsburg eingeräumt wurden, desto heftiger durchzogen lokale Konflikte um nationale Entscheidungen die Familien und Gemeinden. Was Franz Kafka anbelangt, so wurden ihm sowohl in der deutschen Knabenschule in Prag I als auch später im Deutschen Staatsgymnasium Prag-Altstadt wohl nicht zuletzt deshalb durchwegs ausgezeichnete Leistungen bescheinigt, weil er aufgrund der bilingualen Verhältnisse im Haushalt seiner Familie bereits Grundkenntnisse mitbrachte und der Unterricht, wie Nekula durch eine Analyse der Lehrbücher nachweist, auf solche Vorkenntnisse auch zugeschnitten war. Umgekehrt war es der Schulunterricht, der Kafka das Tschechische als ">referentiale<, Maßstäbe setzende" Sprache 2 erschloß: als Medium einer national-kulturellen Reterritorialisierung, der im Ausgang des 18. Jahrhunderts einsetzenden "nationalen Wiedergeburt" des tschechischen Volkes, und zugleich als Grundlage für eine Zeit seines Lebens anhaltende umfassende Rezeption der tschechischen Politik und Kultur.

Die Stärke der Nekula'schen Neufundierung besteht in der Befolgung jenes Teilbau-Prinzips, das in Kafkas chinesischem Bau-Protokoll als Realsubstrat aller Begründungsmythen fungiert. Die folgenden Kapitel spielen die verschiedenen Kommunikationssituationen durch, in denen Kafka auf die Verwendung des Tschechischen angewiesen war, wobei die Analyse freilich jedes Mal wieder bei null beginnt, also auf die Voraussetzung einer >starken< Ausgangsthese verzichtet. Vielmehr stützen sich die jeweiligen Befunde gegenseitig und ergeben so ein differenziertes Bild des Spektrums, aber auch der Grenzen der tschechischen Sprachkompetenz Kafkas. So rekonstruiert das siebte Kapitel eine Serie mündlicher Kommunikationssituationen, in denen sich Kafka mehr oder weniger täglich und ganz selbstverständlich des Tschechischen bedient hat. Dabei verdeutlichen einige schriftlich überlieferte Ausnahmesituationen wie Friedensverhandlungen mit dem in einen spontanen Streik getretenen Personal im Geschäft des cholerischen Vaters (S. 188) oder Preisverhandlungen mit Pariser Prostituierten (S. 192), daß die symbolische Dimension des Tschechischen als Sprache des Anderen, sei es auf ernste oder auf komische Weise, stets mitreflektiert wird.

Der – aktive oder passive – Gebrauch des Schrifttschechischen spielte vor allem in Kafkas beruflichem Alltag bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt (= AUVA) für das Königreich Böhmen in Prag eine Rolle. Kafka war im Sommer 1908 in die Anstalt eingetreten und seit 1910 als Konzeptsbeamter in erster Linie für die juristische Beäußerung von Einsprüchen (Rekursen) der versicherten Unternehmer gegen die Einstufung ihrer Betriebe in die statistischen Gefahren(= Prämien)klassen zuständig. Während der ökonomische bzw. soziale Konflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, dessen Entschärfung ja der ursprüngliche Zweck der Arbeiterversicherung war, von Beginn an den Diskurs dieser sozialen Einrichtung dominiert hatte, hat der nationale Konflikt bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs nur wenige Spuren in den Akten der Anstalt und der einschlägigen sozialpolitischen Debatten hinterlassen.

Was die Sprachenregelung anbetrifft, so gab es innerhalb der AUVA eine offenbar funktionierende Anpassung der äußeren und inneren Amtssprache an die nationalsprachlichen Gegebenheiten des jeweiligen Versicherungs- bzw. Einspruchsfalls. Inwieweit Kafka als leitender Beamter der Rekursabteilung an der Beäußerung von in tschechischer Sprache verhandelten Einsprüchen beteiligt war, ist allerdings nicht bekannt. Eine Geschichte der Prager AUVA, die diese und ähnliche Fragen zu beantworten hätte, erforderte die systematische Auswertung sämtlicher überlieferter Aktenbestände sowie der relevanten sozial- und verwaltungsrechtlichen Kontexte. Insofern sind Nekulas exemplarische Analysen einzelner Rekursverfahren zwar aufschlußreich für die jeweilige Handhabung der Amtssprache, im Hinblick auf Kafkas unmittelbare Verfasserschaft bleiben sie jedoch ungesichert.

Zu den spannendsten Abschnitten des Buches gehört die anschließende, detaillierte und lebendige Schilderung der im Spätherbst 1917 einsetzenden nationalen Spaltung der Prager AUVA (S. 163 ff.), deren Verlauf die nunmehr offene Politisierung der Sprachenfrage deutlich werden läßt. Kafkas letzte Dienstjahre stehen mithin unter vollkommen veränderten sprachpragmatischen Vorzeichen (innere Amtssprache ist nun tschechisch, Kafkas wichtigste Bezugspersonen sind Tschechen), deren Auswirkungen bis zu den wechselnden Tastaturen der Schreibmaschinen rekonstruiert werden. Eine fundierte Basis für die Einschätzung der schrifttschechischen Kompetenzen Kafkas gibt das neunte Kapitel, dem eine komplettes Vokabular seines schriftlichen Wortschatzes
(Kap. 10) und ein Nachweis aller authentischer tschechischer Texte und Textstellen
(Kap. 11) folgen. Kafka erweist sich, so das linguistische Resümee, "als ein bilingualer Sprecher, allerdings mit eindeutiger Dominanz des Deutschen gegenüber dem Tschechischen, bei dem sich eine etwas beschränkte Kontrolle der Textproduktion bemerkbar macht" (S. 302).

Kafkas tschechische Lektüre

Das für den literaturwissenschaftlich Interessierten reichhaltigste Kapitel (8) des Buches befaßt sich freilich nicht mit Kafka als Sprecher oder Schreiber des Tschechischen, sondern mit seinen Lektüren. Der wichtigste Befund für die weitere literaturwissenschaftliche Erschließung eines Werkes, das wie kaum ein anderes im Sinne von J. Kristeva als écriture-lecture, als Schreiben zu begreifen ist, das auf dem Rearrangement einer Vielzahl von Lektüren im offenen Feld kultureller Texte basiert, liegt hier zunächst in der Betonung der Kontinuität und Alltäglichkeit der tschechischen Lektüren. "Über Jahre hinweg [...] las er regelmäßig tschechische Zeitungen und Zeitschriften" (S. 208), mithin ist "die tschechische Sprache und Kultur [...] neben der deutschen gleichsam die Luft, die Kafka tagtäglich atmet"
(S. 212).

Vor diesem Hintergrund erweitert sich eines der dringendsten Desiderate der Kafka-Forschung, eine umfassende, systematische und theoretisch reflektierte Erschließung der Lektürefelder und -strategien des Schriftstellers – seiner Lektüre mithin als einer lecture-écriture – zu einer Aufgabe, die anstelle eines nationalphilologischen Aneignungswettbewerbs eine uneingeschränkt bilinguale Perspektive voraussetzt. Dies im übrigen umso mehr, als in Kafkas Prag die "Luft der tschechischen Sprache und Kultur" keineswegs "neben" der deutschen wehte, sondern sich, bildgerecht, mit dieser vermischte. Die Funktionsweise der Kafka'schen "Andeutungs-Stilistik" (K.-H. Fingerhut) vor diesem Hintergrund einer nicht nur lingualen, sondern auch kulturellen "Kontaktzone" (Nekula) zu erschließen, wäre auch im Hinblick auf aktuelle Debatten über die gemeinsame Geschichte von Tschechen und Deutschen eine äußerst reizvolle Aufgabe – eine Aufgabe, für deren Lösung Nekulas Untersuchung erste Grundlagen zur Verfügung stellt.

Er führt das Tschechische in seiner Funktion als "Zugang zu anderssprachigen, vor allem slawischen Literaturen und Kulturen" vor (S. 209 ff.; Kafka liest aber auch Platon in tschechischer Übersetzung und benutzt ein tschechisches Hebräisch-Lehrbuch); er attestiert Kafka solide Kenntnisse nicht nur der tschechischen Gegenwartsliteratur, sondern auch der Literatur des 19. Jahrhunderts wie auch der älteren Tradition; er rekonstruiert das Netzwerk der tschechischen Zeitungen, Zeitschriften und Vermittler mit seinen vielfältigen Kontaktstellen zur deutschsprachigen Kultur; und er zeigt Kafka als sensiblen und präzisen Korrektor der von Milena Jesenská angefertigten Übersetzungen seiner Werke ins Tschechische. Und es versteht sich, daß Kafkas tschechische Lektüren auch die benachbarten Künste miteinbeziehen, daß Theater und bildende Kunst ebenso wie Malerei und Musik zum rezipierten Text gehören. Bei alledem war Kafkas Wertmaßstab, wie Nekula wiederholt unterstreicht, kein nationaler, sondern ein ästhetischer (S. 214, 219, u.ö.). Das hinderte ihn allerdings keineswegs daran, eben diese Differenz zu reflektieren, etwa in dem von Nekula vor dem Hintergrund der tschechischen Literatur gelesenen "Schema zur Charakteristik kleiner Literaturen" (Kap. 8.3); und sie, wie sich hinzufügen ließe, in seiner eigenen, zwischen zeitdiagnostischer Gebundenheit und Zeitlosigkeit oszillierenden Schreibweise aufzuheben.

Kafka – eine >tschechische< Lektüre

Ebenfalls von literaturwissenschaftlichem Interesse ist eine Reihe in die Untersuchung eingefügter Relektüren Kafka'scher Texte. Eine der rätselhaftesten Figuren, die Zwirnsspule Odradek, wird in Nekulas etymologischer Entschlüsselung durchaus plausibel lesbar als "etwas, das durch Entmutigung, Entfremdung entstanden ist" (S. 16 ff.). Wenn freilich in einem weiteren Zug die intradiegetische Reflexion auf die Etymologie von >Odradek< (ist Odradek ein Wort, hat es also eine Abstammung, oder ist es doch bloß der – arbiträr gebildete – Name eines Wesens) als Hinweis auf den Schriftsteller gelesen (als derjenige, der neben Gott "die Eigenschaft hat, [...] das Wort zu sein"), in der Folgerung die Abstammungsfrage dann "im sprachnationalen Sinne" gestellt und mit der jüdischen (Nicht-)Identität des Schriftstellers Kafka beantwortet wird, dann geht die Lektüre hier zu weit oder nicht weit genug.

Denn zum einen spielt in der Geschichte ja gerade die Differenz zwischen Wort und Wesen eine zentrale Rolle (als exegetisches Hindernis), und zum anderen ist die Abstammungslosigkeit kein Merkmal des Juden, sondern des Schriftstellers, zumal dann, wenn man Odradeks illegitime und durch die intradiegetische Exegese gezielt verwischte Herkunft im Auge behält: "Seltsam wohnt er im Haus der Zeit, unter der Stiege, wo alle an ihm vorüber müssen und keiner ihn achtet", schreibt Hugo von Hofmannsthal in einem für den jungen Kafka prägenden Aufsatz über den "Dichter" und zwar nicht, ohne seinerseits die Verantwortung für die Abstammungsfrage von sich zu weisen: "dies unerkannte Wohnen, es ist nichts als Gleichnis, ein Gleichnis, das mir zugeflogen ist, weil ich vor nicht vielen Wochen diese Legende in dem alten Buch >Die Taten der Römer< gelesen habe". 3

Wenn sich im Merkmalsfeld des Odradek also fraglos auch jüdische Spuren nachweisen lassen (die Sternförmigkeit als Verweis auf den Davidsstern), so wird der fixierende Übergriff vom Wort auf das Wesen gerade durch dessen Worthaftigkeit immer wieder vereitelt. Analog ließe sich auch im Hinblick auf die Relektüren von Ein altes Blatt (S. 37 ff.) und Josefine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse (S. 41 ff.) argumentieren. Der Identifikation der Nomaden als Ostjuden ließe sich hier eine ganze Serie gleichermaßen motivierter Identifikationen hinzufügen, ebenso wie die Mäusesängerin Josefine nicht nur Züge der Hebräischlehrerin Kafkas (Puah Ben-Tovim) trägt, sondern u.a. auch der ostjüdischen Schauspielerin Amalia Tschisik, der Sängerinnen in den Künstlernovellen E.T.A. Hoffmanns, und nicht zuletzt des Verfassers selbst, mit entsprechenden Folgen für die jeweilige Perspektivierung der Sprachenfrage.
Hier freilich befinden wir uns schon an der Grenze zu einer anderen, genuin literaturwissenschaftlichen Untersuchung, deren Titel Kafkas Sprache zu lauten hätte.

Was Kafkas Sprachen angeht, so mag die überraschende Relektüre einer so ausgedeuteten Geschichte wie Das Urteil, mit der Nekula seine Untersuchung beschließt (S. 303 ff.), zuletzt auch deren kulturwissenschaftlichen, ja sogar kulturpolitischen Wert anzeigen. Am Leitfaden der Topographie und Ideographie der Prager Brücken (Karls-Brücke, Palacký-Brücke, Cech-Brücke) führt Nekula vor, wie der familiale Loyalitätskonflikt sich auf der historisch-politischen Ebene als weiteres Element einer Serie nationaler Loyalitätskonflikte (zur deutschen Nation, zur tschechischen Nation, zur Nation überhaupt [?]) lesen ließe: als narrative Inszenierung mithin des hier gültigen poetologischen Grundprinzips selbst, demzufolge Identität, sei es auf psychologischer oder auf kultureller Ebene, immer nur als Problem (als unversicherbares Risiko), niemals aber als Lösung fungiert. Nekulas linguistische Aufklärung verhilft dazu, die Karlsbrücken-Perspektive der Kafka-Folklore gegen Kafkas Perspektive einzutauschen: "im Seelentränker auf der Moldau, [...] ausgestreckt [...] unter den Brücken durch." So sieht auch der Leser von Franz Kafkas Sprachen "mit wissenden, durch seine [...] Lektüre belehrten Augen nicht nur die Kehrseite der Brücken, sondern auch die Kehrseite der Ideologien, die dahinter stecken" (S. 305). Nicht zuletzt deshalb ist dem Buch eine Verbreitung auch jenseits der Grenzen des akademischen Fachpublikums zu wünschen.


HD Dr. Benno Wagner
FB3 / AL, Universität Siegen
D-57068 Siegen

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Ins Netz gestellt am 09.02.2004
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.


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Anmerkungen

1 Gilles Deleuze / Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt / M. 1976, S. 34.   zurück

2 Ebd., S. 33.   zurück

3 Hugo von Hofmannsthal: Der Dichter und diese Zeit. In: H.v.H.: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kunst und Geschichte. Stuttgart 2000, S. 102–131, hier: S. 116.   zurück