Cebulla über Roth/Polino: Stadt und Eisenbahn

IASLonline


Florian Cebulla

Stadt und Eisenbahn
– eine symbiotische Beziehung

  • Ralf Roth, Marie-Noelle Polino (Hgg.): The City and the Railway in Europe (Historical urban studies series) Aldershot: Ashgate 2003. 324 S. Geb. GBPD (UK) 45,00.
    ISBN 0-7546-0766-6.

Inhalt

Ralf Roth und Marie-Noelle Polino: Einleitung, S. XVII–XXXVI. | Ralf Roth: Interactions between Railways and Cities in Nineteenth-Century Germany, S. 3–27.| Henk Schmal: Cities and Railways in the Netherlands between 1830 and 1860, S. 29–44. | Michel Tanase: Railways, Towns and Villages in Transylvania: Impact of the Railways on Urban and Rural Morphology, S. 45–59. | Vilma Hastaoglou-Martinidis: The Advent of Transport and Aspects of Urban Modernisation in the Levant during the Nineteenth Century, S. 61–78. | Ivan V. Nevzgodine: The Impact of the Trans-Siberian Railway on the Architecture and Urban Planning of Siberian Cities, S. 79–103. | Magda Pinheiro: Portuguese Cities and Railways in the Nineteenth and Twentieth Century, S. 105–118. | Andrea Giuntini: Downtown by Train: The Impact of Railways on Italian Cities in the Nineteenth Century, S. 119–135. | Francois Caron: Railway Development in the Capital City: The Case of Paris, S. 139–154. | Alena Kubova: Railway Stations and Planning Projects in Prague, 1845–1945, S. 155–168. | Neil McAlpine und Austin Smyth: Urban Form, Social Patterns and Economic Impact arising from the Development of Public Transport in London, 1840–1940, S. 169–182. | Hugh Campbell: Railways Plans and Urban Politics in Nineteenth-Century Dublin, S. 183–201. | Anja Kervanto Nevanlinna: Following the Tracks – Railways in the City Centre of Helsinki: Bygone Past or Unwritten Urban History, S. 203–219. | Pamela E. Swett: Political Networks, Rail Networks: Public Transportation and Neighbourhood Radicalism in Weimar Berlin, S. 221–235. | Diane Drummond: The Impact of the Railway on the Lives of Women in the Nineteenth-Century City, S. 237–255.



Zur Dysfunktionalität
der modernen Verkehrssysteme

Wir alle kennen die zunehmende Dysfunktionalität des städtischen Verkehrssystems: die urbanen Verkehre gelten als nicht mehr "stadtverträglich", denn die Straßen sind verstopft und die wenigen innerstädtischen Freiflächen von ruhendem Verkehr okkupiert. Darüber hinaus schädigen Abgase und Lärm Mensch und Umwelt. Die städtischen Agglomerationen sind gelähmt und in ihren Funktionen gestört. Das automobile Zeitalter hat – zumindest in den Städten – inzwischen einen unerträglichen Zustand erreicht, der von Beteiligten und Betroffenen gleichermaßen als Gefährdung und als Verlust an Lebensqualität wahrgenommen wird.

Gegenwartsprobleme regen immer wieder zur historischen Rückschau an. In diesem Fall zu der Fragestellung, wie sich die Eisenbahn als revolutionierendes Verkehrssystem des 19. Jahrhunderts auf die Entwicklung der Städte ausgewirkt hat. Während das Automobil zum prägenden Mobilitätsfaktor des 20. Jahrhunderts mit zahlreichen Rückwirkungen auf Stadtraum, Ökonomie und Gesellschaft geworden ist, stellten die Eisenbahnen die eigentliche prägende und tiefgreifende Wandlungsprozesse begleitende und befördernde Verkehrsinfrastruktur des
19. Jahrhunderts dar. Industrialisierung, Urbanisierung und die Ausbreitung der Eisenbahn als wesentliche Faktoren der Modernisierung ermutigen zu der Frage nach der gegenseitigen Beeinflussung von neuen Verkehrssystemen und Gesellschaft, Raum und Ökonomie der Städte; waren hier ähnliche Probleme, Konflikte und Akzeptanzprobleme entstanden, wie sie heute in Verbindung mit der Massenmotorisierung diskutiert werden?

Die hier zu besprechenden Beiträge in dem mit großer Umsicht von Ralf Roth und Marie-Noelle Polino herausgegebenen Sammelband The City and the Railway in Europe versuchen dieser Fragestellung nachzugehen. Es handelt sich um die Veröffentlichung von Referaten der Sektion "The Railway and the City", die im Rahmen der "Fifth International Conference on Urban History" im September 2000 in Berlin stattfand.

Fortschrittsoptimismus
und Akzeptanzprobleme

In der Einleitung (S. XVII–XXXVI) umreißen Roth und Polino die Problemlage und betten die Fragestellung nach der historischen Rolle der Eisenbahn für die Städte in einen theoretisch weit gefassten Rahmen ein, der vor allem durch seinen großen Gegenwartsbezug besticht.

Stand am Beginn des Eisenbahnwesens die Vision des städtischen Bürgertums im Mittelpunkt, das neue Verkehrsmittel werde Ökonomie, Gesellschaft und die Entwicklung der Städte befördern, wich die fortschrittsoptimistische Illusion bald der ersten Ernüchterung. Höchst ambivalente Folgen und Wahrnehmungen stellten sich ein. So zerschnitten die Bahnlinien bereits gewachsene Stadtviertel und zerstörten historische Strukturen. Auch die Emissionen der innerstädtisch verkehrenden Dampflokomotiven erwiesen sich für die Stadtbevölkerung als nicht zu unterschätzende Belastung und führten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Wohn- und Lebensqualität der Städter. Andererseits gewannen die Städte jedoch mit der Eisenbahn aber auch an ökonomischer Prosperität. Sie erhielten repräsentative Bahnhofsbauten, die als Entwicklungspole für Geschäftszentren und Stadterweiterungen wirkten sowie die Vernetzung von Kommunikationsstrukturen und Austauschbeziehungen förderten. Der Städteausbau, die Urbanisierung und die Suburbanisierung waren ohne die Eisenbahn kaum denkbar, die spätestens seit der Jahrhundertwende zu einem Massenverkehrsmittel des Nahverkehrs avancierte. Mit Elektrifizierung und Untergrundbahnen bzw. der Verlegung des Schienenverkehrs in Tunnels wurde die Eisenbahn seit Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Sicht der Zeitgenossen zunehmend "stadtverträglich" gemacht – mit dem paradoxen Effekt, dass Platz für das neue "Übel", das Automobil, entstand, mit dessen fortschreitender Verbreitung das Siechtum der Eisenbahn begann. (S. XVII–XX.)

Renaissance der Eisenbahn im Stadtraum
– Vision und kulturelles Erbe

Heute – so die kühne, jedoch wünschenswerte Vision der Herausgeber – sei die Eisenbahn das Verkehrsmittel, das die Städte vor dem Kollaps retten könne. Angeregt durch die Global-City-Debatte und die zu beobachtenden Folgen der Globalisierung, beziehen sich Roth und Polino auf das Szenario einer durch wirtschaftliche Zentralisierungsprozesse und Migration fortschreitenden Verdichtung der Agglomerationen und Mega-Cities. Das prognostizierte Städtewachstum sei nur mit modernen und intelligenten Transportmitteln beherrschbar, wobei ein neues Zeitalter der Eisenbahn bevorstehe: eine Renaissance der Bahn als städtisches Nahverkehrsmittel und als schnelles Verknüpfungsinstrument monozentrischer oder polyzentrischer Stadträume mit anderen urbanen Entlastungsräumen (Bsp. ICE, TGV). (S. XX–XXII.)

Ein weiterer gegenwartsbezogener Ausgangspunkt für die Fragestellung des Sammelbandes, der gerade in kulturwissenschaftlicher Hinsicht von Bedeutung ist, bezieht sich auf das kulturhistorische Erbe der Eisenbahn in Städten. Aufgrund veränderter technologischer und ökonomischer Rahmenbedingungen steht die in rund 150 Jahren gewachsene Infrastruktur der Eisenbahn – u.a. Trassen, technische und architektonische Artefakte, Bahnhöfe und Betriebsgebäude – vielfach zur Disposition. Überflüssiger Eisenbahnraum, aber auch die Bahnhöfe selbst, wecken oft als städtebauliche Filetstücke kommerzielle und spekulative Begehrlichkeiten: Dem Immobiliensektor dienen sie als Felder der Verdichtung und Gebäudeexpansion in Städten, den mittlerweile teilprivatisierten Bahngesellschaften sind sie willkommene (wenngleich nur einmalige) Einnahmequellen.

Da die Überreste der Eisenbahn in Städten in architektonischer und morphologischer Hinsicht bedeutende Symbole der Industrialisierung und Urbanisierung des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne des frühen 20. Jahrhunderts darstellen, betonen die Herausgeber aber gerade die jüngste Entwicklung in Städtebau und Stadtmanagement. So hat die Bewahrung und Einbindung dieses kulturellen städtebaulichen Erbes dort an Stellenwert gewonnen und konnte zumindest bei repräsentativen Großprojekten umgesetzt werden:

The strategic, economic and social issues that it (die Eisenbahn, F.C.) has raised now determine the developmental constraints of historic city centres and have created a legacy that is increasingly being regarded as a heritage. (S. XXIX.)

Auch Roth und Polino plädieren hier indirekt für eine Integration der historischen Verkehrsinfrastruktur in die Stadtentwicklungsplanung und für ihre zukünftige Nutzung. (S. XXVIII.)

Mit historischer Analyse
den Blick für die Gegenwart schärfen

Der Sammelband will aber nicht nur mittels einer historischen Rückschau den Blick auf die Gegenwart schärfen. Er will auch genuin geschichtswissenschaftliche, besser kulturwissenschaftliche Fragen beantworten, denn bis auf wenige Ausnahmen ist die Analyse der Beziehung von Stadt und Eisenbahn in vielfacher Hinsicht bis heute ein Desiderat der Forschung. 1 Wie die Herausgeber bemerken, sind viele ökonomische, soziale, politische und kulturelle Implikationen der Eisenbahn für die Städte und umgekehrt noch nicht untersucht worden (S. XXVI), speziell für die europäischen Randzonen und Russland liegen kaum Arbeiten vor. So artikuliert der hier vorgelegte Band zwar nicht den Anspruch, diese Forschungslücke in empirischer Tiefe zu schließen, doch die Tagungsbeiträge bieten erste Ansätze für eine intensivere Beschäftigung mit den Wechselbeziehungen zwischen modernen Verkehrssystemen und Stadtentwicklungen sowie Ankerpunkte für zukünftige Studien. Dabei werden verschiedene Disziplinen vernetzt (Geschichtswissenschaft, Geographie, Kunstgeschichte, Politikwissenschaft) und Bindestrich-Geschichten (Sozial-, Kultur-, Stadt-, Architektur- und Transport-Geschichte) in einer integrierenden und fruchtbaren Art zusammengeführt. Der Blick wird dabei in vielen Beiträgen auf das vernachlässigte Gebiet der Konsequenzen von Mobilität, der komplexen Entwicklung des Personen- und Güterverkehrs und der verschiedenartigen Mobilitätsursachen gelenkt. Im Fokus der Beiträge steht der daraus resultierende Wandel der räumlichen Strukturen.

Vier Fragestellungen sind dabei handlungsleitend:

  1. Welche Rolle spielten die Eisenbahnnetze für die Stadtentwicklung in Vergangenheit und Gegenwart?
  2. Welche Nebeneffekte haben die Verkehrsinfrastruktur und die Zugänge zu diesem System für die Stadt?
  3. Welche topographischen und sonstigen Einflüsse hatte die Eisenbahn auf die Evolution der Städte?
  4. Welche ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Konsequenzen hatte die Eisenbahn in den Städten, welche Folgen ergeben sich heute daraus für die Bewahrung des kulturellen Erbes? (S. XXX.)

Eisenbahnlinie – Region – Städtesystem

Die ersten sieben Beiträge widmen sich den Auswirkungen der Eisenbahn auf Städtesysteme in nationalen bzw. wirtschaftsräumlichen Kontexten verschiedener Staaten bzw. Regionen. Ralf Roth (Interactions between Railways and Cities in Nineteenth-Century Germany, S. 3–27) untersucht überblicksartig die weit reichenden Rückwirkungen der Eisenbahn auf deutsche Städte. Mit Berlin, Frankfurt, Oberhausen, Offenbach und Sassnitz (Rügen) berücksichtigt er funktional differenzierte Stadttypen, von der pulsierenden Kapitale über die Handelsstadt, die Industriestadt, bis hin zum Badeort und Fährhafen. Der Umfang des wechselseitigen Einflusses von Bahn und Stadt hing von Größe, Lage und Situation des Städtetyps ab: Eisenbahnen waren von größter Bedeutung für die Hauptstadt und Handelsstädte, sie beförderten das Wachstum der Industriestädte und den Wandel von Agrarstädten in florierende Tourismuszentren.

Henk Schmal (Cities and Railways in the Netherlands between 1830 and 1860,
S. 29–44
) beschäftigt sich mit der Vernetzung der niederländischen Zentren Amsterdam, Utrecht, Leiden, Rotterdam, Haarlem und Den Haag durch die Eisenbahn in Konkurrenz zu einem voll entwickelten Kanalsystem, das über regelmäßigen Personentransport verfügte. Die Eisenbahn setzte sich hier dennoch als führendes Transportmittel schnell durch und förderte schon früh die Bildung von Ballungsräumen durch Suburbanisierung und Segregationsprozesse.

Stadt und Eisenbahn
in europäischen Randzonen

Michel Tanase (Railways, Towns and Villages in Transylvania: Impact of the Railways on Urban and Rural Morphology, S. 45–59) wirft einen Blick auf die eisenbahnhistorisch bislang kaum beachtete Entwicklung des bis zum Ersten Weltkrieg unter österreichisch-ungarischer Hoheit stehenden Transsilvaniens (heute Rumänien). Tanase wählt dabei methodisch einen neuen Weg. Sein Forschungsansatz basiert nämlich auf der Auswertung historischen Kartenmaterials, das Aufschluss über die Linienführung und Eisenbahnplanung gibt. Danach bestimmten regionale Morphologie, kulturelle Traditionen und lokale ökonomische Erfordernisse die Art der Eisenbahnanbindung von Dörfern und Städten.

Vilma Hastaoglou-Martinidis (The Advent of Transport and Aspects of Urban Modernisation in the Levant during the Nineteenth Century, S. 61–78) untersucht die Rolle der Eisenbahn für die Hafenstädte der östlichen Mittelmeerregion, u.a. Alexandria, Kairo, Beirut, Izmir (Smyrna), Istanbul, Thessaloniki (Saloniki), Athen und Piräus. Vor allem die Hafenstädte, die teilweise politische Hauptstadtfunktionen besaßen bzw. in jedem Fall die bedeutendsten Handelsplätze darstellten, wurden Ausgangs- und Knotenpunkte von Eisenbahnnetzen. Die Schifffahrt in der Region war nach wie vor von Bedeutung, die Eisenbahn wurde aber zu einem wesentlichen Faktor für die Distribution von Gütern und Kolonialwaren in die Hafenstädte, so dass eine Interdependenz zwischen Bahn und Schiff entstand, die – nach Ansicht der Autorin – die Modernisierung der "Levante" vorantrieb.

Ivan V. Nevzgodine (The Impact of the Trans-Siberian Railway on the Architecture and Urban Planning of Siberian Cities, S. 79–103) beleuchtet ebenfalls eine außereuropäische Region, deren Historie aber nur im europäischen Zusammenhang verstanden werden kann. Er beschreibt die multidimensionalen Effekte der Transsibirischen Eisenbahn auf die Städtegründung, Architektur und Urbanisierung zur Zeit der kontinentalen Kolonialisierung des zaristischen Russlands. Die Eisenbahn war hier überhaupt erst die Voraussetzung für Städtegründungen und Industrialisierung einer Region. Linienführung und Stadtplanung erfolgten daher nach rational festgelegten, geographischen und ökonomischen Kriterien. Zugleich entstanden aber auch wilde Siedlungen, und der Flächenverbrauch der Bahnlinie konnte das Wachstum der Städte behindern.

Vor- und Nachteile
der Eisenbahn für die
Stadtentwicklung in Südeuropa

Magda Pinheiro (Portuguese Cities and Railways in the Nineteenth and Twentieth Century, S. 105–118) analysiert die Eisenbahnentwicklung in Portugal, die in enger Verbindung mit den beiden bedeutenden Städten des Landes – Lissabon und Porto – diskutiert werden muss. Die Eisenbahn spielte eine positive Rolle bei der Modernisierung dieser Städte und förderte im 20. Jahrhundert maßgeblich ihre Suburbanisierung. Die Dominanz dieser Städte sorgte allerdings für eine Konzentration des portugiesischen Eisenbahnverkehrs auf die Hauptbahnverbindung zwischen den beiden ökonomischen und urbanen Zentren, hier zu Lasten der ländlichen Regionen.

Andrea Giuntini (Downtown by Train: The Impact of Railways on Italian Cities in the Nineteenth Century, S. 119–135) beleuchtet schließlich die Entwicklung der Eisenbahn in Mailand, Florenz und Rom. Er zeichnet den planungshistorisch und architekturgeschichtlich schwierigen Weg der Eisenbahn in die historischen Zentren nach und verweist auf den eklatanten Mangel einer koordinierenden Regional- und Stadtplanung, die es nicht vermochten, das Eisenbahnnetz zum Wohl der Entwicklung von Stadt und Agglomeration zu integrieren. Speziell für Mailand weist Giuntini den Einfluss der Industrie auf das Eisenbahnnetz nach, dessen Gestalt lange die Stadt eingeschnürt und eine Weiterentwicklung verhindert habe.

Die Rolle der Eisenbahnen
in Hauptstädten und Metropolen

Im zweiten Teil des Bandes geht es um die Rolle der Eisenbahn in Weltstädten bzw. Städten mit Hauptstadtfunktion, wobei mit Prag, Dublin und Helsinki allerdings Entwicklungen aus der Zeit beschrieben sind, als diese noch keine Hauptstädte von Nationalstaaten waren.

Francois Caron (Railway Development in the Capital City: The Case of Paris,
S. 139–154
) stellt die Bedeutung von Paris für das nationale Eisenbahnsystem dar und verdeutlicht die Stadtentwicklung des Agglomerationsraumes, die sich entlang der Fern- und Regionalbahnlinien vollzog. Allerdings hatten eine intensive Stadtplanung und ein Stadtumbau bereits vor dem Eisenbahnbau eingesetzt und die Vernetzung gelang hier erst sukzessive. Die Bedeutung des Eisenbahnsystems für den öffentlichen Nahverkehr wurde erst in der Zwischenkriegszeit entdeckt, und es bedurfte weiterer dreißig Jahre, so Caron, bis ein leistungsfähiges Schnellbahnsystem hergestellt war. Des weiteren betont der Eisenbahnhistoriker, dass in jüngster Zeit der TGV nicht ausschließlich die dominante Rolle von Paris gestärkt, sondern letztendlich auch zur Dezentralisierung von Funktionen beigetragen hat.

Alena Kubova (Railway Stations and Planning Projects in Prague, 1845–1945, S. 155–168) untersucht die Rolle der Bahnhöfe für Prag vor dem Hintergrund der Nationalitätenproblematik im 19. und der Entwicklung des tschechischen Nationalstaates im 20. Jahrhundert. Dabei kommt es der Autorin auf die ästhetischen und politischen Implikationen der Hauptbahnhofsplanung an. Der erste Bahnhof Prags hatte zunächst nur provinziellen Charakter. Erst mit einer erstarkten Nationalbewegung in der Belle Epoque entstand ein repräsentativer Bahnhofsbau. Nach der Gründung der Tschechoslowakei traten die Planungen für einen Hauptstadtbahnhof in den Hintergrund. Bahnhofskonzepte waren jetzt mit der Vorstellung von einer modernen, funktionsräumlich gegliederten Stadt nicht mehr kompatibel, zudem Autobahn- und Flughafenplanungen zunehmend mit der Eisenbahn konkurrierten.

London und Dublin –
"slum clearance" und Bierbrauer

Neil McAlpine und Austin Smyth (Urban Form, Social Patterns and Economic Impact arising from the Development of Public Transport in London, 1840–1940, S. 169–182) fassen die Ergebnisse einer Langzeit-Untersuchung für London zusammen, die auf einer Daten- und Kartenanalyse des "Geographical Information System" (GIS) basiert. Eisenbahn und Schienenverkehrsmittel traten zwar in scharfen Wettbewerb, waren aber insgesamt ein wesentlicher Katalysator für das Wachstum Londons. Sie waren Ursache für die Entwicklung verschiedener Raummuster physischer, sozialer und ökonomischer Art. Die Autoren beleuchten die hohen sozialen Kosten des Eisenbahnbaus im 19. Jahrhundert und desavouieren den Begriff des "slum-clearing" als Euphemismus. Die Menschen der Armutsviertel, die dem Bahnbau weichen mussten, wurden entschädigungslos in benachbarte Slums verdrängt, so dass die Armut mehr verdichtet und keinesfalls behoben wurde. Gentrifizierung und sozialräumliche Klassentrennung wurden durch die Eisenbahn befördert. Oberklasse und Mittelklasse zogen in die von den Schienenverkehrsmitteln erschlossenen Vororte, während die Arbeiterklasse in einem inneren Gürtel um die Innenstadt verblieb.

Das Problem einer adäquaten Bahnhofslösung und Vernetzung von Eisenbahnlinien hat Hugh Campbell für Dublin analysiert (Railways Plans and Urban Politics in Nineteenth-Century Dublin, S. 183–201). Tragfähige Lösungen scheiterten hier vor allem am Streit verschiedener städtischer Interessengruppen. An der Eisenbahnfrage entzündete sich einerseits ein Modernisierungskonflikt, andererseits der Nationalitätenkonflikt zwischen Iren und britischen Besatzern. Irische Eliten, vor allem Brauerfamilien, führten den Protest gegen den Eisenbahnbau im Zentrum Dublins an. Sie betrieben damit zunächst eine ökonomische Interessenpolitik, befürchteten aber auch eine allmähliche Zerstörung des historischen Stadtbildes und den Verlust ästhetischer (nationaler) Ensemble. Darüber hinaus wurde das neue Verkehrsmittel politisch, also als oktroyiertes Symbol der britischen Besatzung verstanden. Der Aufsatz Campbells ist besonders in kulturhistorischer Hinsicht von Bedeutung, da der Autor die Debatten über die Eisenbahn auf der Grundlage umfassender Auswertungsarbeiten von Zeitungen und Printquellen rekonstruiert.

Stadt und Eisenbahn
– eine politische Auseinandersetzung

Anja Kervanto Nevanlinna (Following the Tracks – Railways in the City Centre of Helsinki: Bygone Past or Unwritten Urban History, S. 203–219) behandelt mit starkem Aktualitätsbezug die Rolle der Eisenbahn für Helsinki. Sie argumentiert gegen die postmoderne Stadtplanung in der finnischen Hauptstadt, in der die Eisenbahn aufgrund eines angenommenen Bedeutungsverlustes dieses Verkehrsmittels keine Rolle mehr spielt. Die Eisenbahn habe die Stadt zwar erst spät erreicht, dann aber rund hundert Jahre ihre Struktur außerordentlich geprägt. Die Autorin plädiert schließlich für die Bewahrung des kulturellen Erbes der Eisenbahn, um damit künftigen Generationen wichtige Spuren der Vergangenheit im gebauten Raum zu hinterlassen. Zugleich soll damit ein Beitrag zur Erinnerungskultur geleistet werden, denn, so die Autorin, man dürfe über den Wert der von der Eisenbahn bebauten Formen nicht aus der Gegenwart heraus entscheiden.

Pamela E. Swett leistet in ihrem Beitrag (Political Networks, Rail Networks: Public Transportation and Neighbourhood Radicalism in Weimar Berlin, S. 221–235) eine außerordentlich bemerkenswerte, innovative Analyse der Bezüge zwischen der sich radikalisierenden politischen Kultur der Weimarer Republik und dem öffentlichen Stadtverkehrssystem am Beispiel Berlins. Tram-, Untergrundbahn- und Stadtbahnhöfe sowie die Züge selbst boten sich geradezu als "Schlachtfelder" der politischen Auseinandersetzungen zwischen der NSDAP / SA, dem KPD / Rotfrontkämpferbund und dem Reichsbanner an. Generell waren Bahnhöfe damals Stadtteiltreffpunkte und Orte legaler wie auch illegaler kleinwirtschaftlicher Aktivitäten. Die Schienenverkehrsachsen trennten damals vor allem in den Arbeitervierteln Nachbarschaften unterschiedlicher politischer Orientierung und wurden damit zu Schnittstellen und Zentren der politischen Konfliktaustragung zwischen Staat (Polizei) und radikalen politischen Organisationen.

Stadt und Eisenbahnen
unter dem Aspekt
des Geschlechterverhältnisses

Der Aufsatz von Diane Drummond (The Impact of the Railway on the Lives of Women in the Nineteenth-Century City, S. 237–255) rundet den Band ab; sie fokussiert bezüglich des Verhältnisses von Stadt und Eisenbahn den Gender-Aspekt. Auf diesem Themenfeld können die herkömmliche Forschung ergänzende, historisch außerordentlich relevante Informationen gewonnen werden, zumal eine geschlechtsspezifische verkehrs- und stadthistorische Forschung erst im Aufbau begriffen ist. Drummond verweist nicht nur auf geschlechts-, rollen- und klassenspezifische Unterschiede bei der Eisenbahnnutzung. Die Lesenden erfahren auch, dass Frauen von der eisenbahnbedingten "slum clearance" am stärksten betroffen waren; sie erfahren etwas über Prostitution in Vorortzügen im viktorianischen Zeitalter und über eine arbeitsmarktbedingte Verkehrsmittelwahl. Die Sicherheit für Frauen war in Verkehrsanlagen nicht besonders groß und der Anteil von Berufspendlerinnen und allein reisenden Frauen daher zunächst außerordentlich gering. Gleichwohl, so das Fazit von Drummond, hatte die Eisenbahn einen emanzipatorischen Effekt für Frauen.

Politik – Stadtraum – Verkehrsinfrastruktur

Die Beiträge zu The City and the Railway in Europe verdeutlichen vor allem eines: Das Verhältnis von Stadt und Eisenbahn und ihre wechselseitige Beeinflussung war von Land zu Land und Stadt zu Stadt höchst verschieden und von zahlreichen lokalen und regionalen Faktoren politischer, ökonomischer aber auch morphologischer Art abhängig. Daher regen gerade die hier vorgelegten Detailuntersuchungen zur Erforschung weiterer Stadt- und Eisenbahnräume an.

Positiv hervorzuheben ist die gelungene Auswahl der Themenfelder und die besonders bemerkenswerte Vielfältigkeit der Fragestellungen, Methoden und Kontextualisierungen; sie setzt für zukünftige Arbeiten auf diesem Gebiet neue Maßstäbe. Neben den räumlichen Auswirkungen der Eisenbahn bietet es sich daher an, vermehrt die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Eisenbahn, die präsentative Symbolik von Architektur und Eisenbahnraum und politische Implikationen zu analysieren. Letzteres ist in den Beiträgen von Alena Kubova, Hugh Campbell und Pamela Swett hervorragend gelungen. Nationalitätenkonflikte, Modernisierungskonflikte und politisch-kulturelle Verhaltensmuster sind hier auf eindrucksvolle Art mit Eisenbahn- und Stadtgeschichte verwoben worden.

Es bleibt zu hoffen, dass der Sammelband Anregung für weitere detaillierte Forschungen in Bezug auf deutsche Städte und die Historie der Eisenbahn bietet, auch wenn der Kulturgeschichte der Eisenbahn in der hiesigen Forschungslandschaft und Forschungsförderung kaum Platz eingeräumt wird.


Dr. Florian Cebulla
Universität Kassel
IAG Kulturforschung
Gottschalkstraße 26
D-34109 Kassel

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 11.01.2004
IASLonline

IASLonline ISSN 1612-0442
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Christine Haug. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück | Partner ]

Anmerkungen

1 Klassische Ansätze: John R. Kellett: The Impact of Railways on Victorian Cities. London / Henley 1979. Jack Simmons: The Railway in Town and Country,
1830–1914. London 1986. Eine lesenswerte neuere Studie: Silke Satjukow: Bahnhofstraßen. Geschichte und Bedeutung. Köln, Weimar, Wien 2002.   zurück