Christophersen über Kiesel: Ernst Jünger und Carl Schmitt: Briefwechsel

Alf Christophersen

"Daß die Anarchisten langweilig werden, ist vielleicht das letzte Zeichen dafür, daß es mit einer Gesellschaft zu Ende ist."

Zum Verhältnis von
Ernst Jünger und Carl Schmitt

  • Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930-1983, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel. Transkription der Briefe Isolde Kiesel. Stuttgart: Klett-Cotta 1999. 893 S. Leinen DM 78,-. ISBN 3-608-93452-9.


"Tausende von Briefen, zum Teil brisanten Inhalts, liegen in meinem Archiv. [...] Ich lasse diese Bestände schlummern: quieta non movere. Es fehlt nicht an Neugierigen. Die Edition von Briefwechseln bei Lebzeiten ist wenig ratsam; post mortem sollte man zuverlässige Betreuer haben, so weit das möglich ist. (S.384)"

Dies schrieb Ernst Jünger (1895-1998) am 20. Oktober 1972 aus Wilflingen an Carl Schmitt (1888-1985) nach Plettenberg. Seit 1930 korrespondierten sie miteinander. Mit einem Schreiben Jüngers vom 17. Juli 1983 endet der schließlich 54 Jahre umgreifende Briefwechsel, der die ausgehende Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg, die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und ihre Etablierung zum zeitgeschichtlichen Hintergrund hat, welcher nicht selten in den Mittelpunkt des Dialogs tritt und oft zum Gegenstand auch kulturkritischer Abgrenzungsbemühungen wird.

Der Heidelberger Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel hat es sich zur Aufgabe gesetzt, die Rolle des von Jünger gewünschten 'zuverlässigen Betreuers' zu übernehmen. Auch wenn mit dem Verlust des einen oder anderen Schreibens zu rechnen ist oder es vereinzelt noch zu lückenfüllenden Funden kommen wird, so ist doch mit den hier vorliegenden 426 Karten und Briefen, von denen 249 von Jünger und 177 von Schmitt stammen (s. S.852), ein in sich geschlossenes und wohl nahezu vollständiges Briefkorpus erhalten. Die Archivlage, auf die der Editor zurückgreifen konnte, ist günstig. Die Briefe an Jünger befinden sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar, diejenigen an Schmitt im Nordrhein- Westfälischen Hauptstaatsarchiv Düsseldorf.1

Es ist zunächst als eine glückliche Entscheidung des Herausgebers hervorzuheben, daß er alle edierten Stücke in ihrem vollen Wortlaut – d. h. ohne Kürzungen, Unkenntlichmachung von Namen et cetera – wiedergegeben hat. Ein nachgerade wegen der oft polemisch urteilenden Äußerungen Schmitts und Jüngers nicht ganz unproblematischer Vorgang, der aber dem Gesamteindruck und der Verwertbarkeit des gelieferten Materials für wissenschaftliche Einzelforschungen dienlich ist. Mit dieser Editionspraxis setzt sich Kiesel deutlich von der anderen bislang existierenden größeren Veröffentlichung eines Briefwechsels Carl Schmitts ab, die in diesem Kontext zu nennen ist, nämlich Armin Mohlers "Carl Schmitt – Briefwechsel mit einem seiner Schüler [sc. A. M.]"2 aus dem Jahr 1995, in dem sich so manche Auslassungen und Kürzungen finden. Mohlers Ausgabe ist für den hier zu besprechenden Band von einer besonderen Relevanz, da er sowohl zu Jünger als auch zu Schmitt in einem sehr engen Kontakt stand und deshalb aufschlußreiche Ergänzungen liefern kann.

In der vorliegenden Edition werden zunächst die Briefe wiedergegeben (S.5-456) und dann in einem gesonderten Anhang kommentiert (S.463-850).3 Ein kurzes Nachwort (S.851- 885) und ein knappes Literaturverzeichnis (S.886-892) mit Werken allgemeinerer Bedeutung schließen den Band ab. Ein nicht zuletzt aufgrund des Korrespondenzumfangs dringend erforderliches Namenregister fehlt genauso wie ein chronologisches Verzeichnis der Briefe.

Kommentierung

Der Briefwechsel zwischen Jünger und Schmitt wird von Kiesel nicht nach den strengen Maßstäben einer historisch-kritischen Edition herausgegeben, sondern eher in Form einer Leseausgabe mit kommentierenden und weiterführenden Anmerkungen. Es wird auf diese Weise zwar das Briefmaterial zur Verfügung gestellt, jedoch teilweise eher assoziativ anmutend und wenig tiefgehend kommentiert. Der Herausgeber beabsichtigt, "Namen, Daten und Sachverhalte" in der Form zu erläutern, "daß der Griff nach Wörterbüchern und Spezialstudien fürs erste nicht mehr nötig ist". Es verstehe sich von selbst, daß "vieles dann noch zu vertiefen wäre", denn "ein Kommentar" könne "nicht an die Stelle von einläßlicheren Studien treten" (S.463). Es fragt sich hier allerdings, ob Kiesel so nicht eher die Entschuldigung für eine zu rasch durchgeführte Kommentierung der Korrespondenz liefern möchte. Eine Zuspitzung findet diese Vermutung in folgendem quellenkundlich problematischen 'Eingeständnis' des Editors: "Die Schreibweise von Namen und Buchtiteln, die nicht unmittelbar eingesehen werden konnten, folgt den Nachschlagewerken, die Auskunft gaben (bei fremdsprachigen literarischen Werken meist 'Kindlers Neues Literatur Lexikon' oder Kröners 'Lexikon der Weltliteratur')" (S.464). Durchgängig ist erkennbar, daß auf eine eingehende bibliographische Recherche, die hier und da mit durchaus größerem Aufwand verbunden gewesen wäre, verzichtet wurde.4

Trotz dieser kritischen Einschränkungen hinsichtlich des wissenschaftlichen Stellenwertes der Kommentierungsmethode ist der Anmerkungsapparat der Lektüre dienlich und förderlich, und die Aussagekraft der Briefe erfährt eine erhebliche Vertiefung. Erläutert werden, oft eingehend, insbesondere Namen und literaturwissenschaftlich relevante Stellen, die die Korrespondenz durchziehen. Der unmittelbare, zeitgeschichtliche Kontext findet hingegen innerhalb des Kommentars nur unzureichend Berücksichtigung.

Fremdsprachliche Passagen und Formulierungen werden durchgängig übersetzt, Zitathinweise und Anspielungen ausführlich wiedergegeben und erläutert, wobei innerhalb der Quellenangaben oft unscharf verfahren wird, statt der Seiten werden beispielsweise häufig nur Kapitel genannt. Schriften Schmitts und Jüngers werden – so erläutert Kiesel einschränkend – "soweit dies möglich war, nach den Erstausgaben zitiert" (S.464). Der damit verbundene Hinweis "bei Jüngers Tagebüchern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit ist zu beachten, daß die späteren Fassungen stilistisch leicht überarbeitet wurden" (S.464), ist im Hinblick auf das hinreichend bekannte Talent Jüngers, eigene Texte im Nachhinein umzuformen und so die eigene Rezeption mitzugestalten, vielleicht in bezug auf den angegebenen Zeitraum nicht ganz so brisant, wie hinsichtlich der Texte aus den 20er Jahren, aber doch in dieser unkritischen Gestalt etwas gewagt.

Nachwort

Das Nachwort bestätigt den hinsichtlich der Kommentierung gewonnen Eindruck. Es präsentiert aus einschlägiger Literatur bekannte, vornehmlich biographische Zusammenhänge und reformuliert, ohne daß sich eine größere Linienführung und weiterführende kritische Beurteilung erkennen ließe, Aussagen des Briefwechsels. Es werden – wie Kiesel es ausdrückt – "punktuell Brücken zum zeit- und werkgeschichtlichen Kontext" (S.853) geschlagen. Dies gilt vornehmlich auch für den wohl entscheidenden Verbindungspunkt zwischen Jünger und Schmitt, den der Herausgeber zu behandeln hat:

"Über Jüngers Verhältnis zum Nationalsozialismus und zum Dritten Reich ist viel geschrieben worden, über das von Schmitt noch mehr. Dies in Form eines Forschungsberichts zu referieren oder auch nur zu skizzieren, würde den Rahmen eines Nachworts sprengen. Es kann nur versucht werden, die wichtigsten und plausibelsten Befunde der Forschung zu vergegenwärtigen. (S.859)"

Auswahlkriterien für eine derartige Begrenzung nennt Kiesel nicht, und die aus der Summe der Forschungsliteratur gewonnen Einsichten werden nur sehr zurückhaltend mitgeteilt. Auffällig ist eine sich durchhaltende Apologetik Jüngers. Einerseits grenzt Kiesel sich zunächst kritisch ab, wenn er formuliert:

"Was da vor sich ging, zumal im Krieg, schien ihm – wie vielen anderen Zeitgenossen – notwendig zu sein als apokalyptischer Akt, in welchem der von Nietzsche konstatierte Nihilismus zur Vollendung kommen und gleichzeitig den Punkt erreichen sollte, an dem eine neue Sinnstiftung und eine neue Wertgebung möglich sein sollte. Das ist eine Betrachtungsweise, die heute unfaßbar und empörend wirkt. (S.860)"

Andererseits wird diese Position durch einen unmittelbaren Vergleich mit aus den Kontext gerissenen Aussagen Hermann Brochs, Bertolt Brechts und Thomas Manns, die ihr Verhältnis Hitler und dem Nationalsozialismus gegenüber als ähnlich problematisch erscheinen lassen, in eine allgemeine Ambivalenz aufgelöst.5 Durch einen Vergleich Jüngers mit den drei genannten Literaten wird eine besondere Stellung Jüngers negiert, und er erscheint als ein Fall unter anderen.

Carl Schmitt gegenüber fällt Kiesels Urteil – gerade auch in der unmittelbaren Konfrontation mit Ernst Jünger – wesentlich schärfer und eindeutiger aus: Benannt werden sein "Antijudaismus oder Antisemitismus", sein "Antiliberalismus und Antiparlamentarismus" (S.861). Einige Literaturangaben ersetzen die nähere Begründung.

Am Ende des Nachwortes kommt der Herausgeber auf die "Mißgunst gegenüber Jünger, die sich bei Schmitt einstellte, als er Jüngers schriftstellerischen Erfolg und Wiederaufstieg zu beobachten hatte", zu sprechen. Hingewiesen wird auf "die krasse Manifestation dieser Mißgunst" (S.880) in Schmitts "Glossarium"6 . Ausführlich nimmt Kiesel Jüngers Reaktion in "Siebzig verweht V" auf, insbesondere einen dort eingefügten Auszug eines Briefes von Ernst Klett an Jünger (13. September 1994) und eine unmittelbare Antwort Jüngers vom 20. September,7 aus dem das Nachwort ein Schlußzitat bezieht, das die Sympathie des Herausgebers für Jünger, hier in Profilierung gegenüber Schmitt noch einmal deutlich erkennen läßt:

"'Auf C. S. hat sich nach 1945 ein ungemein starker Haß konzentriert, unter dem er, wie ich von seinen Hausgenossen erfuhr, in einem Maß gelitten hat, das sich zum Verfolgungswahn steigerte. Noch auf dem Sterbebette habe er gesagt: 'E. J. ist ein zuverlässiger Freund.'" (S.881)8

Der Briefwechsel

Der vorliegende Briefwechsel erlaubt dem Leser nunmehr tiefe Einblicke in das Wesen dieser Freundschaft, vor allem läßt er erkennen, inwieweit zeitgeschichtliche Wahrnehmung und die Auseinandersetzung mit gemeinsamen vornehmlich literarischen Beobachtungen innerhalb der Korrespondenz verknüpft werden. Schmitt und Jünger verbindet dabei das gemeinsame Bemühen um Selbststilisierung und intellektuelle Profilierung dem jeweils anderen gegenüber.

Treffend beschreibt an anderem Ort Jünger den Untergrund, aus dem ein von vornherein mit dem Gedanken auf mögliche spätere Publikation geschriebener Briefwechsel hervorgehen kann:

"Ganz allgemeine Bedürfnisse sind elementar begründet; sie reichen auf die Atome hinab. Zu ihnen gehört der Wunsch, sich zu 'verewigen'." In seinen Aufzeichnungen "Siebzig verweht III" gibt Jünger drei Möglichkeiten an, die zu einer entsprechenden Verewigung führen können, und die er auf die an ihn gerichtete Frage hin, "wie man auf alle Fälle ein Opus zustande bringt", nennen kann:

"Erstens das Tagebuch. [...] Jedes Tagebuch hat die Aussicht, gedruckt zu werden, wenn es das nötige Alter erreicht. [...] Zweitens eine Zitatensammlung als Frucht der Lektüre; jeder passionierte Leser kann es auf diese Weise zu einem Buch bringen. [...] Drittens die Wiederentdeckung des Briefes als literarische Gattung in 'dürftiger Zeit'. Der Briefwechsel auf Verabredung ist aus der Mode gekommen – die schriftliche Unterhaltung von Partnern über ein Thema, ein Ereignis, einen Gegenstand. Er gleicht einer Korrespondenzpartie im Schachspiel; dabei kann Vorbildliches entstehen."9

Vorbildlichkeit wird sich dem hier zu besprechenden Briefwechsel allein schon aufgrund der deutlichen editorischen Schwächen kaum beimessen lassen. Doch zum Inhalt: Mit intuitiver Sicherheit benennt Jünger in einem Brief an Schmitt vom 14. Oktober 1930 - erst drei kurze Schreiben sind vorangegangen - eine Eigenschaft seines Gegenübers, mit der er sich, wenn auch in übertragenem Sinn, während der gesamten Korrespondenz konfrontiert sehen muß, ohne daß ihm die tiefere Bedeutung seiner Einsicht zum Zeitpunkt ihrer Äußerung bewußt gewesen sein wird: "Ihnen ist eine besondere kriegstechnische Erfindung gelungen: eine Mine, die lautlos explodiert. Man sieht wie durch Zauberei die Trümmer zusammensinken; und die Zerstörung ist bereits geschehen, ehe sie ruchbar wird."10 Jünger bezieht sich hier auf die soeben von ihm gelesene Schrift Schmitts "Der Begriff des Politischen" aus dem Jahr 1927:11

"Die Abfuhr, die allem leeren Geschwätz, das Europa erfüllt, auf diesen dreißig Seiten erteilt wird, ist so irreparabel, daß man zur Tagesordnung also, um mit Ihnen zu sprechen, zur Feststellung des konkreten Freund-Feind-Verhältnisses übergehen kann. Ich schätze das Wort zu sehr, um nicht die vollkommene Sicherheit, Kaltblütigkeit und Bösartigkeit Ihres Hiebes zu würdigen, der durch alle Paraden geht." (S.7)

Vier Wochen später teilt Jünger Schmitt mit: "Alle Ihre Ausführungen erscheinen mir deshalb besonders gefährlich, weil sie sich in den Grenzen einer vollkommenen Sachlichkeit zu verbergen wissen."12 Eine Sachlichkeit eigener Art kennzeichnet auch Jünger, der etwa im Juli 1934 aus Sylt schreibt: "Die politische Stellungnahme der Badegäste ist sehr amüsant, – es gibt wohl kaum einen tolleren Pöbel als den, der jedes Jahr in den Strandkörben zusammenkommt."13 Vor allem Beurteilungen zu Schriften des Gegenübers, Mitteilungen von Lesefrüchten, Literaturhinweise, knappe Reiseeindrücke und Familiennachrichten machen das Grundgerüst des Briefwechsels aus.

Wer überraschende Informationen und Einsichten zunächst über die Zeit vor und während des Nationalsozialismus erwartet, die dazu beitragen könnten, zu einer Näherbestimmung der Rolle Schmitts und Jüngers zu gelangen, wird enttäuscht. So gibt es etwa keine weiterführenden, neuen Auskünfte Schmitts über seine 'Kaltstellung' im Jahr 1936. Die zeitpolitische Gegenwart tritt, wenn über das Selbstverständliche und Unverbindliche hinausgegangen wird, lediglich in verschlüsselten Anspielungen in Erscheinung, die innerhalb des Briefwechsels eine zweite, oft nur schwer zu ergründende Ebene bilden, mit der der Herausgeber des Briefwechsels sich bedauerlicher Weise nicht näher auseinandersetzt. Die Knotenpunkte dieser zusätzlichen Linie stellen zum einen Hinweise auf Implikationen gelesener Literatur dar, die nur derjenige versteht, der diese Werke und ihren geistesgeschichtlichen Hintergrund kennt,14 und zum anderen in Verbindung, aber auch unabhängig davon, Rückgriffe auf die alttestamentliche, griechische und lateinische Mythologie.

So bemerkt etwa Jünger, um ein repräsentatives Beispiel zu nennen, nach Lektüre des Schmittschen Aufsatzes der "Begriff der Piraterie"15 am 3. November 1937, ihm sei aufgefallen, "daß das Staatsrecht eine immer größere Ähnlichkeit mit den fatalen Betten des Prokrustes" gewinne und dies "wohl vom geheimen Primat des Bürgerkrieges"16 herrühre. Schmitt antwortet ihm knapp zwei Wochen später:

"Der Vergleich mit dem Prokrustesbett stimmt. Ich fühle mich aber nicht als den Herkules, der diesen Prokrustes erschlägt, wohl aber als den Röntgenologen, der diesen Prokrustes, ohne daß er es sieht, begleitet. Dieser interessiert mich im Übrigen mehr als sein Bett. Auch scheint man vergessen zu haben, dass er sich in die von einem Herkules zu erledigenden Arbeiten überaus sinnreich einfügt. Die antike Mythologie ist in der Tat unausschöpfbar."17

Die Entlastungsfunktion der Mythologie

Der Rückgriff Schmitts auf die Mythologie tritt im Verlauf der Korrespondenz zunehmend in den Vordergrund, und über die Antike hinaus werden mythologisierende Bezüge auf das Werk Herman Melvilles dominant, mit deren Hilfe Schmitt seine Person und sein Handeln im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zu beschreiben versuchte, und dies zunehmend in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, in der Jünger rasch wieder zu einem zwar umstrittenen, so doch gefeierten und geehrten Autor avancierte, Schmitt jedoch das Leben eines verachteten Außenseiters führte, dem eine weitere akademische Karriere verwehrt blieb. In dieser Situation stilisierte er sich in einer ausgeprägten 'Sündenbocktheorie' zum Opfer, worüber auch der jetzt vorliegende Briefwechsel eingehend Auskunft zu geben vermag.18 Hinzu kommt hinsichtlich des Verhältnisses zu Jünger die bereits erwähnte anwachsende Eifersucht diesem gegenüber, die wohl mit dazu beigetragen hat, daß die Korrespondenz vom Dezember 1960 bis Juli 1968 unterbrochen wurde.

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln und der eigenen Verantwortung wird insbesondere von Schmitt in den Bereich des Mythologischen verschoben und somit in eine Kategorie, die sich einem direkten Zugriff entzieht und die eigene Existenz den Urteilen der sie umgebenden Welt enthebt – eine besondere Form der Immunisierung gegen Kritik. Schmitt mißt der Titelfigur Benito Cereno, dem weißen Kapitän, der von schwarzen Sklaven beherrscht wurde, den Stellenwert eine "Situations-Symbol[s]"19 bei. Er bestimmt als "unvergleichbare Größe" Melvilles seine "Kraft zur objektiven, elementaren und konkreten Situation".

"Benito Cereno ist dadurch größer als die Russen und sämtliche andern Erzähler des 19. Jahrhunderts, sodaß neben ihm auch Poe anekdotisch wirkt, und Moby Dick ist als Epos des Meeres nur mit der Odyssee zu vergleichen. Das Meer als Element ist nur durch Melville faßbar zu machen. Ein sehr aktuelles Thema."20

Betrachtungen dieser Art durchziehen den gesamten Briefwechsel. Jünger bleibt auch noch in den siebziger Jahren ein wichtiger Gesprächspartner für Schmitt, der zunehmend vereinsamt. Weihnachten 1974 schreibt er an ihn, viel über dessen Veröffentlichungen nachzudenken; aber: "Ich habe hier leider keine Gesprächspartner dafür und meine Notizen werden von Tag zu Tag unleserlicher."21 Doch trotz der auf beiden Seiten abnehmenden Kräfte finden sich durchaus noch Beobachtungen von Relevanz zur Geschichte der Bundesrepublik. So bemerkt Jünger im Juli 1975:

"Unsere aktuellen Unruhen begannen mit dem Tod des Studenten Ohnesorg, der während eines Aufruhrs erschossen wurde; der Fall konnte auswuchern, weil der Staat den Rechtsbrechern größeren Beistand als der Exekutive leistete. Diese Art von Feigheit hat anläßlich der Lorenz-Entführung kulminiert."22

Und im Februar 1976 meint er bemerken zu können: "Wie ich höre, möchten nun auch die Historiker eine Gewerkschaft gründen; ich schlage vor, daß sie den Müllkutschern beitreten."23 Wesentlich nachsichtiger urteilt Jünger 1981 über sich selbst, nachdem er Schmitt zugesprochen hat, daß es zu dessem Image dazugehöre, verfolgt zu werden:

"Mein Image wurde nach dem ersten Weltkrieg geschaffen durch Kriegervereine und nach dem Zweiten durch Studienräte und Professoren, die während des Dritten Reiches den Mund gehalten hatten – daß ich es nicht getan, wurmte sie desto mehr. Damit muß man sich abfinden – das Gesicht bleibt für die Freunde reserviert."24

Die Frage, ob Carl Schmitt dieses Gesicht Ernst Jüngers jemals kennenlernte, vermag der hier jetzt in Gänze vorliegende Briefwechsel nicht zu beantworten, wobei die unbefriedigende, vorschnelle Herausgabe zumindest daran keinen Anteil hat.


Dr. Alf Christophersen
Homepage: http://www.evtheol.uni-muenchen.de/institute/ethik/institut.htm
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Systematische Theologie
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 11.12.2000.

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Anmerkungen

1 Vgl. dazu: Nachlaß Carl Schmitt. Verzeichnis des Bestandes im Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv. (Veröffentlichungen der Staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen Reihe C, Bd.32), bearb. von Dirk van Laak und Ingeborg Villinger. Siegburg: Respublica-Verlag 1993; hier insbesondere zu Jünger S.85, 274 (Briefe), 330 (Materialien), 440-442 (Literatur). Der Band enthält neben einem Korrespondenz- und Materialienverzeichnis auch eine in Monographien, Aufsätze und Zeitschriften differenzierte Auflistung der Bibliothek Schmitts.   zurück

2 Carl Schmitt – Briefwechsel mit einem seiner Schüler [1948-1980], hg. von Armin Mohler in Zusammenarbeit mit Irmgard Huhn und Piet Tommissen. Berlin: Akademie Verlag 1995. – Mohler, geb. 1920, lernte Schmitt im Rahmen der Arbeit an seiner Dissertation kennen – zuerst 1950 erschienen und dann zunehmend erweitert: Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch. Hauptband und Ergänzungsband (mit Korrigenda) in einem Band, 5. Aufl., Graz: Stocker 1999. Mohler war von 1949 bis 1953 Sekretär Ernst Jüngers (vgl. Jünger/Schmitt, S.658).   zurück

3 Auf den Seiten 458-461 werden vier Briefe als Faksimile wiedergegeben. – Einen besonderen Wert haben innerhalb des Anhangs für das Verständnis der Hauptkorrespondenz relevante Briefe aus dem unmittelbaren familiären Umfeld – so beispielsweise zwei Schreiben der Frau Schmitts Duschka (1903-1950) an Jüngers Frau Gretha (1906-1960) über die Vorgänge im Kontext von Schmitts Inhaftierungen innerhalb der Jahre 1945 bis 1947 und seine Verhöre in Nürnberg (ebd., S.624-629).   zurück

4 Am 2. März 1982 weist – um ein Beispiel zu nennen – Schmitt Jünger "auf ein Dokument über Globke, neulich bei Klett-Cotta[,] Titel: 'Der Staatssekretär Adenauers" (Jünger/Schmitt, S.449) hin. Weshalb liefert Kiesel an dieser Stelle nicht die vollständigen bibliographischen Angaben: Klaus Gotto (Hg.): Der Staatssekretär Adenauers. Persönlichkeit und politisches Wirken Hans Globkes. (Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung; Archiv für Christlich-Demokratische Politik) Stuttgart: Klett-Cotta 1980. Auch in dem vorangegangenen Schreiben Jüngers vom 14. Februar 1982 (Jünger/Schmitt, S.448) wäre eine Literaturangabe zu komplettieren: Dietrich Güstrow: Tödlicher Alltag. Strafverteidiger im Dritten Reich, Berlin: Severin und Siedler 1981. Derartige Ungenauigkeiten durchziehen den gesamten Kommentar.   zurück

5 Vgl. exemplarisch die Passage zu Thomas Mann (Jünger/Schmitt, S.860): "Man bedenke aber [...]; daß ein Thomas Mann 1947 glaubte, schreiben zu können, daß 'die Menschheit' durch die Katastrophe des eben vergangenen Jahrzehnts 'alles in allem [...] ein gutes Stück vorwärts gestoßen worden' sei" (diese Stelle bei: Thomas Mann – Karl Kerényi, Gespräch in Briefen. Zürich: Rhein-Verlag 1960, S.146 [1. Januar 1947]). Entsprechende Äußerungen Kiesels finden sich auch innerhalb seines Aufsatzes: Zwischen Kritik und Affirmation. Ernst Jüngers Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. In: Günther Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn, München, Wien: Ferdinand Schöningh 1997, S.163-172, dort S.169 f. – Zu Kiesels Jünger-Interpretation s. auch ders.: Ernst Jünger 1895-1995. Eine kritische Würdigung von Leben und Werk. In: H. K. (Hg.): Ernst Jünger 1895-1995. Festakt aus Anlaß des 100. Geburtstages. (Heidelberger Universitätsreden, Bd.10) Heidelberg: C. F. Müller Verlag 1995, S.11- 38.   zurück

6 Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hg. von Eberhard Freiherr von Medem. Berlin: Duncker & Humblot 1991.   zurück

7 Ernst Jünger: Siebzig verweht V. Stuttgart: Klett-Cotta 1997, S.151-154.   zurück

8 Das Zitat, ebd., S.154. – In den von Piet Tommissen herausgegebenen "Schmittiana" ist in Bd.1 ein Beitrag des mit Schmitt gut bekannten Diplomingenieurs Ernst Hüsmert, geb. 1928, enthalten, der Eindrücke aus den letzten Jahren Carl Schmitts schildert. In diesem Text, den Kiesel nicht berücksichtigt, findet sich am Ende eine Passage, die mit Jüngers Aussage korrespondiert: "Ein anderes Mal wurde mir nicht klar, für wen er mich hielt. Er fragte, ob ich Ernst JÜNGER kennen gelernt hätte und meinte: 'Man kommt nicht leicht an ihn heran. Er hat seine Aura. Aber er ist ein echter Freund'" (Ernst Hüsmert: Die letzten Jahre von Carl Schmitt. In: Schmittiana 1, hg. von Piet Tommissen. Brüssel 3. Aufl. 1990, S.40-54, hier S.54).   zurück

9 Ernst Jünger: Siebzig verweht III. Stuttgart: Klett-Cotta 1993, S.327 f. (datiert auf "Paris, 25. März 1984").   zurück

10 Ernst Jünger an Carl Schmitt, Berlin, d. 14. Oktober 1939. In: Jünger/Schmitt, S.7.   zurück

11 Zuerst in: Heidelberger Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Bd.58 (1927), Heft 1, S.1-33. Selbständig erschien, nach einer ersten Fassung von 1928, "Der Begriff des Politischen" mit einem auf Berlin, Oktober 1931 datierten Vorwort 1932.   zurück

12 Ernst Jünger an Carl Schmitt, Berlin, d. 17. November 1930. In: ebd., S.8 f., hier S.8.   zurück

13 Ernst Jünger an Carl Schmitt, Wenningstedt (Sylt), d. 4. Juli 1934. In: ebd., S.35 f., hier S.36.   zurück

14 Eine herausgehobene Position nimmt die Diskussion von Arbeiten des französischen Schriftstellers Léon Marie Bloy (1846- 1917) ein. Siehe dazu Ernst Jünger an Carl Schmitt, Wilflingen, d. 23. März 1956: "Seit Wochen lese ich wieder die Tagebücher von Bloy, mit der steten Sorge, daß ich noch einmal über ihn schreiben muß. Das könnte dann nur in der Form einer mystischen Einweihung geschehen – indem ich zuerst den furchtbaren Kadaver dieses Namens zeige, und dann das, was sich ins Absolute aus ihm erhebt. Das ist im Grunde des Menschen Schicksal, und daher kommt es wohl, daß die Lektüre dieser Tagebücher trotz des oft widrigen Stoffes kräftigt wie eine Kommunion. Gerade wenn man down ist, wird das offenbar. Zum Glück kann das im Augenblick von sich nicht sagen Ihr Ernst Jünger" (Jünger/Schmitt, S. 296-298, hier S. 297).   zurück

15 Carl Schmitt, Der Begriff der Piraterie. In: Völkerbund und Völkerrecht 4 (1937/38), S.633-638.   zurück

16 Ernst Jünger an Carl Schmitt, Überlingen a. See, d. 3. November 1937. In: Jünger/Schmitt, S.68.   zurück

17 Carl Schmitt an Ernst Jünger, Berlin- Dahlem, d. 14. November 1937. In: ebd., S.69 f., hier S.70.   zurück

18 Vgl. dazu nur Ernst Jünger an Carl Schmitt, Canstatt, d. 2. Mai 1955. In: ebd., S.269.   zurück

19 Carl Schmitt an Ernst Jünger, ohne Ort, d. 17. September 1941. In: ebd., S.128-130, hier S.129.   zurück

20 Carl Schmitt an Ernst Jünger, Berlin- Dahlem, d. 4. Juli 1941. In: ebd., S.121 f., hier S.121. – Zu Schmitts Bezug auf Benito Cereno vgl. Bernd Rüthers: Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung? München: C. H. Beck 1989, S.93 f.: "Die Figur ist einer Novelle von Herman Melville entliehen. Dort ist Cereno nach außen immer noch der Kapitän eines Piratenschiffes, in Wirklichkeit aber seit langem als tödlich bedrohte Geisel in den Händen meuternder Sklaven, die ihn zwingen, die Kapitänsrolle zu spielen, um so ihre Meuterei zu verschleiern. Manche von Schmitts Anhängern haben dieses Bild für bare Münze genommen. Der unbefangene Betrachter fragt allerdings, warum und mit welchem Ehrgeiz man 1933 Kapitän oder vielleicht Admiral werden wollte. Welche Sklaven waren es, die in den Jahren nach 1933 wann gemeutert haben? Wer hatte die Nähe der Meuterer eifrig gesucht, ja ihre große Gesinnung gefeiert? Wer kannte ihre Brutalität nicht?"   zurück

21 Carl Schmitt an Ernst Jünger, ohne Ort [Plettenberg], Weihnachten 1974. In: Jünger/Schmitt, S.406 f., hier S.406.   zurück

22 Ernst Jünger an Carl Schmitt, Wilflingen, d. 1. Juli 1975. In: ebd., S.409-411, hier S.410.   zurück

23 Ernst Jünger an Carl Schmitt, Wilflingen, d. 1. Februar 1976. In: ebd., S. 414 f., hier S. 415.   zurück

24 Ernst Jünger an Carl Schmitt, Wilflingen, d. 8. April 1981. In: ebd., S.443 f., hier S.443. – Das Zitat in der Überschrift der Rezension stammt aus einem Brief Ernst Jüngers an Carl Schmitt, Goslar, d. 2. Januar 1934 (ebd., S.21). Es handelt sich dabei um ein Urteil Jüngers im Kontext seiner Lektüre des Romans "Reise ans Ende der Nacht" von Louis-Ferdinand Céline, der 1932 in erster Auflage erschienen war.   zurück