Christophersen über Kotowski: Feindliche Dioskuren

Alf Christophersen

Identitätsbildung im Kaiserreich und der Prinzregentenzeit

  • Elke-Vera Kotowski: Feindliche Dioskuren. Theodor Lessing und Ludwig Klages. Das Scheitern einer Jugendfreundschaft (1885-1899). (Sifria. Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 3) Berlin: Jüdische Verlagsanstalt Berlin 2000. 320 S. Kart. DM 58,-.
    ISBN 3-934658-09-1


Als dritter Band einer neu gegründeten, vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam herausgegebenen Reihe liegt jetzt eine Dissertation vor, die sich mit Theodor Lessing und Ludwig Klages befaßt. Die Arbeit steht unter der Prämisse, daß, so betonten es beide späterhin nachdrücklich, "bereits während der Jugendjahre ihr Denken maßgeblich geprägt wurde. Aus diesem Quell schöpfend, entwickeln sie fortan ihre weltanschaulichen Werke" (S.7).

Kotowski unterzieht die drei ersten Lebensjahrzehnte Lessings und Klages einer eingehenden Untersuchung, die durch zwei Eckpunkte markiert wird: Den Beginn einer schnell "fast als symbiotisch zu charakterisieren[den]" (S.9) Freundschaft einerseits und deren Aufkündigung im Jahr 1899 andererseits. Schauplatz dieser Linienführung sind das Hannover und München des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Neben dem Aufweis der wechselseitigen entwicklungsgeschichtlichen und intellektuellen Beeinflussung der beiden Protagonisten will die Verfasserin ihre Arbeit als einen "Beitrag zur deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte" verstanden wissen. Es "soll daher die exemplarische Freundschaft zweier Jugendlicher – eines Nicht-Juden (Ludwig Klages) und eines Juden (Theodor Lessing) – vor dem Hintergrund des Scheiterns der sogenannten deutsch-jüdischen Symbiose dargestellt werden" (S.11). Getragen wird die Entfaltung dieses Zusammenhangs von der These:

Für Klages, dessen ideologische Typisierung der Menschen in >Enorme< und >Belanglose< sich an ihrer Abstammung, d. h. ihrer >Blutbeschaffenheit< orientierte, wurde der >Jude< Lessing als emotionale Bezugsperson und als Bruder im Geiste untragbar (S.11).

In einer Einleitung, an die sich vier Hauptkapitel und ein Epilog anschließen, werden nach einer sehr knappen Erörterung von Quellengrundlage und Forschungsstand Lessing und Klages mit einigen Hinweisen zu Gesamtbiographie und Werk vorgestellt.

Erwähnung finden so etwa neben den Veröffentlichungen "Philosophie als Tat" (1914) und "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen" (1919) Lessings publizistische Einbindung in den von ihm kommentierten Fall des Sexualmörders Haarmann, 1924, der "Anti-Hindenburg-Artikel" von 1925 sowie seine Ermordung in Marienbad (Böhmen), wo Lessing im Exil von einem Nationalsozialistischen Kommando am 30. August 1933 erschossen wurde.

Berücksichtigt werden Klages' "Der Geist als Widersacher der Seele" (1929-1932), "Rhythmen und Runen" (1944), die Gründung von "Graphologischer Gesellschaft", "Psychodiagnostischem Seminar" und schließlich die Klages-Renaissance in den 1990er Jahren. Kotowski nimmt jedoch Abstand davon, sich mit den Werken beider näher auseinanderzusetzen.

Vielmehr wird der Frage nachgegangen, wie Lessing und Klages zu ihrem Denken kamen. Der Hypothese folgend, dass sich ihre Weltanschauung bereits in den Jugendjahren gestaltete und nicht zuletzt aufgrund ihres Gedankenaustauschs, sollen im folgenden die Bedingungen der jeweiligen Entwicklung aufgezeigt werden (S.37).

Kindheit und Jugend in Hannover

Mit in der Regel recht unvermittelten Rückgriffen auf Standardpositionen der Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie wenden sich die zwei ersten Kapitel den Kindheitsgeschichten der beiden 1872 in Hannover Geborenen zu.

"Kindheit im Narrenhaus" (S.43), so tituliert Kotowski das familiäre Umfeld Lessings. Von den Eltern ungeliebt – der Vater war angesehener Arzt, der lediglich aus finanziellen Gründen geheiratet hatte – entwickelte sich Theodor zu einem emotional isolierten Einzelgänger. Mit der Tatsache, jüdisch zu sein, wurde er nicht durch die Familie, die sich gänzlich unreligiös gab, sondern durch spottende Mitschüler konfrontiert. "Der Hass gegen die Eltern, der sich während der Pubertät gegen ihn selbst richtete – gesteigert durch sein Leiden am >Jude-Sein< –, bildete", folgert die Autorin, "für Lessing die Erblast seiner Persönlichkeit" (S.49). In der Schrift "Der jüdische Selbsthaß" verleiht er diesem Umstand 1930 nachdrücklichen Ausdruck. Profilneurotische Lehrer lassen ihn in der Schule, der ">zweite[n] Hölle<" (S.57), sarkastisch und ehrfurchtslos werden.

Übermäßige Strenge und Sicherheitsbedürfnis des Vaters, einem Handlungsreisenden für Tuchwaren, und der frühe Tot der Mutter prägten Klages' familiäre Situation, aus deren Ausweglosigkeit er sich in Phantasiewelten flüchtete. Introversion, "ausgeprägte Imaginationsfähigkeit bzw. >mystische Sicht< der Dinge" (S.77) erkennt Kotowski, worin spätere literarische Ausformungen bereits bruchstückhaft enthalten sind.

1885 wurden Lessing und Klages in der Untertertia zu Klassenkameraden und freundeten sich an. Beide fanden aneinander einen lang gesuchten und benötigten Gesprächspartner, Gesinnungs- und Leidensgenossen. Es bildete sich eine Verbindung, die auch durch väterliches Verbot aufgrund nachlassender schulischer Leistungen nicht zu zerstören war.

In gemeinsamer Begeisterung für den Schriftsteller Wilhelm Jordan (1817-1886), der ihnen "als Glorifizierer der frühen deutschen Helden zum Vorbild wurde" (S.124) verband sie als "Zweck der Freundschaft" ihr "Wunsch nach Selbstfindung und Selbstverwirklichung [...] im Streben nach einem >schöpferischen Sein<". Im der eigenen Vervollkommnung dienenden ">schöpferische[n] Akt< des Dichtens" strebten sie danach "selbst Vorbild und Erzieher am Volke zu werden" (S.117).

Erste Anzeichen für die spätere
schriftstellerische Tätigkeit

Einen Einblick in die Hintergründe und die näheren Ausformungen dieser Bestrebungen vermag ein noch im Original erhaltener Teil des umfangreichen Briefwechsels dieser Zeit zu geben, den Kotowski im Klages-Nachlaß – der sich im Marbacher Deutschen Literaturarchiv befindet – und im Lessing-Nachlaß in der Stadtbibliothek Hannover eruiert und ausgewertet hat. Aus der Korrespondenz, die als "Seelenbarometer und Erkenntnisvermittler" (S.115) charakterisiert wird, zitiert die Autorin ausgiebig und verleiht so dem für die Dissertation zentralen dokumentarischen Stellenwert dieser Quellen einen angemessenen Ausdruck.

So finden der Verfasserin zufolge "Klages' lebensphilosophische Grundgedanken" bereits hier ihre Manifestation, wenn er im Februar 1892 an Lessing schreibt:

Ich fühle und weiß: ich bin ja, was ich war, was ich sein werde; ich bin der Strom und der Sturm, die mich vernichten wollen; ich bin die Welt, wie sie sich für einen Augenblick in gesonderter Form empfinden und begreifen will. Und ich fühle und weiß: ureingeboren ist allem Vergänglichen der heiße Wunsch aus Ohnmachtsbewußtsein, die wilde Lust aus verweigerter Allmacht, der süße Rausch aus zitternder Furcht vor dem siegenden Tode, der trotzende Mut im tödlichen Weh (S.130 f.).

Auch wenn sich diese Sätze vielleicht eher als jugendliche Schwärmerei, denn als Vorform späterer Werke deuten lassen, so gibt der Briefwechsel doch Einblicke in Tiefenschichten intellektueller Selbst- und Fremdwahrnehmung. Durchaus von zeitdokumentarischer Relevanz sind beispielsweise Ausführungen Lessings über einen Besuch der Berliner Universität im Sommer 1891, von der er am 1. August berichtet:

Ein trefflicher, edler, überzeugungstreuer Patriot [...] ist der Historiker Treitschke. Ihn hörte ich über die Freiheitskriege. Er ist ein miserabler Redner, aber will Idealismus; einmal brach er in Thränen aus. Der alte Ernst Curtius gehört zum ausgestorbenen guten Professorentypus. War aber auch etwas langweilig. [...] Am interessantesten war ein Besuch des Charlottenburger Irrenhauses mit dem berühmten Psychologen Mendel. [...] Entsetzliche, schreckliche Blüten treibt das Leben, furchtbare Produkte zeitigt die Hast, der Erwerbsdrang, der Überreiz, die Nervosität unserer Zeit. [...] Ein Theologe war auf der Kanzel hystherisch ins Lachen gekommen; er entwirft nun ein neues Religionssystem. Als er nach dessen Grundidee gefragt wurde, lachte er wild und erklärte: Ich trinke gerne Schnaps. [...] Ich halte überhaupt<, so folgert Lessing, >das ganze moderne Leben für eine Sammlung klinischer Fälle [...] (S.118 f.).

Auf seiner Reise nach Berlin bemühte sich Lessing auch um eine Begegnung mit dem etwas über zehn Jahre älteren Maximilian Harden (1861-1927), von dem er sich Protektion erhoffte. Ein Treffen kam zustande, verlief allerdings enttäuschend, anfängliche Sympathie wendete sich in Ablehnung: ">Seine [sc. Hardens] Bildung ist gering, der Eindruck etwas gewöhnlich; er sieht aus wie ein ziemlich junger, aber abgelebter Schauspieler<" (S.138).

Entscheidende Begegnungen in München

Klages' Kontakte in München:
George-Kreis, Graphologische Gesellschaft
und die Gruppe um Alfred Schuler

Im Anschluß an eine kurze Skizzierung des intellektuellen, künstlerischen Schwabings der Jahrhundertwende, das als "Enklave einer kulturellen Neuorientierung" (S.185) bestimmt wird, in der eine Fülle an "Zirkeln und Kreisen aus aller Herren Länder [...] den Aufbruch in eine neue Zeit" (S.186 f.) übten, befaßt sich Kotowski mit Klages' Einbindung in den George-Kreis und Lessings gleichzeitiger Abgrenzung von diesem.

Konnte die Verfasserin bis zum Jahr 1893 noch auf den Briefwechsel als bislang nicht vollständig ausgewerteter Primärquelle ausführlich zurückgreifen, zeigt sich die Lage jetzt wesentlich komplizierter, weil die Korrespondenz deutlich eingeschränkt wurde und sich weitere Zeugnisse, wie autobiographische Rückblicke, uneinheitlich und widersprüchlich geben.

Klages, wird konstatiert, befand sich, als er nach München zog, in einer "Phase der psychischen Zerrissenheit". Kotowski sieht ihn in Anknüpfung an Erik H. Erikson und Jean Piaget auf der "Suche nach Identität [...], in der ganz elementar der Aufbau von Primärbeziehungen außerhalb der unmittelbaren familiären Bindungen geleistet werden muss" (S.190).

In dieser psychischen Verfaßtheit trifft Klages auf Stefan George (1868-1933) und wird Mitglied des Kreises, der sich allmählich um ihn bildet. "Nach einer zunächst zaghaften Annäherung der beiden so unterschiedlichen Charaktere gewannen George und Klages [...] schnell Sympathie füreinander und führten alsbald hitzige Debatten über die zeitgenössische Kunst" (S.193).

Unabhängig von seiner Bekanntschaft mit George freundete sich Klages mit Hans Hinrich Busse an und gründete mit ihm und dem Medizinstudenten Georg Meyer 1896 die "Graphologische Gesellschaft".

Nachhaltigen Einfluß übte auch die Bekanntschaft mit Alfred Schuler (1865-1923) aus, der Klages tief und zunehmend beeindruckte, verfügte er doch "über ein Wissen [...], das in die tiefsten >Lebensgeheimnisse< hineinreichte" (S.199). Die Eigenart dieser vermeintlichen Geheimnisse bestand, so verdeutlicht die Verfasserin, darin, daß Schuler "sich selbst für eine Reinkarnation eines alten Römers" hielt.

Neben dem Symbol der Swastika – das Hakenkreuz, das Schuler bei Bachofen entdeckte – war das Blut bzw. die >Blutleuchte< eine zentrale Metapher in Schulers Weltanschauung. Als Träger der >Blutleuchte< bezeichnete Schuler jene Personen, die nach seinem Ermessen in ihrem Blute ein >Fluidum< führten, das aus heidnischen und kosmischen Substanzen der Vergangenheit bestünde. Jene, die die >Blutleuchte< in sich trügen, seien Auserwählte [...] (S.202).

Lessings Ankunft in München

Zum Wintersemester 1894/95 begab sich auch Lessing nach München. Er begegnete dem neuen Umkreis, in dem sich Klages jetzt befand, mit Mißtrauen, Ablehnung und Spott. Eifersucht und gekränkte Eitelkeit mögen – so Kotowski – im Spiel gewesen sein. "Enttäuschung und Verbitterung über den offenkundigen Verlust seines Freundschaftsmonopols paarten sich mit seinem Hohn gegenüber jenen Jünglingen, >die auf abfallenden Schultern, die Menschheit himmelan tragen< und den Dichtern, >die im Talar des Prophetentums [...] allerhand Gelüst und Defekt verdecken>."

George wird von Lessing 1910 im Rückblick zynisch als ">zäsarischer Leichnam auf Urlaub<" beschrieben, als ">ein vulkanischer Herd, der zwar damals noch Schlacken warf, aber aus dessen Laven schon die schönen Totenblumen der Dichtung brachen, unsterblich währende Asphodelosgärten<" (S.207).

Umgekehrt stieß auch Lessing auf wenig Gegenliebe. Karl Wolfskehl schrieb an Friedrich Gundolf 1905, Lessing sei ein ">quamiger [sic] Süsswasserfisch oder Süssseifenwasserfisch mit dem Geruch abgestandenen Himbeerpuddings<" (S.208). Die Fronten waren schnell abgesteckt.

Die Kosmiker

1899 formierte sich um einen inneren Zirkel, der aus Klages, Schuler, George und Wolfskehl bestand, der sogenannte Kreis der Kosmiker oder die Kosmische Runde. 1904 führte der "große Schwabinger Krach" zum Zerfall dieses Zusammenschlusses.

Die Kosmiker propagierten und praktizierten die freie Liebe, der sie jedoch eine kultische, metaphysische Bedeutung beimaßen. Sie verehrten einen heidnischen Eros, der, im Gegensatz zur herkömmlichen Erotik, kosmisch, mehr noch kosmogonisch, nämlich weltschöpferisch, sein sollte. Die Enormen, wie sich die Kosmiker nach Klages nannten, sahen sich als Eingeweihte, da sie sich selbst zu den wenigen zählten, die zum erotischen bzw. dionysischen Rausch noch fähig waren (S.228).

Römer- und Germanenkult
contra Ästhetizismus

Das Jahr 1899 bestimmt Kotowoski als Entscheidungsjahr innerhalb des Denkens von Ludwig Klages. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei dem am 29. April des Jahres gefeierten "römischen Fest" zu, auf dem Schuler in seiner Wohnung eigene Fragmente rezitierte und dabei eine derartige Stimmung erzeugte, daß George völlig aus dem Gleichgewicht geriet, sich gegen diese Magie abgrenzte und "es keinen Zweifel mehr an der wahren Existenz der Mythen gab", die Klages "fortan als >Wirklichkeit der Bilder<" (S.234 f.) begriff.

Die Autorin faßt zusammen: "Schulers Römerkult und Klages Germanenkult gründeten laut Klages seit jenem Abend eine Phalanx gegenüber Georges Ästhetizismus der neuen Dichtung" (S.235). Klages bündelte diese Eindrücke in seinem Erwählungsgedanken, der nicht zuletzt im Bruch der Freundschaft mit Theodor Lessing mündete, der sich in jener Zeit durch "Unrast und Verzweiflung" bestimmt sah. "Gejagt von ständigen Gefühlsschwankungen flüchtete er sich in Hypochondrie und wachsenden Zynismus" (S.241). Klages gewann den Eindruck, daß die geistige Entwicklung Lessings stagnierte. Er nahm ihn – so Kotowski – nur noch als >Studienobjekt< wahr, das 1906 in Klages' Text "Ahasver / Ein Dichter" literarisch manifest wurde.

Auseinanderbrechen der Freundschaft

Am 1. Oktober 1899 verfaßte Klages einen Abschiedsbrief an Lessing:

Wir wissen beide (seit langem) um die zunehmende Entfremdung unserer Seelen. Jeder von uns mag wohl seine besondere Formel und Begründung dafür haben, und es wäre vergeblich, darüber Einverständnis erzielen zu wollen. – Mag dies geschehen sein, wie es will, – es ist so, dass unsere geistigen Begegnungen – so äußerlich und oberflächlich sie auch allmählich wurden – mehr und mehr der innere Einklang fehlt. Dadurch aber sind wir uns eher zur Last als zur Freude (S.248).

Bei einer sich an dieses Schreiben anschließenden letzten Begegnung kam es zu einem Vorfall, der für Kotowskis Interpretation eine Schlüsselstellung einnimmt; denn Klages äußerte sich gegenüber Lessing, wie dieser in seinen postumen Erinnerungen von 1935 festhielt, mit dem Satz: ">Du bist ein ekelhafter, zudringlicher Jude<" (S.250).

Klages erinnert sich in Aufzeichnungen, die er für eine geplante Biographie, welche Martin Ninck anfertigen wollte, seinerseits: ">Ich fordere ihn dreimal zum Verlassen des Zimmers auf, beim drittenmal hinzufügend, es sei nicht meine Absicht, länger zu verkehren mit einem zudringlichen Juden<" (S.251).

Auch im Rekurs auf seine Äußerung gegenüber Lessing schreibt Klages am 23. Juli 1951 an Ninck: ">Ihr Widerwillen kristallisiert um den vermeintlichen Antisemitismus meiner Ausführungen. Darüber sind wir, wie mir seit langem bekannt, verschiedener Meinung. Sie gebrauchen das Wort Jude exoterisch, ich soweit es unumgänglich ist, gebrauche es esoterisch<" (S.251).

Exkurs zu Klages' Antisemitismus

Nachdem Kotowski auf den wohl wider besseren Wissens unternommenen Versuch des Klages-Biographen Hans Eggert Schröder hingewiesen hat, Klages' Äußerung als Erfindung Lessings herauszustellen und jeden Vorwurf des Antisemitismus als Zumutung zu kennzeichnen (s. S.251 f.), schaltet sie in ihre Arbeit einen Exkurs mit der Überschrift "Der >Jude< aus der Sicht von Ludwig Klages" ein.

In diesem Exkurs zeigt die Autorin den antisemitischen Duktus des Denkens von Klages und Schuler auf, den sie mit vielen Zitaten zu belegen vermag. Sie verdeutlicht dabei, daß Klages keinen "abstrakten Antijudaismus" vertrat, "der nichts mit persönlichen Ressentiments gegenüber Juden gemein hätte", sondern es läßt sich belegen:

Alle [...] Zuschreibungen über das Wesen des Juden glaubte Klages vielmehr aufgrund eigener >Erfahrungen< belegen zu können. Diente ihm Theodor Lessing als lebendes Exemplar für seine These, dass der Jude gleichsam geborener Hysteriker sei, so akkumulierten sich nach Klages in Karl Wolfskehl alle jene [...] >Merkmale< in einer Person. [...] Klages faßt seine Charakteristik in folgender Wendung zusammen: >Wolfskehl, seelisch und geistig immun, saugt und assimiliert< (S.261).

Schlußbewertung

Kotowski läßt ihre Untersuchung darauf zulaufen, daß Klages' Antisemitismus ursächlich für das Scheitern der Freundschaft mit Lessing verantwortlich sei. Er mußte "den Bruch mit Lessing zwangsläufig herbeiführen [...], um sich damit selbst vom >jüdischen Einfluss< zu befreien". Klages unternahm eine Entpersonifizierung des Menschen Lessing, der "nur mehr als >pathologisches Fallbeispiel< in seinen Studien zur Charakterkunde Erwähnung" (S.12) fand.

Die Verfasserin führt diese These argumentativ plausibel durch und bestimmt sowohl die Eigenarten des auftretenden Antisemitismus als auch die spezifische Form des "jüdischen Selbsthasses" Lessings. Allerdings ist die vorliegende Arbeit auch durch einige deutliche Schwächen geprägt:

  1. Die Frage nach dem Verhältnis Theodor Lessings zum Judentum – ihr ist ebenfalls ein eigener Exkurs gewidmet – und die Erörterung des Antisemitismus werden nicht hinreichend in den gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurs eingebunden, bleiben deskriptiv und zeichnen sich durch eine erkennbare Theorieschwäche aus.
    Unabdinglich zu problematisierende Begriffe und Zusammenhänge wie Lessings Zionismus oder die Termini "Paria und Parvenu" (vgl. S.165 f.) werden nicht tiefgehender behandelt. Ebenso unterbestimmt bleibt die Rede von einer gescheiterten "deutsch-jüdischen Symbiose".

  2. Die häufigen Bezüge auf Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie bleiben unvermittelt und assoziativ. Eine kritische Distanz ist nicht erkennbar.

  3. Irritierend wirkt die Tatsache, daß eine Vielzahl an Wiederholungen bis hin zu einem doppelten siebzehnzeiligen Zitat (vgl. S.130 f. mit S.154) vorliegt. Hier und da wäre die Gedankenführung deutlich zu straffen gewesen.

  4. Die Relevanz der biographischen Durchführungen für das literarische Werk von Klages und Lessing wird nur unzureichend deutlich. Die These, daß die Grundgedanken des späteren Werkes hier bereits in der Jugend, bei Klages sogar abgeschlossen, vorliegen (s. S.8), bleibt offen stehen. Die Dokumentation der unmittelbaren Selbstzeugnisse erscheint ohne den erforderlichen tiefergehenden Werkbezug als unbefriedigend.

Abgesehen von diesen Einwänden liegt jedoch eine gut lesbare Arbeit vor, die mit ihrem neu erschlossenen Quellenmaterial erhellend wirkt. Sowohl die Schilderungen Hannovers als auch des Schwabings der Jahrhundertwende sind geglückt und werden nachvollziehbar mit den Biographien der Protagonisten verknüpft.

Eingefügtes Bildmaterial, biographische Zeittafeln, ein Verzeichnis des Briefwechsels Klages / Lessing und ein Namenregister sind dabei sehr hilfreich.

Elke-Vera Kotowski vermag eindrücklich zu vermitteln, was Lessing meinte, als er in seinen 1935 postum erschienenen Erinnerungen bemerkte: ">Ein Ringkampf feindlicher Dioskuren hub an, deren einer zum Geiste hin, deren Anderer vom Geist fort wollte bei gemeinsamer Erkenntnis der Lebenswunde<" (S.10).


Dr. Alf Christophersen
Ludwig-Maximilians-Universität München
Lehrstuhl für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik
Schellingstr. 3/III Vordergebäude
80799 München

Ins Netz gestellt am 30.01.01

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