Dahm über Urban-Fahr: Der Philo-Verlag

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Volker Dahm

Ein Plädoyer für das historische
deutsche Mehrheitsjudentum

  • Susanne Urban-Fahr: Der Philo-Verlag 1919–1938. Abwehr und Selbstbehauptung (Haskala 21) Hildesheim: Olms 2001. 294 S. 21 schw.-w. Abb. Geb. 35,80 EUR (D).
    ISBN 3-487-11413-5.


Wer regelmäßig Buchantiquariate durchstöbert, dem kann es auch heute noch passieren, dass ihm ein in Leinen gebundener Oktavband in die Hände fällt, der ihm Rätsel aufgibt: Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens, 4. verm. und verbesserte Auflage, Berlin und Amsterdam 1937. Ein "Handbuch des jüdischen Wissens", 1937, zwei Jahre nach den "Nürnberger Gesetzen" und im Vorjahr des Novemberpogroms, in vierter Auflage in Berlin erschienen? Tatsächlich kennt außer einigen Buchhandelshistorikern sowie Fachleuten für deutsch-jüdische Geschichte und historisch gebildeten Juden kaum jemand diesen Verlag, seine Bücher, seine Autoren, seine Anliegen und Ziele, die Bedingungen seiner Existenz in der nationalsozialistischen Diktatur und die in ihm tätigen Menschen.

Philo – ein weitgehend vergessener Verlag

Der Philo-Verlag war das verlegerische Sprachrohr des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und damit das wichtigste Verlagsunternehmen des im Holocaust untergegangenen liberalen deutschen Judentums. Unter jenen, die sich überhaupt noch seiner erinnern, sind nicht wenige, die in ihm, wie im Centralverein selbst, die Verkörperung des historischen Irrtums der deutsch-jüdischen Symbiose sehen, die durch den Holocaust, die Gründung des Staates Israel und die damit verbundene Durchsetzung des zionistischen Denkens, also durch die Geschichte, als Ideologie widerlegt sei.

In dieser zionistischen Revision der Geschichte sieht die Autorin auch den Grund dafür, dass es zwar zwei Monographien über den (kultur)zionistischen Schocken Verlag gibt (in Wirklichkeit eine Monographie und einen Sammelband), der Philo-Verlag aber keine angemessene Darstellung und Würdigung gefunden hat. Es mag durchaus sein, dass Philo, auch aus anderen Gründen, heutige Menschen weniger zu faszinieren vermag als Schocken, doch ist der entscheidende Grund für das Fehlen einer monographischen Studie schlichtweg darin zu finden, dass das Verlagsarchiv nach der erzwungenen Schließung des Verlags im Dezember 1938 wahrscheinlich untergegangen, jedenfalls verschollen und nicht greifbar ist, während der Monograph des Schocken Verlags auf erhebliche Teile des originalen Verlagsarchivs und ein von Salman Schocken in Jerusalem geführtes Zweitarchiv zurückgreifen konnte.

Eine Verlagsgeschichte zu schreiben, ohne auch nur über Reste authentischen Materials aus dem inneren Verlagsbetrieb zu verfügen, ist ein höchst gewagtes Unternehmen, mit dem man leicht scheitern, aber keinesfalls brillieren kann. Allein dass die Autorin dieses Risiko eingegangen ist, verdient größte Anerkennung. Indessen werden die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens schon in einer gewissen Disproportionalität der Darstellung deutlich. Dem Philo-Verlag selbst sind 148 von 273 Seiten gewidmet, während 125 Seiten, also fast die Hälfte, von historischen Kontextfragen handeln.

Inhalt der Studie

Die Einleitung steht unter dem unspezifischen und dadurch irreführenden Titel Warum Verlagsgeschichte? Tatsächlich folgt keine Abhandlung über Sinn und Nutzen der Verlagsgeschichte im allgemeinen, die man an dieser Stelle eigentlich auch nicht erwarten würde, sondern, wie sich das gehört, eine Erläuterung der Ausgangsbasis, der Ziele und des methodischen Ansatzes der Arbeit. In einem zweiten Abschnitt folgen ein kurzer Literaturbericht und eine Beschreibung der vorhandenen und benutzten Quellen.

Unter der Überschrift Definitionen bietet die Autorin dann Erklärungen für die Untersuchung zentraler historischer Begriffe an: Was ist unter einem "deutsch-jüdischen Verlag" zu verstehen, worin liegt also der Unterschied zwischen einem Verlag wie S. Fischer und einem Verlag wie Philo? Was bedeuteten das ideologische Axiom "Deutschtum und Judentum" und darauf bezügliche Parolen wie "deutsch-jüdische Identität", "deutsch-jüdische Symbiose", "Glaube und Heimat", "Geeinte Zwienatur"? Was ist unter "Abwehrarbeit" zu verstehen? Und was hat man sich unter jüdischer "Selbstbehauptung" vorzustellen?

Auf diese propädeutischen Ausführungen folgt ein längeres Kapitel über den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, seine Entstehung, Programmatik und Mitgliedschaft, seine "Abwehrarbeit" bis 1934, das Verhältnis des Vereins und seiner Mitglieder zum Zionismus, die neuen Herausforderungen des Jahres 1933 und die Existenzbedingungen des Vereins bis zur Liquidation Ende 1938, schließlich ein kurzer Ausblick auf Verfassung und Entwicklung der Juden in Deutschland nach 1945.

Hieran schließt sich ein Kapitel über den Philo-Verlag von 1919 bis 1933 an, in dem die Autorin zunächst auf die Gründung des Verlags eingeht, um dann das Verlagsprogramm dieser Jahre unter verschiedenen Aspekten zu würdigen (wobei hier Hinweise auf die organisationsgeschichtliche Entwicklung bis 1933 eingestreut sind); auf zwei Abschnitte, in denen das Wenige, was über Werbung und Vertrieb in Erfahrung zu bringen war, mitgeteilt wird, folgt eine Liste der von der Autorin recherchierten Publikationen des Verlags, von denen dann unter dem Gesichtspunkt der Repräsentativität ausgewählte Veröffentlichungen im einzelnen vorgestellt werden.

Ehe nun der Philo-Verlag in der Zeit des Dritten Reichs dargestellt wird, behandelt die Autorin in zwei Kontextkapiteln die Literaturpolitik im Nationalsozialismus und Das jüdische Buchwesen nach 1933, wobei es sich beim ersten Exkurs um eine knappe, nicht immer ganz überzeugende Zusammenfassung des Forschungsstandes handelt, während sich der zweite auf der Basis von gedruckten Quellen auf die damalige innerjüdische Diskussion um das "jüdische Buch", seine Aufgaben, seine Bedeutung und seine Lage, konzentriert und damit das vorhandene Forschungswissen um weitere Quellenbelege ergänzt.

Das sich anschließende Kapitel über den Philo-Verlag 1933–1938 ist im Wesentlichen genauso gegliedert wie dasjenige über die Jahre 1919 bis 1933. Ein sehr knappes Kapitel über die Schließung des Verlages durch die Gestapo (wohl eher durch das Judenreferat des Propagandaministeriums), den Verlag des Jüdischen Kulturbunds, der bis 1942 existierte, und Ansätze zur Neubelebung jüdischer Verlage in der Bundesrepublik Deutschland sowie ein Resümee schließen die Arbeit ab.

Mehrheitsjudentum und Centralverein

Neben der CV-Zeitung war der Philo-Verlag das wichtigste Kommunikations- und Propagandamittel des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und damit des liberalen bis konservativen deutschen Mehrheitsjudentums, das sich seit der formalen Vollendung der Judenemanzipation im Jahr 1871 mit einer Reihe sozialer und politischer Probleme konfrontiert sah. Noch ehe nach der gesetzlichen auch die praktische Gleichstellung nur annähernd erreicht war, lebte ab 1880 eine neuer, aggressiver Antisemitismus auf, der die Emanzipation in Frage stellte. Zur Wahrung der Gleichstellung der deutschen Juden und zum Zwecke der organisierten Bekämpfung des Antisemitismus wurde 1893 der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gegründet.

Der Name war Programm: Die Juden waren Deutsche wie alle anderen, von anderen nur unterschieden durch die Konfession ganz so wie deutsche Katholiken und deutsche Protestanten. In den zwanziger Jahren wurde diese konfessionelle Definition unter dem Einfluss des gewandelten Zeitgeistes mehr und mehr als unzureichend empfunden: Die Religionsgemeinschaft wurde jetzt zusätzlich als "Stammes- und Schicksalsgemeinschaft" definiert, ohne dass der Gedanke der Doppelidentität preisgegeben wurde. Zu den Auseinandersetzungen mit der sozialen Umwelt kamen innerjüdische Spannungen und Konflikte mit Teilen der Orthodoxie und vor allem mit der neujüdischen Bewegung des politischen Zionismus, der ab 1900 in Erscheinung trat. Außerdem gab es, was die Autorin unerwähnt lässt, Abspaltungen vom Centralverein, die den Patriotismus des Mehrheitsjudentums ins Deutschnationale übersteigerten, vor allem der Verband nationaldeutscher Juden und der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten.

Alle Gruppen beanspruchten, die einzig richtige Haltung gegenüber dem Antisemitismus einzunehmen, und warfen der jeweils anderen Richtung vor, der jüdischen Sache zu schaden. Allerdings handelte es sich bei den deutsch- oder jüdisch-nationalen Juden nur um Splittergruppen; selbst die Zionistische Vereinigung für Deutschland kam vor 1933 an Mitgliedern nie über fünf Prozent der Mitglieder des Centralvereins hinaus.

Jüdische Verlage in Deutschland

Die Autorin erklärt in der Einleitung ausdrücklich, eine "einzige Verlagsgeschichte in ihrer Umwelt" geschrieben und keinen Vergleich mit anderen jüdischen Verlagen angestrebt zu haben. Da dies von der Sache her schwerlich zu begründen ist und auch nicht begründet wird, waren dafür wohl äußere Gründe wie knappe Ressourcen oder Zeitlimits maßgebend. Freilich kann die Autorin diesen Ansatz gar nicht konsequent durchhalten, weil es schlechterdings unmöglich ist, über einen jüdischen Verlag in dieser Zeit zu schreiben, ohne wenigstens dem Jüdischen Verlag und dem Schocken Verlag zu begegnen, erstens wegen ihrer herausragenden Leistungen und zweitens, weil diese Verlage ebenso wie der Philo-Verlag stark ideologisch fundiert waren und für eine bestimmte geistig-politische Richtung im deutschen Judentum der zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stehen.

Da diese Bezüge in der Arbeit von Urban-Fahr nicht systematisch angelegt sind, seien hier einige Hinweise zur Geschichte des jüdischen Verlagswesens in Deutschland nachgetragen: Die ersten Verlage mit jüdischer Programmatik entstanden im Kontext der Nachwirkungen der napoleonischen Emanzipationsdekrete schon Anfang der 1830er Jahre: J. Kauffmann in Frankfurt am Main und M. W. Kaufmann in Leipzig. Gemäß der Forderung nach Aufgabe des jüdischen Sonderdaseins (Assimilation), die damals mit der Gewährung von mehr Rechten verbunden wurde, handelte es sich um konfessionelle Verlage, die religiöse Gebrauchsliteratur (Gebetbücher, Thora-Kommentare etc.), Ritualien sowie eine im jüdischen Milieu spielende Unterhaltungsliteratur kleinbürgerlichen Zuschnitts verlegten.

Als die rechtliche Diskriminierung der Juden beseitigt war, bestimmte Berufe aber weiterhin nur schwer oder gar nicht zugänglich waren, wandten sich die Juden überwiegend selbständigen Tätigkeiten in den freien oder zugänglichen geregelten Berufen zu, darunter auch dem Buchhandel, wo sie als Verleger, Sortimenter oder Antiquare tätig wurden. Oft verbanden sie ihre Tätigkeit mit der Förderung der künstlerischen und literarischen Avantgarde, wofür beispielhaft S. Fischer und die beiden Cassirers genannt sein sollen. "Jüdisch" waren solche Firmen nur insofern, als ihre Inhaber oder Leiter dem Judentum angehörten.

Neues Leben kam in den sich mit jüdischer Literatur für eine jüdische Leserschaft befassenden Buchhandel erst 1902, als in Berlin der Jüdische Verlag gegründet wurde. Die Gründer, unter ihnen Martin Buber, Berthold Feiwel und David Lilien, vertraten in kritischer Treue zum politischen Zionismus das Konzept einer inneren Erneuerung des modernen, kulturell assimilierten jüdischen Menschen durch Wiederaneignung der kulturellen und literarischen Werte des historischen Judentums (Kulturzionismus). Allerdings konnte der Jüdische Verlag die in ihn gesetzten Hoffnungen lange nicht erfüllen, weil er ein Anhängsel der internationalen zionistischen Organisation war und das Schrifttum des politischen Zionismus in Deutschland zu verbreiten hatte. Erst in den 20er Jahren löste sich der Jüdische Verlag unter Siegfried Kaznelson aus der Abhängigkeit von der "Zionistischen Organisation" und veröffentlichte eine Reihe aufwendiger Standardwerke – so die zehnbändige Weltgeschichte des jüdischen Volkes von Simon Dubnow, den Babylonischen Talmud, übersetzt von Lazarus Goldschmidt, in zwölf Bänden und das fünfbändige Jüdische Lexikon. Neben dem Jüdischen Verlag und ab 1919 dem Philo-Verlag gab es in Deutschland vorübergehend noch einige kleine hebräische Verlage wie Choreb oder Klal, die von russischen Immigranten gegründet worden waren.

Die literarischen und editorischen Hervorbringungen der von Martin Buber inspirierten bzw. angeführten "jüdischen Renaissance" erschienen meist nicht in diesen jüdischen Verlagen, sondern in deutschen schöngeistigen Verlagen wie Rütten & Loening, Jakob Hegner, Insel und Lambert Schneider. Zum Kreis der Kulturzionisten gehörte auch der Kaufhausbesitzer Salman Schocken, der 1931 einen eigenen Verlag gründete, um seine herausgeberische und editorische Tätigkeit im Kulturausschuss der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) zu professionalisieren.

Der jüdische Ghettobuchhandel

Im Jahr 1933 wurden die Buchhändler und Verleger jüdischer Herkunft, in begrenzter Zahl auch die Schriftsteller, vor allem aus volkswirtschaftlichen Gründen zunächst in die im Herbst 1933 gegründete Reichsschrifttumskammer, eine berufsständische Zwangsorganisation, aufgenommen. Von Anfang 1935 bis Ende 1938 wurde die Kammer, wie es damals hieß, "entjudet". Wer aus der Kammer ausgeschlossen wurde, verlor das Recht auf Berufsausübung. Die Firmen von Juden wurden "arisiert". Nur wer auf jüdisches Schrifttum spezialisiert war oder bereit war, sich auf solches umzustellen, durfte unter der Überwachung des Propagandaministeriums (Sonderreferat Hinkel) unter Beschränkung auf jüdische Abnehmer weiter arbeiten. Scheinbar paradoxerweise gab es deshalb zwischen 1935 und 1938 mehr "jüdische" Verlage und Buchhandlungen in Deutschland als je zuvor. Dieser parallel zum Reichsverband der Jüdischen Kulturbünde bestehende Ghettobuchhandel wurde im Dezember 1938 liquidiert.

Allerdings weist die Autorin, die diese Vorgänge rekapituliert, zu Recht darauf hin, dass die meisten der bis zu 30 Verlage sehr wenig produziert haben, so dass der Philo-Verlag und der Schocken Verlag, mit mehr als 200 Neuerscheinungen der produktivste von allen, den "jüdischen" Buchmarkt in Dritten Reich im Großen und Ganzen unter sich aufteilen konnten. Auf Grund der unterschiedlichen Verlagsprogramme kamen sie sich dabei nur selten in die Quere. Während der Schocken Verlag hauptsächlich historische jüdische Texte in neuen Editionen mit zeitgemäßer Kommentierung und jüdische Wissenschaft, althebräische Dichtung und neuhebräische Literatur herausbrachte, veröffentlichte der Philo-Verlag als Programmverlag des Centralvereins ausschließlich neue, den jeweiligen Aufgaben des Centralvereins entsprechende Literatur.

Aufgabe und Programm des Philo-Verlags 1919–1933

Von 1919 bis 1933 handelte es sich gemäß dem Bedürfnis, die Gleichberechtigung der Juden zu erhalten und den Antisemitismus zu bekämpfen, größtenteils um apologetisches Schrifttum, mit dem die Gesellschaft über das Judentum objektiv aufgeklärt und die rassistischen und völkischen Irrlehren und Vorurteile über das Judentum entkräftet werden sollten. Die Autorin hebt aus den knapp 160 von ihr nachgewiesenen Titeln folgende heraus: Paul Nathan: Die Ostjuden in Deutschland und die antisemitische Reaktion (1922), Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden (1926), Paul Rieger: Vom Heimatsrecht der deutschen Juden (1.–4. Auflage 1921–1930), Anti-Anti. Tatsachen zur Judenfrage (1.–7. Auflage 1923–1932), Hans Goslar: Jüdische Weltherrschaft! Phantasiegebilde oder Wirklichkeit? (1919), Ludwig Förder: Antisemitismus und Justiz (1924).

Das damals populärste, in einer Gesamtauflage von 32 0000 Exemplaren verbreitete Werk war der Anti-Anti (d. h. Anti-Antisemitismus), ein Handbuch in Form einer Loseblattsammlung im Pappschuber (1932: 170 Blätter mit 78 Schlagworten), das zu jedem antisemitischen Stereotyp Gegenargumente brachte und sich sowohl an Nichtjuden wie auch an Juden richtete, die mit Hilfe dieses Nachschlagewerks ihre Diskussionskompetenz verbessern konnten. Von den anderen genannten Titeln hatte keiner einen größeren Umfang als 38 Seiten. Es handelte sich also um Pamphlete und Broschüren, um politische Gebrauchsliteratur. Leider nennt die Autorin in ihrer Bibliographie keine Umfänge, doch liegt es nahe, dass auch die meisten anderen Publikationen dieser Gattung zugehörten.

Hiervon stach die in der Arbeit relativ ausführlich gewürdigte, von Julius Goldstein im Philo-Verlag herausgegebene Zeitschrift Der Morgen ab – eine geistige Revue, die sich über der Alltagsebene mit Grundfragen des Judentums und ihrer Beziehung zur Umwelt befasste und ab 1925 als Forum der elitären innerjüdischen und jüdisch-christlichen Diskussion in gewisser Weise an die Stelle der – allerdings existenzzionistischen – Zeitschrift Der Jude trat, die Martin Buber von 1915 bis 1920 herausgegeben hatte.

Aufgabe und Programm des Philo-Verlags 1933–1938

Die Machtergreifung Hitlers brachte für den Philo-Verlag naturgemäß einen tiefen Einschnitt. Nachdem der bekämpfte Gegner an der Macht war, mussten selbstverständlich alle apologetischen Schriften, in denen die Nationalsozialisten oder die neue antisemitische Staatsdoktrin angegriffen wurden, also nahezu die gesamte backlist, zurückgezogen und vernichtet werden, was die Autorin an einzelnen Beispielen illustriert, ohne die Dramatik dieses Vorgangs ganz deutlich zu machen. Von den Kosten einer solchen Umstellung abgesehen, wurde der Verlag gleichsam über Nacht seiner ideologischen Basis und seiner Zielsetzungen beraubt. Die in kurzer Zeit zu leistende programmatische Neuorientierung geht am besten aus einer Anzeige der mit dem Verlag verbundenen Buchhandlung hervor, die für "Bücher zur Orientierung über die Lage der Juden", "Bücher zur Belehrung" und "Bücher zur Unterhaltung" warb. Alle Neuerscheinungen bis zur Verlagsschließung 1938 können einer dieser Kategorien zugeordnet werden.

Die Autorin hebt aus ihrer 41 Titel umfassenden Bibliographie die folgenden heraus: Margarete Edelheim: Südafrikanische Impressionen (1936) als Beispiel für die Auswanderungsliteratur, das Mädchenbuch Spatz macht sich von Meta Samson (1938), die formal am Vorbild der beliebten Schocken-Bücherei orientierte Philo-Bücherei ( 6 Bände, 1935–1937) mit Erzählungen und Gedichten zeitgenössischer Autoren, das Philo-Lexikon (1.–4. Auflage, 1934–1937), das Philo Zitaten-Lexikon. Worte von Juden – Worte für Juden (1936) als Fortsetzung des Anti-Anti mit anderen Mittel und der Philo-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung (1938). Am populärsten und besten verkäuflich waren die drei äußerlich identischen Lexika (gleiche Größe, gleicher Einband) und von diesen wiederum das Philo-Lexikon, von dem 31 000 Exemplaren hergestellt wurden.

Monita

Im Ganzen gesehen bleibt das Buch von Susanne Urban-Fahr hinter dem Standard der heutigen Verlagsgeschichtsschreibung zurück. Dies liegt hauptsächlich an der misslichen Quellensituation und ist der Autorin deshalb kaum vorzuwerfen. Leider werden aber historische Fakten nicht immer korrekt wiedergegeben: Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hieß damals Börsenverein der Deutschen Buchhändler und wurde keineswegs in den Bund Reichsdeutscher Buchhändler umgewandelt, vielmehr handelte es sich um zwei Organisationen mit teilidentischer Mitgliedschaft. Es stimmt auch nicht, dass "viele der emigrierten, ermordeten und verbannten Schriftsteller" bis "vor wenigen Jahren" vergessen waren, denn tatsächlich setzte die Wiederentdeckung dieser Autoren schon vor zwanzig, dreißig Jahren ein (Tucholsky-Ausgabe bei Rowohlt 1960–1967, Ernst-Weiß-Ausgabe bei Suhrkamp 1982, Margot Wiesner: Verbrannte Bücher, verfemte Dichter 1980).

Werner Levie war nicht Leiter der Verlagsabteilung des Reichsverbands der Jüdischen Kulturbünde, die es gar nicht gab, sondern Leiter des Jüdischen Kulturbunds in Deutschland e.V. (ab 1939), dessen Verlagsabteilung von Erich Liepmann geführt wurde. Der Zusammenschluss der jüdischen Kulturbünde im Reichsverband der Jüdischen Kulturbünde erfolgte nicht im Herbst 1933, sondern im Frühjahr 1935; die Reichsvertretung musste sich nicht "im Zuge der Nürnberger Gesetze" in Reichsvertretung der deutschen Juden" umbenennen, um im Juli 1939 zur Reichsvertretung der Juden in Deutschland zu werden, sondern nannte sich seit ihrer Gründung 1933 Reichsvertretung der deutschen Juden, musste sich dann – weil die Wortverbindung "deutsche Juden" unerwünscht war – 1935 in Reichsvertretung der Juden in Deutschland umbenennen und wurde schließlich von der Gestapo im Juli 1939 in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland umgewandelt.

Unbefriedigend sind auch die beiden Bibliographien der Publikationen des Philo-Verlags. Die Autorin hat sich bei der Titel-Recherche auf die Auswertung von Verlagsverzeichnissen und Aufzeichnungen in Nachlässen beschränkt und die üblicherweise heranzuziehenden bibliothekarischen Hilfsmittel außer acht gelassen. Allein wegen der Chance, weitere Titel zu identifizieren, wäre es sinnvoll gewesen, den Verlegerkatalog der Deutschen Bücherei und das in jeder größeren wissenschaftlichen Bibliothek vorhandene Gesamtverzeichnis des deutschen Schrifttums (GV) bzw. die Deutsche Nationalbibliographie (DNB) heranzuziehen; darüber hinaus hätten sich auf diesem Wege die Autoren, Titel und Erscheinungsjahre verifizieren und jetzt vielfach fehlenden Formalangaben (Umfang, Größe) erschließen sowie abgekürzte Vornamen auflösen lassen. Eine Fülle von Flüchtigkeitsfehlern (fehlende Wörter, Verschreibungen), die auf eine sehr eilige Drucklegung schließen lässt, stört die Lektüre. Man hätte dem Buch eine sorgfältige Lektorierung durch den Verlag gewünscht, aber das kann heutzutage bei Dissertationen leider nicht mehr erwartet werden. Leider fehlt dem Buch auch ein Personenregister.

Schlußbemerkung

Die Autorin hat es sich zur Aufgabe gemacht, am Beispiel des Hauptverlags des liberalen deutschen Judentums in die versunkene Welt des deutsch-jüdischen Bürgertums einzuführen und dabei selbst ein Beispiel für eine Betrachtungsweise zu geben, die der historischen Bedingtheit des Denken und Handelns der deutschen Juden, der teils individuellen, teils kollektiven Gemengelage zeitspezifischer Optionen und Zwänge, gerecht wird und ihre Urteilskriterien nicht aus einem ahistorischen Denken bezieht, das das Wissen um Auschwitz zum Maßstab aller Dinge macht. Das Buch ist ein Plädoyer für Verständnis und Gerechtigkeit für das historische deutsche Mehrheitsjudentum. Die Autorin stellt sich damit erklärtermaßen in die Tradition der Forschungs- und Aufklärungstätigkeit der Leo Baeck Institute.


Dr. Volker Dahm
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Ins Netz gestellt am 21.02.2003
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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