Daiber über Henderson: Novalis' Idee einer Experimentalphilosophie

Jürgen Daiber

Sinnlichkeit und Abstraktion -
Novalis' Idee einer Experimentalphilosophie

  • Fergus Roy Henderson: Novalis's idea of "Experimentalphilosophie". A study of Romantic science in its context. International Archives for the History of Ideas. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers 2001.


Das Experiment
als zentrales Analysekriterium

Der Begriff Experiment ist in der Literaturwissenschaft gängige Münze - bis hin zum inflationären Gebrauch. Die Novalis-Forschung macht hierin keine Ausnahme. Auch sie weist mehrere Arbeiten auf, die den Begriff des Experiments für ein Verständnis der Texte von Novalis fruchtbar zu machen suchen. 1

In keinem der oben genannten Fälle wurde der Terminus jedoch zum zentralen Analysekriterium erhoben, zum "key term under which Novalis's thought can be analyzed with effective results" (S. 33). Hier betritt Hendersons Dissertation mit ihrem Anspruch Neuland. Hendersons Verständnis des Begriffs Experiment ist dabei wesentlich von drei zentralen Annahmen geprägt:

  1. Das Experiment bei Novalis ist laut Henderson niemals nur ein meßtechnischer Kontrolle unterworfener Test an Objekten der äußeren Natur. Novalis faßt das Experimentieren vielmehr als eine Aktivität, die im Wechselspiel zwischen theoretischer Konzeption, Integration des Subjekts in den Gang der Experimentation und praktischem Erproben am Objekt stattfindet . (S. 111: "In 'experiment' experience and theory are united").
  2. Um zwischen Theorie und Phänomen zu vermitteln, wählt der Experimentator bei Novalis spezifische Formen symbolischer Repräsentation, mittels derer er das Wechselspiel zwischen Sinnlichkeit und Abstraktion, objektiver Betrachtung und subjektiver Empfindung gestaltet. Wichtige Einflußgrößen für Novalis sind hierbei Herders Plastisierungsmethode, Goethes aktiver Empirismus und neuplatonische Strömungen wie etwa Plotins thätiger Empirismus, die sich bei Novalis zum Konzept des phenomenal calculus verdichten.
  3. Laut Henderson läßt sich aus Novalis' eigenen praktischen Experimentationen und seiner Verwendung des Terminus in den theoretischen Schriften zeigen, daß aus Hardenbergs Perspektive Wissenschaft und Ästhetik gleiche Unternehmungen sind. Gleich insofern, als die Konzepte wissenschaftlicher und ästhetischer Produktivität identischen Wurzeln entspringen, deren Einflußgrößen Henderson für das Denken von Novalis belegt. (S. 213: "Novalis's notion of experimental knowledge implies the making of knowledge itself [...] and imbues ‚experiment' with strong elements of practical knowledge and aesthetics").

Die Entfaltung und der Beleg obiger Thesen wird von Henderson in vier Kapiteln unternommen. Nach der Einleitung, die eine fundierte Auseinandersetzung mit der bereits existierenden Forschungsliteratur zum Thema enthält und Novalis innerhalb der romantischen Naturphilosophie überzeugend verortet, beschäftigen sich die ersten beiden Kapitel mit den Einflußgrößen, die für Novalis' theoretische Konzeption seiner "Experimentalphilosophie" maßgeblich sind.

Experimentelle Einflußgrößen

In diesen Passagen bietet Hendersons Dissertation eine Kompilation des aktuellen Stands der Novalis-Forschung in puncto Experiment und damit wenig Neues. Er zeigt die Einflüsse der Mathematik, vor allem Novalis' Studien zum Infinitesimalkalkül, welches Hardenberg über die Schriften von Condorcet , Euler, Lagrange et al. kennenlernt. Henderson repetiert hier die der Novalis-Forschung bekannten Fakten. 2

Weiterhin geht er auf die philosophischen Bezüge des Experiment-Begriffs bei Hardenberg ein. Henderson nennt hier zu Recht Kants Konzeption einer Transzendentalphilosophie und Fichtes idealistischen Gegenentwurf. Novalis naturphilosophische Überlegungen mit ihrer Betonung des Experiments als Instrument der Erzeugung neuen, unbekannten Wissens sind ohne diese theoretischen Stützen unverständlich. Dies ist in der Novalis-Forschung vor allem durch die Arbeiten Manfred Franks communis opinio; Henderson stützt sich darauf.

Als weitere zentrale Einflußgröße auf Novalis Experiment-Begriff nennt Henderson mit jedem Recht den Neuplatoniker Plotin. Seine von Novalis als "thätiger Empirismus" übernommene Methode ("das Abstracte soll versinnlicht, und das Sinnliche abstract werden"), wirkt ebenso wie Herders Schrift "Plastik" und Goethes Betonung des Wechselspiels von sinnlicher Beobachtung und der Fähigkeit zur Abstraktion in jedem Experiment. Hans-Joachim Mähl hat Plotins "thätigem Empirismus" eine einschlägige Studie gewidmet. 3

Auch die Einflüsse Kants und Fichtes sind in der Forschung vor allem durch die Arbeiten von Frank, 4 Mähl, 5 Uerlings 6 et al. hinreichend aufgeschlüsselt. Henderson weiß um diese geleisteten Vorarbeiten und referiert sie in diesen Passagen der Studie kompetent, indem er aus dem Vorhandenen die für seinen eigenen Ansatz notwendigen Versatzstücke destilliert.

Das Experiment bei Novalis

Die Früchte dieses Destillats erntet Henderson - nachdem er die ersten beiden Kapitel zur Darstellung der externen Einflußgrößen nutzt - vor allem in Kapitel 3 and Kapitel 4.
In diesen beiden Teilen liegt m.E. der neue Forschungsbeitrag von Hendersons Studie.

Henderson geht hier in seinen Überlegungen zunächst von einem zentralen Axiom romantischer Naturphilosophie aus: dem Glauben an eine einheitliche Kraft innerhalb der Natur, die sowohl den Bauplan des menschlichen Geistes als auch jenen der äußeren Naturobjekte enthält. Die romantischen Naturphilosophen nahmen mit anderen Worten an, daß eine Urkraft die Gesetze des Geistes und jene der Natur lenkte. Diese Urkraft vermuteten sie wahlweise im Magnetismus, im Galvanismus oder der Elektrizität.

Henderson vermag nun zu zeigen, wie Novalis die Suche nach dieser Urkraft über seine chemischen Studien zum Phosphor betreibt, in welchem er jenes Grundelement erblickt, welches ihm als "Muster des Experimentirens" (S. 230) gilt. Henderson erweist sich in der nun folgenden Diskussion a) als profunder Kenner der zeitgenössischen Chemie und er kann b) überzeugend nachweisen, wie Novalis seine Versuche zum Phosphor nutzt, um über die chemischen Versuche nach einer Verbindung von Mechanik, Elektrizität und Optik zu suchen, also jener "unifying theory" (S. 278), deren Nachweis die romantische Naturphilosophie anstrebt. Schließlich entwickelt Henderson c) in diesem Kapitel einleuchtend, daß diese Suche bei Novalis nicht nur über eine Experimentation äußerer Naturerscheinungen vonstatten geht, sondern daß der Experimentator und die von ihm angewandten Regeln der Produktion von Wissen mit der Untersuchung der äußeren Naturerscheinung in Wechselwirkung treten.

Hendersons Argumentation überzeugt in diesen Passagen. Kritisch anmerken ließe sich lediglich, daß er eine neuere Quelle zu Novalis chemischen Versuchen unerwähnt läßt (die sogenannten Salinenschriften) und daß sich seine Argumentation lediglich auf eine Belegstelle stützt, was nicht zwangsläufig ein Manko sein muß (S. 279: "Even though a wealth of support for Novalis's programme for unifying theory arises out of his treatment of phosphorus, this is still only one key substance, found in only one, albeit significant, fragment").

Novalis und Johann Wilhelm Ritter

Im vierten Kapitel seiner Diskussion beschäftigt sich Henderson schließlich mit einer Verbindung, die in der Forschung bis dato zu wenig gesehen wurde: Novalis' Kontakt zu dem für die romantische Naturphilosophie einflussreichen Physiker Johann Wilhelm Ritter.

In Ritters Studien zum Galvanismus findet Novalis eine Entsprechung zu seiner eigenen methodischen Konzeption des Experiments. Diese methodologische Beziehung liegt für Henderson in der Rolle der Abbildungen von Ritters Experimenten zu galvanischen Wirkungen an den Schenkelnerven des Frosches. Diese Abbildungen liefern im Sinne von Novalis exakt jene symbolische Repräsentation, welche die von Novalis angestrebte Mittelposition zwischen dem Abstrakt-Repräsentativen und dem Realistischen hält. Eine derartige Form der Repräsentation leistet für Novalis laut Henderson somit das, was Novalis selbst mit seiner Konzeption des phenomenal calculus unternimmt: Sie stellt eines jener übergreifenden Experimente dar, welches zwischen sinnlicher, praktischer Arbeit am Phänomen und der hinter diesem Phänomen liegenden Theorie vermittelt (S. 370: "In its combination of theory and phenomena in an entirely concrete process of knowledge, Ritter's Beweis [das Hauptwerk Ritters zum Galvanismus, welches die Abbildungen enthält] is a step towards the Golden Age, the time when the inquirer and Nature will be one").

Henderson bietet in diesem Kapitel in mehrfacher Hinsicht für die Novalis-Forschung Neues:

  1. Er wertet die bisher unbekannte Beziehung zwischen Ritters galvanischen Abbildungen und Novalis Methodik des "phenomenal calculus" aus.
  2. Er kann zeigen, wie Novalis in Ritters Diagrammen jene "Instrumentalsprache" vorfindet, die ihm als geeignete Repräsentation einer Verbindung von Phänomen und Theorie erscheint.
  3. Er weist auf eine wichtige Verbindung zwischen zwei Experimentatoren der romantischen Naturphilosophie hin, die bisher von der Novalis-Forschung zu wenig zur Kenntnis genommen wurde. 7

In einem abschließenden Teil zieht Henderson Resumée und endet mit einigen grundsätzlichen Überlegungen zum Diskurs zwischen den beiden Kulturen Wissenschaft und Ästhetik. Dieser Teil fügt dem zuvor Gesagten nichts wesentlich Neues hinzu und referiert den Status quo aktueller Forschungspositionen.

Fazit

In Abwägung aller Vorzüge und kleineren Mängel dieser aus Hendersons' Dissertation hervorgegangenen Studie steht unter dem Strich ein durchaus neuer und innovativer Forschungsbeitrag, der anhand des Schlüsselbegriffs Experiment Novalis' Position im philosophischen und naturwissenschaftlichen Diskurs seiner Epoche plausibel verortet.


PD Dr. Jürgen Daiber
Universität Trier
Neuere deutsche Literaturwissenschaft
D-54286 Trier
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Ins Netz gestellt am 13.03.2001

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Anmerkungen

1 Vgl. etwa: Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Bd. 1. München 1983, S. 398-442; Dennis F. Mahoney: Die Poetisierung der Natur bei Novalis. Bonn 1980; Ulrich Gaier: Krumme Regel. Novalis "Konstruktionslehre des schaffenden Geistes" und ihre Tradition. Tübingen 1970.   zurück

2 Vgl.: John Neubauer: Symbolismus und symbolische Logik. München 1978; Martin Dyck: Novalis and mathematics. Chapel Hill 1961.   zurück

3 Hans-Joachim Mähl: Novalis und Plotin. Untersuchungen zu einer neuen Edition und Interpretation des Allgemeinen Brouillon. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Tübingen 1963, S. 139-250.   zurück

4 Manfred Frank: Philosophische Grundlagen der Frühromantik. In: Athenäum 4 (1994), S. 37-130.   zurück

5 Hans-Joachim Mähl: Eine unveröffentlichte Kant-Studie des Novalis. In: DVS 36 (1962), S. 36-68.   zurück

6 Herbert Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Stuttgart 1991.   zurück

7 Eine Ausnahme bildet: Walter D. Wetzels: Johann Wilhelm Ritter: Physik im Wirkungsfeld der deutschen Romantik. Berlin 1973.   zurück