- Helene Schruff: Wechselwirkungen. Deutsch-Jüdische Identität in
erzählender Prosa der "Zweiten Generation". (HASKALA.
Wissenschaftliche Abhandlungen, hg. vom Moses-Mendelssohn-Zentrum für
europäisch-jüdische Studien, Bd. 20) Hildesheim, Zürich, New York:
Georg Olms Verlag 2000. 262 S. Geb. DM 78,-.
ISBN 3-487-11031-8.
Erst in jüngster Zeit ist die
germanistische Literaturwissenschaft darauf aufmerksam geworden, daß
sich jenseits der vielbeachteten "Holocaust-Literatur" 1 seit den achtziger Jahren eine
deutschsprachige Literatur von jüngeren Autor(inn)en jüdischer Herkunft
entwickelte. Nach den diskursiven Filmereignissen "Holocaust"
(1978/79) und "Shoah" (1986) und der seither zunehmenden
Medienpräsenz der Massenvernichtung der europäischen Juden in den
Debatten um die 'Vergangenheitspolitik' in Deutschland und Österreich
haben sich - so Helene Schruff - "junge Juden" zunächst in
essayistischer und journalistischer Form öffentlich geäußert (vgl.
S.12).
Von den nach der Shoah geborenen Juden spricht die
Literaturwissenschaft ebenso wie die Soziologie als der '2. Generation'
(S.13, Anm. 5-7). Romane und Erzählungen dieser Generation werden in
Schruffs Dissertation von 1998 nach den vielfältigen Formen der
"Suche nach Referenzen für eine jüdische Identität" befragt
(S.237). Für die Rekonstruktion dieses jüdischen
"Dauerthemas" (S.34) zieht die Berliner Philologin allerdings
nur "Erstlingswerke" heran - insgesamt fünfzehn Texte von
Maxim Biller, Esther Dischereit, Barbara Honigmann, Doron Rabinovici,
Rafael Seligmann, Robert Schindel und Lothar Schöne.
1. Deutschsprachige jüdische Gegenwartsliteratur
Bereits die Anführungszeichen bei der Einteilung in '1.
und 2. Generation' verweisen auf das Problem der Festlegung des
Textkorpus, dem sich Schruff durch die Befragung der Geburtsdaten von
Autor(inn)en annähert. Maßgeblich für diese Kategorisierung seien die
"biographische Gemeinsamkeit, Kind von Shoah-Überlebenden zu
sein", sowie die daraus resultierende "lebenslange prägende
Bedeutung" dieses Faktums (S.13).
Die weitere Diskussion dieser
Festlegung wird in insgesamt vier Fußnoten mit Verweis auf Claus
Leggewies Studie zur neunundachtziger Generation 2 mit dem Ergebnis geführt, daß es "Grenzfälle"
wie Robert Schindel oder Lothar Schöne gebe. Sie ließen sich nicht in
diese Zuschreibung integrieren, weil Schindel 1944 geboren und damit
"child survivor" sei, Schöne sich "nicht als Jude
verstehe" und zudem "als solcher nicht wahrgenommen"
werde (Anm. 4, S.12, sowie Anm. 5, 6, 7, S.13). Die vermeintliche
Lösung dieses Dilemmas besteht für Schruff darin, nur Texte solcher
Autor(inn)en zu berücksichtigen, die erstens die Verfolgung "nicht
selbst" erlebt, sondern erst durch ihre "Eltern davon
erfahren haben", und die sich zweitens als Juden bezeichneten und
"dieses Jüdisch-Sein in ihren Werken" thematisierten
(S.12).
Damit liegt auch hier eine Arbeit vor, die "den
deutsch-jüdischen Autoren [...] durch dogmatische
Etikettierung ihrer Werke Gewalt" 3
antut. Der Zugang über das Selbstverständnis der Autor(inn)en und ihrer
Biographie erweist sich als inkonsistent. So etwa im Hinblick auf die vergleichsweise umfangreiche
Literatur der 1942 geborenen und von Schruff nicht berücksichtigten
Autorin Katja Behrens, deren erster Roman "Die dreizehnte
Fee" bereits 1983 erschienen ist. 4
Jüdische Identitätsprobleme werden zudem auch in der Literatur von
nichtjüdischen Autoren ausgemacht, aber nicht weiter hinterfragt. 5
Das Desiderat der ausschließlichen
Befassung mit fiktionalen Texten versucht Schruff dadurch aufzufangen
(S.17), 6 daß sie den jeweiligen
jüdischen Hintergrund der behandelten Autor(inn)en durchgehend präsent
hält. Er ist zudem leitend bei der Klärung grundlegender Kategorien: So
sei es unter den gewählten Autor(inn)en alleine Rafael Seligmann, der
sich "eindeutig zu einer territorialen und emotionalen
Zugehörigkeit zu Deutschland" bekenne. Dies lege es nahe, nicht
mehr von deutsch-jüdischer, "sondern von deutschsprachiger
jüdischer Literatur" zu sprechen (vgl. S.30).
2. Jüdische Identitätsmodelle nach der Shoah
Auf dem Weg zu thematisch orientierten Kapiteln -
'Eltern', 'Religion', 'Shoah', 'Antisemitismus', 'Gojim' und 'Heimat' -
referiert die Autorin die umfangreiche Forschung zu jüdischen (wie
ansatzweise auch nicht-jüdischen) Identitätskonstruktionen mit einem
Schwerpunkt bei der Vorstellung der Strömungen in der jüdischen
Tradition vor und nach der Shoah. Auf der Basis von Zygmunt Bauman und
Emanuel Lévinas wird an die Prozesse der Ausbildung eines Ichs in der
Moderne erinnert, die erst zu der "Idee einer Identität"
(Bauman) geführt habe (S.51). Die deutsch-jüdische
Literatur sei von Beginn an durch die "konfliktreiche
Auseinandersetzung der Helden mit ihren verschiedenen Ausgangs- und
Zielidentitäten" (S.23) geprägt gewesen. 7
Unter den heterogenen Positionen in der Diskussion zur
jüdischen Identitätsbildung nach der Shoah favorisiert Schruff
diejenige des französischen Philosophen Alain Finkielkraut. In seinem 1985 erschienenen Essay "Le juif
imaginaire" 8 habe er sich scharf
von den Juden seiner Generation distanziert, die sich ausschließlich
über die Shoah als jüdisch definiert hätten (vgl. S.46). "[S]tatt
die Opfer für die eigene Selbstbestimmung zu instrumentalisieren"
(S.47), setze Finkielkraut auf die Ausbildung einer eigenständigen
Identität.
Diese Thesen werden durchgehend, doch insbesondere bei
den Beobachtungen zu denjenigen literarischen Figuren herangezogen,
deren Identitätskonstruktion sich vor dem Hintergrund der Shoah
vollzieht, wenngleich die Protagonisten der deutschsprachigen jüdischen
Autor(inn)en de facto den "umgekehrten Weg zu [...]
Finkielkraut" gingen! (S.123).
3. Wie über deutschsprachige jüdische Literatur
sprechen
Neben diesem philosophischen Impuls, der insbesondere
auf die spezifische Situation der französischen Juden zielt, weist
Schruff sämtliche weiteren, von französischen Autoren bereitgestellten
Instrumentarien zurück, ohne deren produktiven Wert für das eigene
Projekt zu hinterfragen. Dabei genügt ihr der Hinweis auf die
"postmodernen Identitätsansätze" bei Lacan, Foucault,
Derrida, Lyotard und Baudrillard, denen die Forderung nach der Aufgabe
eines "subjektorientierten Denkens" gemeinsam sei. Gerade dem
aber - so Schruff - folgten die ausgewählten Autoren in ihren Texten
"bei den Identitätskonstruktionen" nicht (S.36).
Gerade für die Analyse von Texten, in denen die Shoah einen
"wesentliche[n] Gegenstand" (S.111) darstellt, hätten etwa
die Überlegungen Derridas zur Wiederanknüpfung an das
"Unverknüpfbare" ohne seine Überwindung zumindest diskutiert
werden müssen. 9 Hier zeigt sich die
generelle Tendenz der Literaturwissenschaft, auch beim Problemfeld
'Shoah' die 'Rückkehr des Autors' 10
zuungunsten einer "thematischen Analyse" und gegenüber
"strukturell-formelle[n]" Untersuchung[en]" 11 zu favorisieren (vgl. S.18). Damit
schafft Schruff sich eine Perspektive, die auf zahlreichen Ebenen
'jüdische Identitätskonstruktionen' anhand von Reflexionsprozessen
einzelner Figuren mit jüdischem Selbstverständnis ins Blickfeld
rückt.
4. Transgenerationelle Prozesse
In Bezug auf die Shoah - so Schruff - scheuten sich
Schindel wie auch die anderen analysierten Autoren im Gegensatz zu
ihren französischen Schriftstellerkollegen davor, "Worte für das
angeblich Unbeschreibbare zu finden" (S.115). Insbesondere Esther
Dischereit sehe die Gefahr der Banalisierung des "Grauens der
Verfolgung und Ermordung" bei jeglichen sprachlichen
"Ausdrucksformen" (S.116). So verzichte sie in "Joëmis Tisch" (1988) im Gegensatz zu den Ich-Erzählern bei Lothar Schöne,
Robert Schindel oder auch Rafael Seligmann auf eine Beglaubigung des
Erlebten durch die Elterngeneration, das nur durch
"Andeutungen" in kurzen "willkürlich
aneinandergereiht[en]" (S.117) Abschnitten vermittelt werde.
Dennoch scheine das "Schicksal der Mutter [...] wie eine Folie
unter den gegenwärtigen Ereignissen [...] zu liegen" (S.118).
Dagegen werde die Shoah in Lothar Schönes "Das
jüdische Begräbnis" (1996) über Gespräche des Ich-Erzählers mit
Überlebenden in direkter und indirekter Rede, durch das Zitieren von
Briefen, NS-Gesetzestexten oder auch Krankenberichten vielfach
"ohne Worte" bezeugt (vgl. S.120). Bei
ihm zeigten sich in "nonverbalen", an die 'Oral History'
angelehnte Verfahrensweisen, 12 die
"in besonderem Maße den Gedächtnisprozeß" thematisierten: das
"mühevolle Konstruieren" der Nachgeborenen bei der
"Suche nach Fragmenten einer jüdischen Identität".
Die 'Spätfolgen' der Shoah bei der Mutter
überschatteten "Kindheit und Jugend" des Ich-Erzählers, so
daß sein Erzählen ihres Erinnerungsprozesses auch "einen
konstitutiven Bestandteil seines eigenen Bewußtsein[s]"
dokumentierten (S.122 f.). Im Geschlechtervergleich sei auffällig, daß
die weiblichen Figuren sich mental und physisch mit den Opfern
identifizierten, während die männlichen zwischen
"Verfolgungswahn" und dem Aufbau von
"Schutzmechanismen" mit der Folge einer Ablehnung der
"Shoah-Identität" noch am ehesten Finkielkrauts Position
entsprächen (S.137).
Die so angezeigte geschlechterspezifische Differenz
wird durch eigene Textbeispiele nicht bestätigt. So wird man das
Eintauchen in den See von Auschwitz-Birkenau (in den die Asche der
Ermordeten versenkt worden war), den der männliche Ich-Erzähler in
Lothar Schönes "Ein jüdisches Begräbnis" (1996) imaginiert,
trotz seiner kritischen Äußerungen "über den Umgang mit der
öffentlichen Erinnerung an die Opfer der Shoah" (S.136) nicht als
einen "aggressiven" Abwehrmechanismus bezeichnen können.
Dieser ziele auf die Zurückweisung einer Identitätskonstruktion über
die Shoah.
Ein solcher Befund, wie ihn Schruff
hier formuliert, vermag nicht zu überzeugen, wenn man weiß, daß der
Protagonist sich auf "makabre Weise als Lebender unter Toten"
findet, mit ihnen gesprochen zu haben glaubt und schließlich
feststellt: "Die Erinnerung ist so übermächtig, daß sie heute
jüdische Identität stiftet" 13
(S.135f.). Zudem weist Schruff selbst darauf hin, daß hier "der
Wunsch einiger Nachgeborener zum Ausdruck" komme,
"'dabeigewesen' zu sein" (S.135, Anm. 209).
Die weiteren Ausführungen zur spezifischen Bedeutung
des weiblichen Körpers - etwa bei Hannahs Tochter in "Joëmis
Tisch" - stützen sich auf die einschlägigen Untersuchungen von Eva
Lezzi und Karen Remmler (vgl. S.125). Es
überrascht, daß bei aller Aufmerksamkeit für die
transgenerationellen Prozesse darauf verzichtet wird, psychoanalytisch
orientierte Ansätze produktiv für die eigenen Analysen zu nutzen 14 - es bleibt bei einem
Literaturüberblick (vgl. Anm. 18, S.56f.).
5. Literarische Verfahren der Identitätskonstruktion
Die Beobachtungen von Stereotypenbildungen,
Projektionen, Selbst- und Fremdwahrnehmung von Nichtjuden im Blick der
jüdischen Figuren - mit stark deskriptivem Charakter - bestätigen die
viel zitierte "negative Symbiose" (Dan Diner) zwischen
Deutschen und Juden. In den facettenreichen
"Wechselwirkungen" könne der beidseitig geäußerte Wunsch,
"Normalität zu (er)leben", aus der "Perspektive der
jüdischen Protagonisten" bis in Liebesbeziehungen hinein nicht
erfüllt werden. Vorwürfe wie "Geschichtsleugnung",
"Täter-Opfer-Umkehr" und "Antisemitismus" an die
Adresse der Nicht-Juden verhinderten eine "gemeinsame
Kommunikation" (S.200). Auch diese Verhältnisse - so das Fazit -
erwiesen sich als hinderlich bei den Versuchen aller jüdischen
Protagonisten, die "Inkonsistenz und Diskrepanz" der
jeweiligen "Identitätsfragmente [...] auflösen zu wollen"
(S.243).
Davon zeugen in der Darstellung Schruffs auch die
vielschichtigen Fremdheitserfahrungen bei dem "Zwang, seinen
Identitätsraum" ständig selbst zu konstruieren (S.203). Dabei nutzten Autoren wie Robert Schindel
Verfahrensweisen, die eine weitergehendes Hinterfragen der spezifischen
'Verhaltenslehren der Kälte' (Helmut Lethen) erforderten: Die Erträge
vorliegender Schindel-Literatur 15 zu
'Österreich' als einem Ort zwischen 'Wärme' und 'Kälte' in
"Gebürtig" (1992) münden in die knappe Bilanz ein, daß es
sich für Schindel in Deutschland inzwischen "zumindest ohne
Frösteln leben lassen" könne (S.207).
Auch uneigentliche Sprechweisen -
'Ironie', 'Satire', 'Groteske' - , die spätestens seit Hilsenrath oder
Tabori doch auch bei Maxim Biller, zu "gängigen Formen"
gehören 16 , geraten nicht in den
Blick. Obwohl die Autorin ihr parodistisches
Verfahren benennt, nähert sie sich den Texten über eine Rekonstruktion
der Geschehnisse an: In Bezug auf die Figur Alfred in dem Text
"Halt durch, Al!" 17 heißt es
etwa: "Ganz unrecht sind ihm die Fernsehbilder über die Ermordung
der Juden jedoch auch wieder nicht" (S.133). Das
Fazit "wahnsinnige Überidentifikation des Helden mit den
Opfern" (S.134) erweitert allenfalls eine Perspektive des Textes,
in der Alfred Held - ohnehin als 'wahnsinnig' markiert - eben
"nicht ganz bei Trost" sei. 18
Über diesen Befund hinaus wäre danach zu fragen,
mittels welcher Verfahrensweisen bei Biller jüdische
Identitätskonstruktionen (selbst-)ironisch auch durch die - hier nicht
näher befragte - Integration von Elementen des medienpolitischen
Diskurses überboten werden.
Bei Biller, aber auch bei Seligmann spricht Schruff die
bereits vielfach untersuchten Bezüge zu us-amerikanischen Autoren wie
Philip Roth an. Obwohl Seligmanns Romane "Die jiddische
Mamme" (1990) und "Rubinsteins Versteigerung" (1988)
"Paradebeispiele für den Einfluß des Romans >Portnoy's
Complaint<" (1969) sind (vgl. die Diskussion in Anm. 128,
S.61), unterschieden sich Seligmanns Protagonisten durch eine
"wichtige Komponente", nämlich daß die Shoah in den Familien
des "amerikanischen Helden nur am Rande" berührt werde
(S.62). Zu einer solchen, nicht näher erläuterten Feststellung wäre
Schruff vermutlich nicht gelangt, hätte sie Philip Roths Roman
"The Ghost Writer" (1988) als Gegenfolie herangezogen, in dem
"eine ganze Kette oder sogar ein Kreislauf von Identifikationen
[...] im Zusammenhang mit Holocaustschriften
entsteht" - und dies auch im transgenerationellen Kontext. 19
6. Literatur und Kultur
In ihren Ausführungen zu Maxim
Biller weist Helene Schruff darauf hin, daß seine Erzählungen "das
'Shoah-Business'" entlarvt hätten (S.133), was zu der Frage nach
dem "Funktionszusammenhang von Literatur und Kultur" 20 bei ihm wie auch bei den anderen behandelten
Autor(inn)en provoziert. Zu einer Ausdehnung des Blickwinkels auf das
Feld der jeweiligen Kultur in Deutschland West / Ost und Österreich
gelangt sie insbesondere in dem Kapitel "Antisemitismus"
(S.139-163). Hier wird vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen
Entwicklung nach den "Aktions- und Reaktionsmöglichkeiten"
der jüdischen Figuren gefragt (S.139).
So beschreibe die Ich-Erzählerin in Barbara Honigmanns
"Eine Liebe aus nichts" (1991) den für sie nicht mehr
wahrnehmbaren Antisemitismus nur andeutungsweise und mache damit auf
den DDR-spezifischen Verdrängungsmechanismus aufmerksam, der eben in
einer Herabsetzung der Bedeutung der jüdischen Opfer gegenüber
politisch Verfolgten bestehe. Im Gegensatz zu einer einzigen Anspielung
(S.143) auf den historischen Kontext bei Honigmann sei die
Ich-Erzählerin bei Esther Dischereit ("Joëmis Tisch") in
keinem "sozialen" Raum vor der antisemitischen Einstellung
der nicht-jüdischen Figuren sicher. In den "Episoden", die
sich dadurch "in hohem Maße als literarische Konstrukte"
erwiesen, zeige sich eine "undifferenzierte Perspektive auf die
deutsche Gesellschaft" (S.144).
Die solchermaßen vollzogene Kennzeichnung von
Dischereits Text als weniger 'authentisch' zeigt den Status des hier
wie in den weiteren Analysen referierten historischen Bezugsrahmens an.
Er läßt allenfalls erahnen, welche Verfahrensweisen
die Literatur vor dem Hintergrund der "ungestörten Narrative seit
Mitte der achtziger Jahre" 21 ausgebildet hat.
Dies betrifft insbesondere jene, in der "die Shoah und ihre
Nachwirkungen gemeinsame Bezugsreferenzen für alle Figuren" der
untersuchten Texte seien (S.239).
7. Fazit
Mit Verweis auf den universellen
"Identitätspluralismus", die vielfältigen Selbst- und
Fremdwahrnehmungsprozesse in der Literatur jüdischer Schriftsteller um
1900 (vgl. S.23, Anm. 29), wird eine Traditionslinie der
"literarischen Suche nach deutsch-jüdischer Identität"
angezeigt. Daran knüpften die Protagonisten der behandelten
Autor(inn)en "thematisch", insbesondere bei Fragen um
'Heimat', an (zu Israel vgl. den Exkurs S.225-235). Ihre Verfahren der
Identitätsfindung ließen sich als "dynamischer Vorgang"
bezeichnen, der bestenfalls zu einem "Mosaik verschiedener
Identitätsfragmente" führe, doch eine "neue ganzheitliche
Identität" nicht erreiche: "[F]ür jede der Figuren stellt
sich die Frage nach dem Jüdisch-Sein anders." Dadurch stünden die
behandelten Romane und Erzählungen nicht in der Tradition der
"Bildungs- und Entwicklungsromane" (vgl. S.243).
Ob dieser Befund Helene Schruff dazu führt, die Zukunft
deutschsprachiger jüdischer Literatur eher pessimistisch einzuschätzen,
auch weil "der Bonus der Erstlingswerke verbraucht" sei,
bleibt offen. Auf dem Buchmarkt werde sie sich nur dann behaupten
können, wenn die "literarische Qualität der Texte auf ein höheres
Niveau" gelange (S.244). Gerade ihre Analysen laden zu weiteren,
stärker ästhetisch und diskursanalytisch untermauerten Lektüren dieser
Texte ein. Für solche Vorhaben stellen auch die umfangreichen
Materialien aus Zeitgeschichte und publizistischer Rezeption einen
wertvollen Fundus dar.
Andreas Disselnkötter, M.A.
Universität Dortmund
Fakultät 15 - Institut für deutsche Sprache und
Literatur
Emil-Figge-Str. 50
D - 44227 Dortmund
Ins Netz gestellt am 13.03.2001
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Anmerkungen
1 Stephan Braese / Holger Gehle /
Doron Kiesel / Hanno Loewy (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der
Holocaust. (Wissenschaftliche Reihe des Fritz-Bauer Instituts, Band 6)
Frankfurt, New York: Campus, 1998; Bilder des Holocaust. Literatur -
Film - Bildende Kunst. Hg. von Manuel Köppen und Klaus R. Scherpe.
Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1997; Sigrid Weigel / Birgit R. Erdle (Hg.):
Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus.
Zürich: Hochschulverlag der ETH Zürich 1996; Nicolas Berg / Jess
Jochimsen / Bernd Stiegler (Hg.): Shoah. Formen der Erinnerung.
Geschichte - Philosophie - Kunst. München: Fink, 1996. zurück
2 Mit Bezug auf Claus Leggewie: "Ihr
kommt nicht mit bei unseren Änderungen!" Die 89er - Generation ohne
Eigenschaften? In: Transit. Europäische Revue 11 (Sommer 1996),
S.3-17. zurück
3 Vgl. Hans-Otto Horch in seiner
Rezension von Günther Lamping: Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs
in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoek
und Ruprecht 1998. In: Arbitrium 17 (1999), H. 3, S.335-338, hier S.
338; Zu dieser Diskussion grundlegend: Andreas B. Kilcher: Was ist
"deutsch-jüdische Literatur"? Eine historische Diskursanalyse. In:
Weimarer Beiträge 45 (1999) H. 4, 1999, S.485-517. zurück
4 Vgl. das Portrait der Autorin von
Cornelia Schnelle in: Metzler Lexikon der Deutsch-Jüdischen Literatur.
Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung
bis zur Gegenwart. Hg. von Andreas B. Kilcher: Stuttgart, Weimar:
Metzler, 2000, S.47 f. zurück
5 So etwa bei dem österreichischen
Schriftsteller Peter Henisch in dem Roman "Steins Paranoia" (1988)
(vgl. S.154, Anm. 232). zurück
6 Dadurch grenzt Schruff sich von
Ansätzen ab, die keine "klaren Unterscheidungen zwischen fiktionalen
und nicht-fiktionalen Texten der Schriftsteller" machten und "häufig
die Person des jeweiligen Autors mit der Erzählerfigur" gleichsetzten
(S.17). Schruff bezieht sich hier auf die bislang einzige Monographie
zu den von ihr gewählten Autor(inn)en: Thomas Nolden: Junge jüdische
Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart. Würzburg:
Königshausen und Neumann, 1995. zurück
7 Mit Bezug auf Gershon Shaked: Die
Macht der Identität. Über deutsche und amerikanische Literatur von
Juden. In: Ders.: Die Macht der Identität. Essays über jüdische
Schriftsteller. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag, 1992, S.192-229; Hans
Otto Horch: Heimat und Fremde. Jüdische Schriftsteller und deutsche
Literatur oder Probleme einer deutsch-jüdischen Literaturgeschichte.
In: Julius Schoeps (Hg.): Juden als Träger bürgerlicher Kultur in
Deutschland. Stuttgart, Bonn: Burg, 1989, S.41-65. zurück
8 Alain Finkielkraut: Le juif
imaginaire. Paris 1985 [EA 1980], für die deutsche Fassung: A.F: Der
eingebildete Jude. München, Wien: Carl Hanser, 1982. zurück
9 Vgl. dazu Manuel Köppen / Klaus R.
Scherpe: Einleitung. Der Streit um die Darstellbarkeit des Holocaust.
In: Bilder des Holocaust (Anm. 1), S.3. zurück
10 Vgl. die Beiträge in: Rückkehr des
Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hg. von Fotis
Jannidis / Gerhard Lauer / Matias Martinez / Simone Winko (Studien und
Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Band 71) Tübingen: Max
Niemeyer, 1999. zurück
11 Mit Bezug auf Nolden: Junge
jüdische Literatur (Anm. 6), S.10. Vgl. zur Diskussion
poststrukturalistischer Ansätze in Philosophie und
Literaturwissenschaft: Sigrid Lange: Authentisches Medium. Faschismus
und Holocaust in ästhetischen Darstellungen der Gegenwart. Bielefeld:
Aisthesis, 1999, S.10-14. zurück
12 James Y. Young: Beschreiben des
Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Aus dem
Amerikanischen von Christa Schuenke. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997 [EA:
1988]. zurück
13 Lothar Schöne: Das jüdische
Begräbnis. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1996, S.99. zurück
14 Vgl. exemplarisch zahlreiche
Beiträge von Sigrid Weigel, neuerdings: Dies.: Télescopage im
Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur.
In: Gertrud Koch (Hg): Bruchlinien. Tendenzen der Holocaust-Forschung.
Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 1999, S.255-279. zurück
15 Schruff bezieht sich auf
Konstantin Kaiser: Kühler Kopf und warme Füße. Robert Schindels
Wintermärchen. In: Literatur und Kritik 263 / 264 (1992),
S.99-102. zurück
16 Ich schließe mich dem Befund von
Claudia Albert in ihrer Rezension des vorliegenden Bandes an, in:
Paratexte 1 (2000), H. 2, S.372-374, hier S.373. zurück
17 Maxim Biller: Halt durch, Al! In:
Ders.: Wenn ich einmal reich und tot bin. Erzählungen. Köln:
Kiepenheuer & Witsch, 1990, S.70-75. zurück
18 Ebd., S.70. zurück
19 Vgl. Sem Dresden: Holocaust und
Literatur. Essay. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gregor
Seferens und Andreas Ecke. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag, 1997 [EA
1991], S.277-278. zurück
20 Vgl. Ute Gerhard / Jürgen Link /
Rolf Parr: Diskurstheorien und Diskurs. In: Metzler Lexikon Literatur-
und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Hg. von Ansgar
Nünning. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1998, S. 95-98, hier S.97.
zurück
21 Birgit R. Erdle: Das Gedächtnis
der Geste. Kristallisationen kultureller Erinnerung und Tradierung nach
der Shoah. In: Weigel / Erdle: Fünfzig Jahre danach (Anm. 1),
S.235-277, hier S.269. zurück
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