Dötsch über Pleij: Mittelalterliche Phantasien vom vollkommenen Leben

IASLonline


Kerstin Dötsch

Mittelalterliche Phantasien
vom vollkommenen Leben

  • Hermann Pleij: Der Traum vom Schlaraffenland. Mittelalterliche Fantasien vom vollkommenen Leben. S. Fischer Verlag: Frankfurt / M. 2000. 522 S. Geb. € 39,88.
    ISBN 3-10-061705-3.


1. Von kleinen Tyrannen und verschwindender
Literatur – Zum Forschungsstand

Wirft man einen Blick in das Verzeichnis lieferbarer Bücher, hat man den Eindruck, daß sich am Niedergang der Schlaraffenland-Literatur seit dem 19. Jahrhundert nicht viel geändert hat: Das über Jahrhunderte so phantasievolle Genre ist zu einem dürren Erziehungsratgeber zusammengeschnurrt: Endstation Schlaraffenland. Was tun, wenn Jugendliche ihre Eltern terrorisieren oder Die Schlaraffenlandkinder. Entmachten Sie die kleinen Tyrannen zu Ihrem [!] eigenen Besten. "Gefrässigen Kindern" wird ein "gesundes Schlaraffenland" nahe gebracht. Die Erwachsenen sollen sich für Ich oder das Leben im digitalen Schlaraffenland oder Lifestyle-Konzernchef Michael Käfers Erfolg im Schlaraffenland interessieren. 1

Wer sich in die weit umfassendere, Jahrhunderte lange Erzähltradition schlaraffischer Texte einlesen will, muß auf dem deutschen Buchmarkt darben. Auch die Zeiten der intensiven literaturwissenschaftlichen Beschäftigung, insbesondere der Germanistik, scheinen hauptsächlich der Vergangenheit anzugehören. 2 Die beiden Textsammlungen in Martin Müllers Das Schlaraffenland. Der Traum von Faulheit und Müßiggang. Eine Text-Bild-Dokumentation und in Dieter Richters Schlaraffenland. Geschichte einer populären Utopie von 1984 sind vergriffen. 3 Versammelt sind dort Texte von der griechischen Antike bis zu Erich Kästner. Beide Autoren haben umfassende, chronologisch bzw. motivgeschichtlich ordnende Einleitungen geschrieben. Die Ausführungen sind knapp gehalten, manchmal zu ungenau, aber übersichtlich, und sie berücksichtigen Texte aus verschiedenen Kulturen.

In die Lücke der Schlaraffenland-Forschung auf dem deutschen Buchmarkt hat der Fischer-Verlag 2000 das angezeigte Buch von Herman Pleji geschoben, das in den Niederlanden bereits 1997 erschien. Gegenüber dem Schlaraffenland-Titel von Richter stellt das niederländische Werk gleichzeitig eine Fokussierung und Verbreiterung des Blickes dar: Pleij beschäftigt sich hauptsächlich mit nur drei niederländischen Schlaraffenland-Texten, geht dafür aber an ihnen sehr viel mehr ins Detail und anschließend in die Breite des Vergleichs mit verwandten Phänomenen wie irdischem und himmlischen Paradies, exotischen Ländern und Freigeisterei.

2. Reden, schreiben und moralisieren.
Herman Pleijs Textgrundlage

Im Mittelalter, als die Welt noch selbstverständlich religiös war, gab es gar keinen Zweifel, warum es so viel Elend in der Welt gibt: die Vertreibung aus dem Paradies. Dieser Glaube bildete auch die Basis für die Entstehung des Schlaraffenlandes. Arbeit ist dort verboten und Essen steht im Überfluß überall bereit, so die Hauptmerkmale dieses paradiesischen Landes, das man sich als Kontrast zu Alltag und Not herbeiphantasierte.

Ein Name für dieses Phantasiereich tauchte im Frankreich des 13. Jahrhunderts zum ersten Mal auf: >Cocagne<. Es gibt eine Menge von Bedeutungsassoziationen, den offensichtlichsten Sinn bezieht das Wort wohl vom mittellateinischen >coquina< für >Küche< und vom niederdeutschen >kokenje<, einer Art Zuckerkuchen; daneben klingt das französische >coquin< mit, ein Schimpfwort für Narren, Schelme und Schurken. 4 Im niederländischen Raum, um den es bei Pleij hauptsächlich geht, sind von Cocagne abgeleitet zunächst die Ausdrücke >Cockaengen< und >Cockanyngen< gebräuchlich, seit dem Einfluß von Hans Sachs' Schlauraffen Landt ist von >Luyeleckerlant< (in unterschiedlichen Schreibweisen) die Rede. Pleij erwähnt nicht, dass die genuin deutschen und niederländischen Namen im Gegensatz zu den romanischen Bezeichnungen einen moralisch-kritischen Akzent haben: der >sluraffe< ist ein Faulenzer, >luy< ist ebenfalls >faul<, >lecker< bedeutet nicht nur schmackhaft sondern auch Taugenichts. 5

Textbasis für Pleji sind drei niederländische Schriften aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Andere Schlaraffenland-Texte wie ein französischer >Fabliau< aus dem 13. Jahrhundert (S.94, 452 ff.) oder – als eine direkte Vorlage für den jüngsten der drei niederländischen Texte – Das Schlauraffen Landt (1530) von Hans Sachs (S.122 ff.) werden beiläufig behandelt. Pleij hat die drei ausgewählten Texte übersetzt und die niederländischen Originale mit abgedruckt. Dieser Textgrundlage und sehr genauen, detektivisch schlußfolgernden, aber doch vorsichtigen Hypothesen zu den Autoren und Intentionen ist der erste Hauptteil seines Buches gewidmet (S.58–128). Er bewegt sich um die zentrale Frage, ob die Autoren sich aus mündlichen oder schriftlichen Quellen bedienten.

"Dit is van dat edele lant van Cockaengen": Der Reimtext L (nach seinem heutigen Aufbewahrungsort London abgekürzt) gilt nach Pleij als ältester bekannter Text niederländischer Sprache, der ausschließlich von Cocagne handelt (S.79). Er wurde zusammen mit sieben anderen Texten des Genres >Weltorientierung< – wie einem Scherzrezept in Prosa aus dem Karnevalsrepertoire oder einem Pilgerführer ins Heilige Land – als Papierhandschrift etwa 1460 vollendet (S.81f., S.394). Pleij schließt aus der Textanordnung auf die orale Überlieferung (S.79f.) und aus der Handschrift auf einen Berufsaufzeichner, den einige Irrtümer aber wohl als nicht sehr gebildet ausweisen (S.84f.).

Der Reimtext B (Aufbewahrungsort Brüssel) mit dem lateinischen Titel "Narratio de Terra suaviter viventium" entstand um 1510 und gehört zu einer Sammelhandschrift mit Liedern, Reimsprüchen, Sprichwörtern, Kalendertexten, Lügenpredigten etc. (S.85, S.394). Verschiedene Merkmale weisen darauf hin, daß der Autor ein (ehemaliger) Student gewesen sein könnte, der sich den Text als eine "vereinfachte Carmina Burana in der Volkssprache" (S.87) für den eigenen Vortrag aufgezeichnet hat.

In argumentativen Wechselbädern warnt der Autor uns als Jahrhunderte lang Schriftfixierte vor dem fehlenden "Blick für die Wechselwirkungen zwischen mündlicher und schriftlicher Textübertragung" (S.94), argumentiert dann aber wieder deutlich stärker für eine mündliche Volksüberlieferung im Falle der beiden Texte B und L. 6

Der Prosatext G (Aufbewahrungsort Gent) "Vom Luyeleckerlant" dagegen gehört einer eindeutig schriftlichen Überlieferungstradition an. Er wurde wahrscheinlich zuerst 1546 publiziert, spätestens 1600 in einer Sammlung zusammen mit anderen Geschichten, Tafelbelustigungen und Refrains (S.117). Statt von "Cocagne" ist jetzt von dem niederlandespezifischen "Luyeleckerlant" (später auch oft "Luilekkerland") die Rede. Grundlage dieses Textes sind nicht die beiden mittelniederländischen Reimtexte B und L, sondern ausschließlich Hans Sachs' Reimtext Das Schlauraffen Landt in einer stark erweiterten Bearbeitung – "detaillierter [...] und in einigen Fällen auch humorvoller" (S.123).

Die Ausführlichkeit ist Antwerpener Aktualisierungen zuzuschreiben. Die Handelsstadt schwang sich damals gerade zu einem neuen weltweiten Wirtschaftszentrum auf. Vor allem dem Thema Geld wird deshalb selbst im Schlaraffenland viel Platz eingeräumt. 7 Geld ist jetzt nicht mehr nur einfach, nämlich durch Nichtstun, zu verdienen; in G werden auf ein regelrechtes "Einkommenssystem (ironisch verkehrt) die neuen Anstandsnormen der Elite aufgepfropft: Wer einen anständigen Furz lassen kann, bekommt schon mehr als fürs Schlafen, und wer dreimal rülpst oder einen Knallfurz lässt, kann einen ganzen Taler einstreichen" (S.125). Im Schlaraffenland sind all jene Ideale in umgekehrter Form verwirklicht, wie sie Bürgermoral und Leistungsethik in den Städten des Spätmittelalters fordern. Der "absurde Umkehrungshumor" (S.126) bietet "tröstliche Kompensation" (S.127) für die Bürden des Alltags, gleichzeitig verstärkt sich nun die moralisierende Absicht. Diese Entwicklung läuft parallel mit dem Übergang der Schlaraffenland-Texte in die Schriftkultur. In der für Pleij typischen Hin- und Herargumentation:

Ob es vor allem die Verschriftlichung des Materials war, die diese neuen Anwendungen ins Leben rief, ist nicht eindeutig auszumachen, doch obwohl solche Intentionen auch in mündlichen Versionen vorkommen konnten, zeigt sich deutlich, dass die schriftlich fixierten Texte diese zumindest klarer ausgesprochen sowie in der Regel ausgebaut und verstärkt haben. (Ebd.)

3. Verwandte Phänomene

3.1. Angst vor dem Hunger

Den Hauptteil seines Buches widmet Pleij ideengeschichtlichen Traditionen und konkreten Lebensbedingungen, aus denen heraus und parallel zu denen die Schlaraffenland-Texte entstanden sind. Die Ausführungen über verwandte Phänomene sind dabei so weitläufig, daß ausdrückliche Rückschlüsse auf das Thema Cocagne / Schlaraffenland nicht immer auftauchen. So knüpfen auch die Ausführungen an die Textanalysen nur lose an.

Als erstes rollt der Autor Eßgewohnheiten des Spätmittelalters auf. Roter Faden seiner Argumentation – nicht nur bei diesem Aspekt, wie sich noch zeigen wird – ist die phantasiebildende Kraft von Wünschen und Ängsten. Pleij warnt vor einer "spektakulären Kontrastbildung" (S.145) aus heutiger Wohlstands-Sicht. Existenzielle Hungersnöte mit vielen Toten habe es im Mittelalter gar nicht so viele gegeben. Mit vorübergehenden Mangelperioden aufgrund von schlechten Witterungsverhältnissen, Wucherpraktiken oder jahreszeitlichen Engpässen und einer recht kargen und eintönigen Küche mußten die Menschen dagegen immer wieder zurecht kommen. Die zahlreichen Texte und Bilder des Mittelalters über das Essen, das ja auch ein Hauptthema in Cocagne-Texten darstellt, haben weniger mit tatsächlichen Hungersnöten als vielmehr mit der Angst vor Hunger und dem Wunsch nach ständigem Angebot einer breiten Palette und großen Menge von Speisen zu tun, behauptet Pleij (exemplarisch S.138, 148). 8

Vieles ist nur in stark ideologisierter Form überliefert, wenig als neutrales Faktum. Dies gilt insbesondere für Literatur und bildende Kunst, die die Wirklichkeit schon per definitionem als Konstrukt wiedergeben, dadurch jedoch wesentlichere Einsichten in Ängste und Wünsche der Menschen verschaffen als so manches vermeintliches Dokument. (S.146)

Der zeitgenössische Diskurs betrachtete Völlerei als Sünde des ersten Menschenpaares, Hunger galt demnach als Hauptstrafe für den Sündenfall. "Die immer gleichen Beschreibungen der Chroniken heizten diese ebenso materielle wie metaphysische Angst nicht nur an, sie brachten sie geradezu erst hervor und hielten sie am Leben" (S.153). Es entwickelte sich eine regelrechte "mittelalterliche[.] Hungertopik" (S.156), der in allen möglichen Sprachen und Textformen bis in die Neuzeit Flavius Josephus' De Bello Judaico, ein Augenzeugenbericht über die Verwüstung Jerusalems durch die Römer 70 n. Chr., als kräftig ausstaffierte Grundlage diente. Die Phantasie vom Schlaraffenland verschaffte vor so viel inszeniertem Grauen Erleichterung.

Als ein weiteres Mittel der Angstbekämpfung setzte man das Fasten ein. Pleij verliert sich hier in an sich spannenden Details über Praktiken eines quasi "sakrosankten Kannibalismus" (S.170); mit dem Phänomen der Schlaraffenland-Texte stehen sie nicht in ursächlichem Zusammenhang. Visionen aufgrund von Nahrungsmangel, chronischen Defiziten oder halluzinogenen Ersatzstoffen zeigen jedoch, daß das Fasten die Überflußphantasien Cocagnes mit verursacht haben kann (S.174f.).

Auch umgekehrt, mit tatsächlichen Fressorgien versuchte man sich den Tod vom Leib zu halten (S.180). Teile des Schlaraffenlandes wurden immer wieder Wirklichkeit, insbesondere in adeligen Kreisen entwickelte sich unter anderem aus Wein- und Bierspendern ein regelrechter "Fontänenkult" (S.186). Diese Fontänen wurden auch allegorisch als Jungbrunnen aufgefasst, genauso wie im Schlaraffenland (S.187). Hier wie dort bewegte man sich in einer "epischen Fressarchitektur" (S.191): Bei Hofe wurden scheinbar lebendige Tiere und aufwendige Camouflage-Gerichte aufgetischt – Fleisch, das wie Fisch, Fisch der wie Geflügel aussah.

3.2. Paradiese

Ein zweites Großkapitel plaziert Cocagne in den Kreis der unzähligen Paradiesvorstellungen in den indogermanischen Kulturen seit etwa 25 Jahrhunderten. Etliche verwandte Elemente begegnen einem bei den antiken Topoi der >aurea aetas< und des >locus amoenus<, in der christlichen Paradiesvorstellung sowie im fast schon wollüstigen Paradiesbild des Islam. "Jede Kultur kennt ihr eigenes Paradies, das durch einen Akt von naivem Hochmut verspielt wurde" (S.266). Nach einer Buße werden die Menschen mit einem neuen Paradies belohnt. Cocagne ist eine Art neues Paradies auf Erden. Hier wie dort sind die Tiere dazu da, dem Menschen zu dienen, das Wetter ist milde und beständig, ein "himmlisches Catering" sorgt für alles (S.225). Nahrung ist im Paradies aber gar nicht nötig im Gegensatz zum Überfluß, der in Cocagne herrscht. Diesen Unterschied deutet Pleij elegant zur Erklärung des Schlaraffenlandes: "Möglicherweise war es sogar gerade dieser >Mangel< der Bibel, der einen wichtigen Anstoß zur Entwicklung des Cocagne-Stoffes bildete" (S.235).

Insbesondere dem recht weltlich-sinnlichen Charakter des Moslemparadieses nähert sich Cocagne an 9. Insgesamt aber bleibt Erotik im Schlaraffenland, wie in westlichen Traumwelten überhaupt, marginal, wurde aus satirischen Gründen oder "aufgrund zeit- und milieugebundener Interessen hinzugefügt und gehört nicht zum Kern des Cocagne-Stoffes", der in Essen und Faulenzen besteht (S.109, 268, 380) 10. Pleij schlägt aber wieder einen Haken und berichtet im selben Atemzug von dem europäischen Interesse, das die sexuelle Libertinage des islamischen Paradieses auf sich zog. Der Autor warnt auch hier vor zu einfachen Erklärungen einer einseitigen Verursachung. "Schließlich benötigten auch die westlichen (mündlichen oder schriftlichen) Berichterstatter über das Moslemparadies irgendein Beschreibungsmodell, und das war in diesem Fall eben häufig die Cocagne-Überlieferung" (S.270). Erneut trifft man auf die für Pleij typische Argumentationsfigur einer Geschichte aufgrund von Ängsten, Wünschen, Erwartungen. Auch in diesem Abschnitt geht der Autor mit großer Detailfreudigkeit zu Werk: Er schreibt von verschiedenen Verjüngungslehren der damaligen Zeit, versucht irdisches und himmlisches Paradies voneinander zu unterscheiden. Dies gelingt ihm in seinen ständigen Abwägungen jedoch ebenso wenig klar wie eine eindeutige Aussage über die Lokalisierbarkeit und Betretbarkeit der verschiedenen Paradiese.

3.3. Reisephantasien

Auf angebliche irdische Paradiesorte geht Pleij in dem Kapitel "Die Phantasie auf Reisen" näher ein. Das späte Mittelalter kennt eine Vielzahl von sogenannten Reiseberichten, einer der bekanntesten stammt von John Mandeville. Viele dieser Texte, so auch Mandevilles, stehen im Verdacht "bewußt zusammengeflickte Phantasieprodukte" zu sein (S.296). So wie Kolumbus beseelt war von der Idee, in Indien das Paradies zu finden, beschreiben die meisten Autoren die >bereisten< Länder als "Projektionen eigener Wunschbilder" (S.310). 11 Die "Wirkungskraft [der] Cocagne-Obsession" (S.312) geht nach Pleij aber noch weiter. Er treibt erneut sein Karussell der Wechelswirkungen an: "Es ist nicht auszuschließen, dass auch der Cocagne- bzw. Schlaraffenland-Stoff dazu gedient hat, die manchmal allzu bunt und phantasievoll ausgeschmückten Reiseerzählungen zu verspotten und zu parodieren." (S.296) Als solche hat die Cocagne-Literatur auch Merkmale der Lügendichtung (S.334).

Wenn von Exotika und fremden Menschenrassen die Rede ist, wird das Charakteristische der eigenen Zivilisation in Erinnerung gerufen; Besinnung und Besserung sind das Ziel. Aber auch das positive Vorbild vom >edlen Wilden< nimmt im späten Mittelalter seinen Ausgang. (S.321f.) Im 16. Jahrhundert beginnt man, die eigene Kultur zu relativieren. Es enstehen politische Utopien, die radikale Veränderungen verlangen (S.324). Trotz einiger Übereinstimmungen mit politischen Utopien sieht Pleij die Cocagne-Phantasien jedoch als antirevolutionär an:

Mit solch heftigen Zweifeln an der christlichen Gesellschaft wie auch den ernsthaften Utopien eines besseren Zusammenlebens haben Cocagne und Schlaraffenland wenig bis nichts zu tun [...]. Beide Traumländer existieren nicht und wollen auch nicht existieren. [...] Sie bieten lediglich geistige Kompensationen für die geballten Unannehmlichkeiten, denen sich der Mensch gegenübersah [...]. An der Schöpfung als solcher aber sollte nichts geändert werden. Die war ja gut. Der Mensch war es, der versagte. Auch das geben Cocagne und Schlaraffenland uns an einigen Stellen ironisch zu verstehen. (S.325)

3.4. Ketzerei

Cocagne ist nicht revolutionär, wenn auch scheinbar aufsässig bis ketzerisch. Das legt Pleij in einem Kapitel dar, in dem er "ketzerische Exzesse" zur Zeit der Cocagne-Texte beschreibt. Mehr als in allen anderen Kapiteln spielt hier das Thema Sexualität eine zentrale Rolle. Anders als viele andere Schlaraffenland-Texte unterstellen die Texte L und B, daß Gott und der Heilige Geist an Cocagne beteiligt seien (S.353). Diese Phantasie kommt dem etwa zeitgleichen Millenarismus oder auch Chiliasmus sehr nahe: Diese Bewegung berief sich auf die Offenbarung des Johannes und die Propheten des Alten Testamentes; ihre Anhänger – die sogenannten Beginen, Begarden oder Lollarden, da sie sich auf den unschuldigen Zustand Adams und Evas beriefen, nannten sie sich auch Adamiten – glaubten an den baldigen Beginn eines Tausendjährigen Reiches voll Harmonie und Überfluß. Sie setzten ihre Vorstellung immer wieder vorausgreifend und nachhelfend in die Tat um und wurden von der Kirche als Ketzer verfolgt (S.355). Bei Augustinus war das Tausendjährige Reich noch als eine spirituelle Belohnung gemeint; damit wehrte er sinnliche Interpretationen des verheißenen Reiches ab (S.361).Gegen Ende des Mittelalters entwickelte sich daraus die Mentalität der Freigeisterei, "eine außer Kontrolle geratene, demokratisierte Form der Mystik" (S.365). "Um deutlich zu machen, dass man zu den Vollkommenen gehörte, trat man all jene sittlichen Vorschriften und Gebote sogar absichtlich mit Füßen. Das galt vor allem für die sehr rigiden Auffassungen der Kirche zu Sexualität und Keuschheit" (Ebd.).

Ähnlich wie bei den bereits betrachteten Phänomenen fasst Pleij die Freigeisterei in erster Linie als ein Phantasiegespinst auf. "Aus Angst und Besorgnis, Frustration und rigider Orthodoxie meldet man ab dem elften Jahrhundert überall in Europa adamitische Umtriebe, die stets in stark gleich lautenden Worten an den Pranger gestellt werden" (S.375). Dann schlägt der Autor wieder eine Volte zurück:

Trotz der ideologischen Einseitigkeit all dieser Verdächtigungen und Pseudo-Beweisführungen nach dem Muster der >self-fullfilling prophecy< sowie der klischeehaften Darstellungen in der Literatur läßt sich doch davon ausgehen, dass die beschriebenen Verhaltensweisen im Rheingebiet, in Nordfrankreich und in den südlichen Niederlanden tatsächlich und wiederholt vorgekommen sein müssen. (Ebd.)

Egal ob tatsächlich oder erdacht – Cocagne und das Ketzertum haben viele Gemeinsamkeiten. Neben der Propagierung promisker Sexualität wird die Arbeit diskreditiert (S.372f.). In diesem Fall bleibt Pleij einmal ganz untypisch entschieden. "Nur das niederländische Cocagne-Material knüpft unmittelbar an die Freigeisterei an, was sich vermutlich aus der großen Verbreitung ketzerischen Gedankenguts gerade in den südlichen Niederlanden und dem Niederrhein-Gebiet erklären lässt" (S.383). Die Erwähnung des Heiligen Geistes in den Cocagne-Texten ist für Pleij eindeutig satirisch (S.380). Die Texte bewegen sich nur am Rande der Blasphemie und Ketzerei, "ein gewagtes Spiel" (S.378).

4. Die Funktion der Schlaraffenland-Literatur

Verschiedene, ja konträre Zwecke wurden nach Pleij mit den Schlaraffenland-Phantasien erfüllt: Kompensationen des Hungers und der Ängste davor, Unterhaltung, Belehrung, Satire. In der Tradition der Ständesatire wird ironisch das Umgekehrte dessen gepriesen, was eigentlich propagiert wird (S.392). Das Cocagne-Material knüpft an Fastnachtstexte an, die wiederum an die alten Festbräuche der Verkehrten Welt erinnern (S.417). In der mittelniederländischen Literatur war das Prinzip der Verkehrten Welt äußerst populär (S.412). Am Schluß von Text G heißt es:

Dieses Gedicht wurd' von den Alten geschrieben, | Den Jungen zur Lehre sei es beschieden, | Die gewöhnt sind an Faul- und Bequemlichkeit, | Zum Rechten zu zuchtlos, voll Nachläßigkeit, | Die soll man ins Luyleckerlant komplimentieren, | Dass sie ihre Zuchtlosigkeit dort verlieren, | Und wohl auf Arbeit haben Acht, | Denn faul und müßig nie Gutes bracht. (S.78)

Ausgerechnet im Land, das "voll ist von Vergnügen und Freuden" (S.76), sollen die Liederlichen ihre Laster verlieren! Nicht nur Ironie ist für den widersprüchlichen Charakter dieser Art Texte verantwortlich. Die mittelalterliche "Konfrontationstechnik" (S.402) meint beides gleichermaßen ernst:

Wie können all die übertriebenen Karikaturen, die durch befreiendes Lachen Kompensationen für aktuelles Ungemach bieten, nun gleichzeitig ein Ansporn sein, gerade jenes Verhalten zu meiden? Im Mittelalter vertragen solche Funktionen sich jedoch sehr gut, wobei sie sich in der Regel sogar gegenseitig verstärken. Scherz und Belehrung dienen einander – eine Überzeugung, die tief im geistlichen Humor verwurzelt ist [...]. (S.396)

Pleij behauptet, es sei nicht zu entscheiden, ob das Cocagne-Material moralisierende Intention besitzt (S.395). Dann aber erläutert er doch, wie die Uneindeutigkeit von Anfang an im Dienste der Moral stand. Das kann man allerdings in Zweifel ziehen. Pleij selbst stellt später dar, wie sich die Anstandsregeln und die Leistungsethik seit dem 14. Jahrhundert geändert haben. Bis dahin galt Arbeit als Bestrafung für den Sündenfall. Um den Bürgern in den entstehenden Städten eine positivere Meinung von der Arbeit zu vermitteln, wurde auch in den Schlaraffenland-Texten die Verkehrte Welt nun mit eindeutigen Vorzeichen eingesetzt. 12

Moralisch waren nach Pleij die Cocagne-Texte schon immer, im Lauf der historischen Entwicklung wird nur eine eindeutigere Positionierung nötig: Im Laufe des 16. Jahrhunderts lösten sich die religiös motivierten Stände auf, die frühmoderne Gesellschaft spaltete sich in viele verschiedene geistige und politische Ordnungsmodelle. Damit verlor man den zentralen Bezugspunkt für die spielerische Errichtung umgekehrter Ordnungen (S.398) 13. Daß die jüngere Fassung G im Gegensatz etwa zu Fassung L deutlich eine Moral ausspricht, erklärt Pleij aber auch noch durch ein anderes Motiv: Die Verschriftlichung machte deutlichere Intentionssignale notwendig (S.394). Es gab keinen Sprecher mehr, der seine Absichten durch außersprachliche Hinweise deutlich machen konnte. Zudem war das neue Lesepublikum im stillen und individuellen Verarbeiten solcher Texte noch ungeübt (S.441).

Als Adressaten der mittelniederländischen (und französischen) Texte macht Pleij die Stadtbevölkerung aus (S.444). Die Wichtigkeit des Geldes, die neuen Leistungserwartungen und Anstandsregeln finden sich spiegelverkehrt wieder. Die Gesellschaft bei Hofe erfüllt sich ihre Träume dagegen weitgehend mit realen Lustgärten und inszenierten Banketten (S.445). 14

Auch im Vergleich mit den anderen Phantasien eines besseren Lebens – Paradiese, exotische Völker, Vergnügungsparks und Ketzereien – nimmt Pleij eine Sinnbestimmung vor:

Fluchtwege, Waffen, Kompensationen und fröhliche Belehrung en masse. Warum dann also noch ein Cocagne, das in so vielen Punkten übereinstimmte, die man sich ohnehin schon schuf? Die Antwort muß im fiktiven Charakter Cocagnes liegen. Dieses Traumland konnte zur Linderung fast jeden Ungemachs und zu jedem x-beliebigen Vergnügen angefahren werden – immer mit der Sicherheit, dass es sich hierbei um ein unverbindliches Spiel handelte. (S.446)

5. Eine Einbildungsgeschichte

Es ist symptomatisch für Pleij, daß er den fiktiven Charakter des Schlaraffenlandes hervorhebt. In vielen seiner Argumentationen ist von den Wunschbildern und Ängsten der Menschen die Rede, die ihre Phantasien geprägt haben. 15 Insofern könnte man bei seiner Argumentation geradezu von einer Einbildungsgeschichte sprechen – sowohl was die Menschen zur Entstehungszeit der Phantasien angeht als auch zu unserer Zeit.

Beliebt und äußerst hartnäckig ist noch immer die Annahme, dass die uns überlieferten Quellen die mittelalterlichen Menschen mitten im prallen Leben ihres Alltags zeigen. Literatur und bildende Kunst sollen darauf aus gewesen sein, dieses Leben so realistisch wie möglich wiederzugeben. [...] Doch sollten wir uns fragen, ob wir all diese – am Gängelband unserer eigenen Sorgen so sehr ersehnten – Zeugnisse des mittelalterlichen >Realismus< nicht vielmehr als Karikaturen betrachten müssen, die jene Triebhaftigkeit gerade an den Pranger stellen? (S.399)

Pleijs Lieblingsidee von den wunschgeleiteten Phantasien führt leicht zu Pauschalierungen. Einerseits warnt er ganz unhistorisch vor der Annahme eines naiven Mittelaltermenschen. Am Textmaterial entwickelt er andererseits die These, daß die Belehrung zunimmt, je jünger die Texte sind.

Das >Einerseits-andrerseits< ist überhaupt stark ausgeprägt in seiner Argumentation. Die differenzierte Abwägung kippt jedoch an einigen Stellen zu Unentschiedenheit und Unklarheit. Wenn er beispielsweise komplizierte Wechselwirkungen erläutert (zwischen Cocagne-Material und verschiedenen Paradiesvorstellungen oder Reiseberichten, zum Beispiel S.321), sollte er das Hin und Her nicht auch noch in seiner Darstellung mäandernd nachbilden; mehr Kürze und Klarheit würde man sich an einigen Stellen wünschen. Vielleicht ist das Problem teilweise darin begründet, daß es trotz des wissenschaftlichen Zugriffs keine Anmerkungen gibt, nur Quellennachweise; dadurch müssen auch alle Nebendiskussionen im laufenden Text behandelt werden. Einerseits blähen viele Wiederholungen den Umfang des Buches auf. Andererseits vermisst man manchmal explizite Bezugnahmen und Verknüpfungen zum eigentlichen Thema des Schlaraffenlandes.

Von Ferne fühlt man sich bei Pleijs Vorgehensweise an Stephen Greenblatts >New Historicism< erinnert. Dieser verzichtet auf eine "totalisierende[.], integrative[.], progressive[.] Geschichtsschreibung" und konstruiert seine Argumentation lieber um "Anekdoten" herum. 16 Auch Pleij tastet verwandte Phänomene rund um das Schlaraffenland ab. Abgesehen von heutiger Forschungsliteratur zieht er als Quellen allerdings nur >Kunst<-Texte heran, vermutlich entsprechend seiner These, daß diese Art Textzeugen aufschlußreicher sind als zeitgenössische Gebrauchstexte, "vermeintliche[.] Dokument[e]". 17

Ausufernd führt Pleij ähnliche Phänomene wie das himmlische und irdische Paradies, das Neue Jerusalem oder die Inseln der Seligen aus. Die Textbasis – drei niederländische Texte – ist dagegen relativ schmal. Die Texte selbst werden nicht sehr genau ausgewertet, dafür führt Pleij um so mehr Wissen und Schlußfolgerungen zur mutmaßlichen Entstehung an. Auch hier führt ihn – an sich brilliant – seine Fährte etwas vom Weg ab; seine zentrale Frage an dieser Stelle ist, ob sich die Autoren aus mündlichen oder schriftlichen Quellen bedienten. Die niederlandespezifischen Beobachtungen im Verleich zu den Schlaraffenland-Texten anderer Länder, die man bei einer derart starken Fokussierung erwarten würde, bleiben relativ vereinzelt; nur beim kulturellen Wissen über die Vergleichsphänomene läßt Pleij etliche spezifische Informationen einfließen. Pleij scheint die niederländischen Texte eher als Repräsentanten eines allgemeinen Phänomens zu verstehen: "Diese niederländischen Texte sind Teil einer gesamteuropäischen Überlieferung, die sich seit dem klassischen Altertum manifestiert." Ihre Repräsentativität wird aber nicht anschaulich, da er auf vergleichende Beobachtungen, sowohl räumlich als auch zeitlich verzichtet. Die bei anderen Autoren angesprochenen Mentalitätsunterschiede, die sich in den verschiedenen Cocagne-Ausformungen zeigen, thematisiert Pleij weder noch wertet er sie weiter aus (vgl. Anm. 12).

Herman Pleij hat ein wissenschaftlich fundiertes Werk verfasst mit vielen Längen und trotzdem einigen Lücken. Die älteren, übergreifenden Werke von Müller und Richter mit ihrem reichen Textangebot sind damit nicht abgelöst. Für ein breites Lesepublikum, das bei der Verlagswahl ja wohl auch angestrebt wurde, scheint mir Pleij keinen Ersatz zu bieten. Und auch die wissenschaftliche Diskussion ist damit beileibe nicht beendet.


Kerstin Dötsch M.A.
Angelsbruck 4
D-85447 Fraunberg

Ins Netz gestellt am 09.04.2002
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Anmerkungen

1 Unter der Adresse htttp://www.buchhandel.de erhält man unter anderem die angeführten Titel unter dem Stichwort "Schlaraffenland". – Herman Pleij wird im fortlaufenden Text mit Seitenzahlen zitiert nach: Der Traum vom Schlaraffenland. Mittelalterliche Phantasien vom vollkommenen Leben. Frankfurt / Main: S. Fischer 2000.   zurück

2 Eine viel zitierte Studie stammt von Elfriede M. Ackermann: Das Schlaraffenland in German literature and folksong. Social aspects of an early paradise, with an inquiry into its history in European literature. Diss. Chicago / Ill. 1944. Eine jüngere Ausnahme ist Werner Wunderlich, der eine ganze Reihe von Artikeln zum Thema veröffentlicht hat, u.a. den Forschungsbericht: Das Schlaraffenland in der deutschen Sprache und Literatur. Bibliographischer Überblick über den Forschungsstand. In: Fabula 27 (1986), S.54–75. Siehe auch Christine Kasper (Anm. 8). Im Frühjahr 2002 soll Bd. 13 des Jahrbuchs der Oswald von Wokenstein-Gesellschaft zu den Themen Apokalypse, Schlaraffenland, Jahrtausendwenden erscheinen; darin u.a. von Wolfgang Beutin: Weltuntergangsphantasie, Schlaraffenlandtraum – literaturpsychologisch. – Vor allem französische und italienische Untersuchungen gibt es bis in die achtziger Jahre.   zurück

3 Martin Müller: Das Schlaraffenland. Der Traum von Faulheit und Müßiggang. Eine Text-Bild-Dokumentation. Wien: Edition Christian Brandstätter 1984. Dieter Richter: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Utopie. Köln: Eugen Diederichs 1984. Neuausgaben: Frankfurt / M.: Anton Hain 1989 und Frankfurt / M.: Fischer Taschenbuch 1995.   zurück

4 Pleij führt etliche weitere Bedeutungsnuancen an (S.40–52), wird dabei weit genauer als Richter und vor allem Müller (siehe Anm. 3).   zurück

5 Diese Ausführungen finden sich zum Beispiel bei Richter (Anm. 3), S.14 und Müller (Anm. 3), S.12. – Der Übersetzer Pleijs ins Deutsche benützt für die frühen Schlaraffenland-Texte den Ausdruck >Cocagne<, für den späteren >Schlaraffenland<. Wenn es in dieser Rezension nicht auf die Differenzierung ankommt, verwende ich beide Ausdrücke ohne Unterschied.   zurück

6 Pleij setzt sich damit etwa von Martin Müller (Anm. 3), S.47, ab, nach dem L und B unabhängig voneinander "auf eine ältere, verloren gegangene Version zurück[gehen], welche das altfranzösische >Fabliau< [...] ziemlich frei bearbeitet haben muß".   zurück

7 Auch das Hurenproblem der Stadt im 16. Jahrhundert schlägt sich im Text nieder (Pleij, S.126).   zurück

8 Dieter Richter argumentiert dagegen materialistisch: "Die Heimat der kulinarischen Schlaraffenland-Phantasien ist das >Land des Hungers< [...], die durch ökonomische Krisen und Hungersnöte geschüttelte agrarisch-städtische Übergangsgesellschaft" (Anm. 3, S.31). Deshalb habe Cocagne auch den "deutlichen Charakter einer plebejischen Utopie " (Ebd., S.35). Auf der Linie Pleijs, aber noch ausschließlicher und mit einem eher standesgeschichtlichen Akzent urteilt Christine Kasper: "Vermutlich hat also das Schlaraffenland ursprünglich gar nichts von einer Hungerphantasie der Armen an sich [...]. Das >Fabliau< scheint eher den Wunschtraum von Adligen zu spiegeln, die ländliche Umgebung ihrer Burgen und Herrensitze möge zu einem Paradies höfischer [...] Sinnenfreuden werden" (Christine Kasper: Das Schlaraffenland zieht in die Stadt. Vom Land des Überflusses zum Paradies für Sozialschmarotzer. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 7 (1992 / 93), hier S.255–291; zitiert nach http://www.ned.univie.ac.at/Nederlandistik/ck/schlaraf.htm.)   zurück

9 Eine christliche Verursachung des erotischen Motivs in Cocagne kann sich Pleij allerdings auch vorstellen: "Feindschaft existiert nicht mehr [im himmlischen Paradies], und auch das absolute Entgegenkommen in sexuellen Dingen könnte (mit) von den unablässigen Sympathien inspiriert sein, die im Himmel herrschen. Hier kommt noch hinzu, dass das irdische Paradies nach Ansicht von Kirchenvater Augustinus sehr wohl Sex gekannt hätte, wenn Adam und Eva nicht so schnell – schon nach sieben Stunden – aus dem Paradies vertrieben worden wären." (S.251)   zurück

10 In Text L gibt es keine sexuellen Versprechungen, in Text B taucht ein >locus amoenus< auf: "Dort gibt es nämlich nicht Weib und nicht Mann, | Die dem andern verweigern – das ist kein Wahn! – | Ein zärtliches Schäferstündchen zu zwein, | Das sag ich euch, hier im Verein! | Dort sind Tromben und Schalmeien, | Man singt und springt und tanzt den Reigen. | Und schöne Frauen und Mädchen fein | Kann dort jeder haben, ohne zu frei'n, | Und 's ist weder Sünde noch eine Schande, | So sind dort die Sitten in jenem Lande –". In Text G wird die freie Liebe ökonomisch gefasst: "Frauen von leichter Münz' werden da im Land sehr hoch geachtet. Und je fauler und wollüstiger, desto lieber hat man sie; sintemal man gleich sonst saget: >Geile Huren, teure Huren!–, so ist das da im Land nicht wahr, darumb alle Freuden und Vergnügen dort in solchem Überfluss wachsen, dass man sie leicht umsonst bekommt. Man braucht nur zu sagen oder zu denken: Mund, sprich – was möchtest du? Herz, was begehrst du?" – Auch Müller bestätigt insgesamt, daß Sexualität eher eine untergeordnete Rolle in Cocagne spielt. Er erklärt dieses Phänomen mit den weiblich-mütterlichen Zügen dieses Reiches (Müller, Anm. 3, S.22) ebenso wie er Merkmale frühkindlicher Lebensphasen ausmacht (Animismus, ebd., S.16, Kulinarisierung analer Produkte, ebd., S.19). – Andere Autoren vertreten genau das Entgegengesetzte zu Pleijs These von der späteren Hinzufügung: "Erotik und sexuelle Freiheit sind für das Schlaraffenland nur im frühesten Mittelalter wirklich bedeutend, verschwinden jedoch insbesondere in der deutschen Literatur sehr rasch aus der Bescheibung (Richter, S.45; weniger nuanciert: Müller, S.21ff., S.103), und zwar schon vor der Umgestaltung zum Kindermärchen" (Kasper, Anm. 8). Müller stellt zudem fest, daß in den mittelalterlichen Texten – unter anderem dem französischen >Fabliau< aus dem 13. Jahrhundert und Text B – noch beide Geschlechter sexuell aktiv sind, während das spätere Schlaraffenland ein "Paradies der Männer ist, in dem Frauen mit zu den Leckerbissen zählen" (Müller, Anm. 3, S.85).   zurück

11 Besonders wilde erotische Phantasien beherrschen dieses Genre, mehr als Wunschbilder zum Klima oder zum Essen zum Beispiel; Pleij mutmaßt, daß die Isolation der Weltreisenden oder Verlegerinteressen für diese Massierung verantwortlich sein könnten (S.327).   zurück

12 Richter sieht zwar die Möglichkeit eines "ambivalenten Verständnisses", das Lob der Faulheit "zu lehrhaften Zwecken eines versteckten >Lobes der Arbeit< zu verwenden (Richter, Anm. 3, S.41). Aber die eigentlich gemeinte Aussage ist für ihn eindeutig: "Die populäre Utopie von Schlaraffenland entwickelt sich gegen die Grundlagen der neuen, frühbürgerlichen Wirtschaftordnung und -gesinnung." (Ebd.) Erst im Laufe der Zeit wurde nach Richter das Schlaraffenland von der Obrigkeit zunehmend in ihren Dienst genommen (Ebd., S.83). Vor allem in Deutschland und in den Niederlanden, den Vorläufern des bürgerlichen Puritanismus, sei das Lustleben des Schlaraffenlandes schon früh kritisiert worden (Ebd., S.90). Im Material aus diesen Ländern dominieren auch die derb-grobianischen Züge, Abwertung und moralische Kritik im Gegensatz zu romanischen Texten (Ebd., S.16). Auch Kaspar hört in den unterschiedlichen Bezeichnungen unterschiedliche Landesmentalitäten sprechen: "Wenn die deutschen [und niederländischen] Dichter [...] von >Kokanien< auf >Land der faulen Affen< umgestiegen sind, haben sie damit ihrer negative Bewertung des beschriebenen Landes Ausdruck verliehen."   zurück

13 Eine andere, ebenfalls plausible, gesellschafts- und religionsgeschichtliche Erklärung, wie sie Müller anführt, kommt bei Pleij zwar vor (s. oben bei Paradiesvorstellungen); er setzt sie aber nicht zentral ein: Müller sieht eine enge konträre Koppelung der Cocagne-Texte an den christlichen Glauben. Das Schlaraffenland ist als "Konkurrenzland zum christlichen Paradies" zu betrachten, auf das bis nach dem Tod gewartet werden muß und dessen Eintrittsbedingungen diametral entgegengesetzt sind. Dementsprechend verliert diese Phantasie mit der Zeit der Aufklärung an Popularität (Müller, Anm. 3, S.13).   zurück

14 Auch in diesem Punkt gibt es abweichende Forschungsmeinungen. Richter spricht ausschließlich von einer "plebeijschen" im Gegensatz zu einer "bürgerlichen" Klientel (Richter, Anm. 3, S.43). Pleij legt sein Schwergewicht auf die Städter, schließt aber die Landbevölkerung nicht aus. Kaspar wiederum umfasst auch die Städter als anvisiertes Publikum, geht aber dazu eher von einer höfischen als bäuerlichen Zuhörerschaft aus.   zurück

15 An etlichen Stellen ist von "Einbildung" (S.374), "Projektionen ihrer eigenen Wunschbilder" (S.310), "Ängsten" und ihren "Entladungen, Fluchtwegen und Träumen" (S.148) die Rede.   zurück

16 Stephen Greenblatt: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker. Berlin: Wagenbach 1994, 1998 (engl. Orig. 1991), S.10.   zurück

17 Ebd., S.146.   zurück