Elit über Baumbach: Lukian in Deutschland

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Stefan Elit

500 Jahre
deutsche Lukianrezeption oder:
Vom Umgang mit Kritik

  • Manuel Baumbach: Lukian in Deutschland. Eine forschungs- und rezeptionsgeschichtliche Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart (Beihefte zu Poetica 25) München: Fink 2002. 320 S. Geb. EUR (D) 34,90.
    ISBN 3-7705-3597-9.



Was leisten Rezeptionsgeschichten?

Umfassende Rezeptionsgeschichten zumal eines antiken Autors können vielleicht zweierlei Eindrücke erzeugen: Entweder scheinen sie sich in einem kontingenten Aufeinander zu erschöpfen und kaum weiteren Aufschluß oder Gewinn zu bieten, und dies war bei frühen Studien dieser Art (ab dem späten 19. Jahrhundert) leider öfter der Fall. Oder aber sie demonstrieren, wie sich in den historischen Aufnahmen auf faszinierende Weise kulturgeschichtliche Entwicklungen widerspiegeln.

Die Rezeptionsstudie von Manuel Baumbach zu Lukian in Deutschland, überarbeitete Fassung einer 1997 an der Universität Heidelberg eingereichten altphilologischen Dissertation (betreut von Glenn W. Most und entstanden im Rahmen von dessen mit dem Leibnizpreis geförderten Projekt zum Nachleben der Antike), gehört erfreulicherweise eher zu letzterer Kategorie. Die forschungs- und rezeptionsgeschichtliche Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart bleibt in der Regel nicht bei dem Bericht von der schieren Diversität stehen, sondern sie versucht, große Linien, signifikante Konvergenzen wie Divergenzen, aufzudecken und sie mit dem jeweiligen historischen Kontext zu verbinden. Aufgrund der Menge des Materials, das hier für einen Zeitraum von mehr als 500 Jahren vorgelegt wird, gelingt das nicht in jedem einzelnen Fall, das hätte den Rahmen einer Dissertation jedoch auch bei weitem gesprengt. Rezipienten und Rezeptionsmodi von größerer Bedeutung werden jedoch so dargestellt, daß sie etwa als typisch oder auch innovativ für ihre Zeit verstanden werden können, und auch (mögliche) >Fernwirkungen< einzelner Rezeptionen werden zum Teil sehr schön verfolgt.

Dezidierte Urteile vom
Humanismus bis ins 20. Jahrhundert

Daß die Erfassung der neuzeitlichen deutschen Rezeption eines Lukian erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheint, ist dabei selbst bereits ein kleiner Ausweis für bestimmte >Fernwirkungen< und Rezeptionsverläufe (so kann man jedenfalls nach Lektüre der vorliegenden Arbeit gut schlußfolgern). Denn der scharfzüngige hellenistische Rhetoriker und Satiriker des 2. Jahrhunderts n. Chr., inspirierend für rhetorisch-satirische Autoren von Erasmus (Moriae Encomium, Lob der Torheit) über Gottsched (als Dialogdichter) bis hin zu Heine und Tucholsky, hatte nach einem für einen antiken >Klassiker< recht mannigfaltigen Auf und Ab der Rezeption von der Renaissance bis zum 19. Jahrhundert gerade im deutschsprachigen Raum seit dem mittleren 19. Jahrhundert einen immer schwereren Stand. So wurde er noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur marginal wahrgenommen, und zwar auch und gerade von der philologischen Disziplin selbst: Sie sah in ihm längst nicht mehr einen Autor, der schon aufgrund seines guten attischen Stils zu einem engeren oder zumindest weiteren Kanon (jenseits der eigentlichen >Griechischen Klassik<) gehören müßte.

Die mehr oder weniger eminente kritische Einstellung zu einem besonders kritikfreudigen antiken Autor ist es also, die seine deutsche Rezeptionsgeschichte bis in die jüngste Zeit prägte. Diese allgemeiner kulturgeschichtlich relevante und womöglich bezeichnende Entwicklung verfolgen zu können, ist denn vielleicht auch der spannendste, wenn auch ein wenig >hervorzulockende< Nutzen dieser Arbeit nicht nur für an Antikerezeption oder einer ausschnittartigen Disziplin- wie Schulfachgeschichte der Altertumswissenschaft Interessierte.

Daß Lukian und die Lukianrezeption ein solches Interesse verdient hat, macht Baumbach schaglichtartig bereits in seiner "Einleitung" deutlich, die nicht nur Auskunft über Zielsetzung und Methode der Arbeit sowie einen knappen Forschungsüberblick gibt, sondern über den Gliederungsabriß auch schon erste Hinweise auf das Auf und Ab der deutschen Lukianrezeption (Kap. I, S. 11–17). Angesichts der starken >Pegelausschläge< der Rezeption setzt Baumbach in seiner Einleitung verständlicherweise offen damit ein, daß auch er hier "Farbe zu bekennen" (S. 11) habe. Er tut das jedoch zum Nutzen der möglichst neutralen Analyse, die er sich als Methode vornimmt, nur sehr dezent: Der Einleitung ist als Mottozitat ein Satz Wielands vorangestellt, der auf das verdiente historische Lob, aber auch die viele unzutreffende Kritik an Lukian hinweist. Erst auf der letzten Seite des Abschlußkapitels wird Baumbach dann noch einmal "Farbe bekennen", indem er, vor allem gegen dessen erwähnte jüngste Marginalisierung, zur Lektüre des Autors aufruft (S. 243).

Bevor jedoch der Pfad einer großen, vorwiegend chronologischen Sichtung der deutschen Lukianrezeption der Neuzeit eingeschlagen wird, informiert ein zweites Kapitel (S. 19–25) zumal eine nicht-altphilologische Leserschaft noch kurz und griffig über die schon differenzierte antike Wahrnehmung des Lukianischen Œuvre, gibt eine Kurzvita anhand der wenigen Quellen zum Autor und stellt als zentrale Signaturen vieler Lukiantexte "[k]omische[n] Dialog und menippeische Satire" vor. Dabei ist letztere Gattung, eine Mischform von Prosa- und Verssatire, die bereits von Lukian selbst auf den Kyniker Menippos von Gadara zurückgeführt wurde, von besonderer Bedeutung, da bereits an ihr Wert- bzw. Geringschätzung der Epochen ansetzten.

Umstrittene Aufnahme durch
Humanisten und Reformatoren

Noch mehr jedoch schieden sich die Geister in der Frage, wie sich Lukians satirische Kritik implizit wie explizit gegenüber dem Christentum verhielt. Dabei setzte die Beurteilung im Zweifel immer wieder bei Lukians kritischer Schrift über den Tod des Kynikers Peregrinus (De Morte Peregrini) an: Schon im byzantinischen Suda-Lexikon des 10. Jahrhunderts wurde Lukian anhand dieses Textes als Blasphemist verurteilt – so Baumbach zu Beginn seines dritten Kapitels zur humanistischen Phase der Lukianrezeption (S. 27). Der Einsatz des chronologischen Durchgangs in Byzanz gibt hier einen wichtigen Vorläufer für den christlichen Blasphemievorwurf gegenüber Lukian an, was sogleich in einer kurzen Horizonterweiterung bis zum 19. Jahrhundert expliziert wird (S. 28). Baumbach leistet es dann jedoch im direkt Folgenden leider nicht, den (etwas unvermittelt) auf Byzanz gerichteten Blick mit der Hauptperspektive des Kapitels auf den Humanismus zu verbinden.

Von den humanistischen Rezipienten führt Baumbach nach einem kurzen Überblick über die für Lukians Gattungen besonders positive Rezeptionslage (S. 28–32) vor allem die bekannten >Spitzen< Erasmus von Rotterdam sowie Philipp Melanchthon und Ulrich von Hutten vor (S. 32–51); dem großen Dialogsatiriker und dementsprechend innigen Lukiananhänger Erasmus wird dabei der meiste Raum gegeben (S. 33–42). Ein besonderes Augenmerk richtet Baumbach auch auf die Ambivalenz der Lukianrezeption in dieser Zeit, in der einem Erasmus und vielen weiteren Freunden Lukianischer Dialogik sowie damit verbundener Kirchenkritik eine starke theologische Kritik, etwa durch Luther, gegenüberstand – die jedoch der positiven Rezeption keinen Abbruch tat (S. 41).

In Philipp Melanchthon fand Lukian seinen ersten großen Propagator für den Schulunterricht: Der gute attische Stil und die lehrreiche Repräsentation von Prosa und Vers in den menippeischen Satiren machten ihn reizvoll, und zur weiteren Verbreitung brachte Melanchthon ihn sogar in lateinischer Übersetzung heraus
(S. 42–45).

Hatte Erasmus satirische Dialoge im Anklang an Lukian zur allgemeinen Kirchenkritik genutzt, so spezifizierte sich diese aktualisierende Anwendung (bevorzugt anhand der Dialogi Mortuorum, Totengespräche) bei Ulrich von Hutten zu reformatorischen Zwecken (S. 45–48) – eine Entwicklung, die folgenreich sein sollte.

Abklingendes Interesse im 17. Jahrhundert

Wie das vierte Kapitel, zum 17. Jahrhundert (S. 53–64), verdeutlicht, wurde Lukian zunehmend eine protestantische Vorliebe, während in katholischen Kreisen die Ablehnung bis zur Indizierung führte, und besonders aus den Schulprogrammen der Jesuiten wurde er weitgehend gestrichen (S. 53 f.). Aber die (überlieferte) Rezeption verringerte sich in diesem Jahrhundert aus verschiedenen Gründen auch insgesamt: Nach den Editionsleistungen der Vorzeit bestand auf diesem Gebiet erst einmal geringerer Handlungsbedarf, die menippeische Satire geriet nun wieder ins Hintertreffen gegenüber der als normpoetisch reiner empfundenen Verssatire römischer Provenienz (S. 55 f.), und schließlich wurde die offene Kritikhaltung Lukians nunmehr als zu >destruktiv< empfunden (S. 57).

Am Ende dieses Kapitels thematisiert Baumbach sodann bereits die Lukianrezeption des frühaufklärerischen Frankreich, das – wie in so vielen Bereichen – mit seinem Faible für diesen Autor auch für den deutschen Raum einen neuen Trend setzen sollte (S. 62–64). Neu ist die Art der aktualisierenden Auseinandersetzung: Lediglich die literarische Form (vor allem der Dialogi Mortuorum) wird von Fontenelle, Fénelon und anderen dazu genutzt, eigene (religiös-moralische) Inhalte zu transportieren (S. 64).

Aufklärerische Dialogbegeisterung
und der >Zeitgenosse< Lukian

Das fünfte Kapitel ist vor allem dem positiven Höhepunkt der bisherigen deutschen Rezeption gewidmet (S. 65–119): Lukian avanciert zu einem großen Vorbild aufklärerischer Haltung. Welche Momente seine Texte in diesem Jahrhundert besonders erfolgreich machten, legt Baumbach übersichtlich in vier Punkten gleich zu Eingang dar und führt diese im folgenden aus. Es handelt sich um (1) die bereits eingeführte Vorbildlichkeit der französischen Frühaufklärung insbesondere mit Bezug auf die Dialogi Mortuorum , wobei (2) eine Renaissance der Gattung Gespräch durch den bekannten >dialogischen Charakter< der Aufklärung hinzutritt, noch verstärkt (3) durch das Interesse am Satirischen als Mittel eines neuen Journalismus, der gerade Lukians Prosatexte wiederentdeckt. Er wird so schließlich (4) geradezu ein "Mitstreiter in Sachen Aufklärung" (S.65).

Nach einer ersten Analyse vor allem der Rezeption durch Johann Christoph Gottsched (S. 67–72), der unter anderem die Fontenelleschen Dialogues des Morts übersetzte, kommt Baumbach zunächst noch auf die Etablierung der Dialogi Mortuorum als Vorbild für die Gattung Gespräch (S. 75–81) sowie auf die Entstehung des Zeitschriftenwesens und des neueren Journalismus seit Christian Thomasius zu sprechen (S. 81–89). 1

Die für die Aufklärung wichtige Kategorie des >Witzes<, den ein guter Autor in dieser Zeit haben sollte, wird hier besonders betont, da Lukian gerade diese Eigenschaft zu seinem Vorteil zugeschrieben wurde. Baumbach versteht den Begriff jedoch gerade für das frühe 18. Jahrhundert etwas zu eindeutig >modern< (S. 83 f.): Wenn ein Gottsched von >Verstand< und >Witz< schrieb, ist eher von einem Hendiadyoin auszugehen, als daß >Witz< in unserer heutigen Bedeutung zu verstehen wäre. Als Autor >witzig< zu sein, hieß dementsprechend keineswegs immer, lustig, sondern vielmehr: gewitzt zu schreiben.

Fraglos ein Kernstück der Studie ist die Auseinandersetzung mit Christoph Martin Wieland als dem >deutschen Lukian< (S. 89–113). Daß die Lukiansche Satire einen zeitlosen Wert darin habe, "grundlegende menschliche Laster aufzudecken" (S. 88), wurde von Wieland sicherlich am intensivsten und zeitweise auch erfolgreichsten demonstriert, und Wieland hielt sich und Lukian sogar für >Brüder im Geiste<, verbunden auch durch eine geistige Parallelität der Zeit Lukians mit dem späten 18. Jahrhundert (S. 92 f.). 2

Sehr positiv stellt Baumbach dabei für Wielands Lukianübersetzungen eine gelungene "Gratwanderung zwischen philologischer Textnähe und sprachlich zeitgemäßer Wiederbelebung des Textinhalts" heraus (S. 100) und erwähnt dazu deren hohe Würdigung in Goethes Rede Zu brüderlichem Andenken Wielands von 1813. Dem ist allerdings hinzuzufügen, daß Goethe an anderer Stelle, sozusagen wenn keine pietätvolle Situation sein Urteil beeinflußte, Wielands Übersetzungsweise auch für weniger unübertrefflich ansah: In einem der Kommentare zu Besserm Verständnis des West-östlichen Divans wurde Wielands Verfahren in der Nachfolge der Belles Infidèles nämlich von ihm nur als eine mittlere Stufe der guten Übersetzung eingeschätzt, während die ausgangssprachlich orientierten Übersetzungen eines Johann Heinrich Voß von ihm als die höchste Stufe angesehen wurden. 3 Auch in der allgemeinen zeitgenössischen Debatte um das beste Übersetzen galt Wielands Position zudem eher für eine einigermaßen überholte und bezeichnenderweise als >französisch< angezweifelte Richtung. Bezieht man dies mit ein, gelangt man im übrigen bereits hier in den Bereich der drohenden Herabsetzung Wielands, wie sie Baumbach erst später verfolgt.

Nach einer kurzen Vorstellung eines zweiten großen Lukianverehrers in dieser Zeit (David Christoph Seybold, S. 114 f.) steht am Ende auch dieses Kapitels eine Auseinandersetzung mit einem bereits für das nächste Jahrhundert wichtigen Moment. Unter dem Rubrum "Philologische Studien: [Johann Matthias, S.E.] Gesners Abhandlung zum Philopatris" wird ein (ebenfalls Göttinger) Vorläufer der beiden großen Altphilologen Christian Gottlob Heyne und Friedrich August Wolf behandelt, der zugleich einer der Wegbereiter einer neuen literarhistorisch-kritischen Lukianforschung werden sollte (S. 116–119). 4

Neuhumanismus und
Altertumswissenschaft nach 1800

Das sechste Kapitel beschreibt "Lukian im frühen 19. Jahrhundert – die umstrittene Etablierung seines Oeuvre innerhalb der Altertumswissenschaften" (S. 121–149): Auf der Basis von Wielands großer Propagation wird Lukian zunächst zum wichtigen Schulautor neuhumanistischer Bestrebungen Johann Gottfried Herders und Wilhelm von Humboldts (S. 124–127) und findet in zahlreichen neuen Ausgaben Verbreitung (S. 127–129). Mit der (sich verstärkenden) Kritik an Wieland (und damit der Spätaufklärung überhaupt!) gerät jedoch auch die Position Lukians folgerichtig wieder ins Schwanken, die philosophische und kritische Haltung des einen wie des anderen wird als zu vage und (in anti-christlicher Weise) >destruktiv< bewertet, und beide verfallen manifest dem Verdikt, zu sehr einem Voltaire zu gleichen (S. 130–137, zu H.G. Tzschirner 5 und Friedrich Christoph Schlosser).

Eine >Rettung< zumindest des antiken Autors schien daher nur möglich über ein neues Bild von ihm jenseits des Wielandschen: Ein >ernsterer<, >deutscher< "Lukian als Bildungsreformer" sollte die Lösung sein, die etwa Karl Georg Jacob verfocht (S. 139–144) – durchsetzen konnte sie sich jedoch nicht: Die neuere altertumswissenschaftliche Schule, hier in der Gestalt von Karl Friedrich Hermann, wies sie mit historisch-kritischen Argumenten zurück (S. 144–148). Eine erste Anzweifelung des moralischen Zustands der Zeit Lukians überhaupt tat fernerhin das ihre, um Lukian in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Die nachnapoleonische Zeit suchte andere epochale Vorbilder.

Das lange 19. Jahrhundert:
zweierlei nachhaltige Abwertungen

Zu Beginn des siebten Kapitels greift Baumbach noch einmal auf das frühe 19. Jahrhundert zurück, kann so jedoch die Rezeptionslinie "Lukian im Spannungsfeld zwischen Theologie und Altertumswissenschaft" als zentrales Problem der Rezeption in diesem Jahrhundert gut herleiten. Die Themenführung dieses großen Kapitels (S. 151–200) ist dann jedoch nicht immer konzentriert genug, vielmehr verschiebt sich der Fokus mehrmals fast unmerklich.

Nach der Thematisierung der weitgehend säkular orientierten Rezeption einer langen Aufklärungszeit und der neueren altertumswissenschaftlichen Schule richtet Baumbach sein Augenmerk zunächst ergänzend auf die christlich-theologische Aufnahme des Autors. Diese griff nämlich seit Beginn des neuen Jahrhunderts Raum, indem die Kirche insgesamt sich wieder mehr mit den pagan-antiken Autoren auseinandersetzen mußte, um vor allem im Kontext der preußischen neuhumanistischen Bildungsprogramme überhaupt noch etwas von ihrem Einfluß auf die Schulen zu wahren (S. 151).

Eine noch von nachwielandscher Offenheit für Lukian, aber auch schon von christlicher Vereinnahmung geprägte theologische Rezeption bildet hier den Auftakt. Letztere führte etwa zu einer weitgehenden >Rettung< Lukians bei Johann Christian Tiemann und August Kestner. Der erste große und ständig latente Vorwurf gegen Lukian in dieser Zeit, der der Frivolität, konnte so ferngehalten werden, ja Lukian wurde in religiös-sittlicher Hinsicht bisweilen sogar zum Proto-Lutheraner erklärt (S. 156). Der zweite große Vorwurf, das alte Verdikt von der destruktiven Blasphemie, kehrte jedoch in einer großen Gegenbewegung zur Rezeption der Spätaufklärung bald wieder: Schon 1820 erneuerte Heinrich Carl Abraham Eichstädt den Kritikansatz zu Lukian als Christenfeind an De Morte Peregrini (S. 160–163) und erhielt auch bald Schützenhilfe von seiten der Altertumswissenschaft (in der Gestalt von August Pauly, S. 163 f.).

Bemerkenswert sind jedoch auch die >Ausgleichsbemühungen< durch (christliche) Schulmänner, die ausführlich vorgestellt werden: In den 1840 / 50er Jahren postulierten etwa E. Nordtmeyer und A. Planck 6 die Vereinbarkeit von christlicher Dogmatik und einem paganen >Klassiker< wie Lukian, um so den neuhumanistischen Kanon und christliche Bildungsvorstellungen in Einklang zu halten (S. 164–168).

Baumbach führt sodann noch mehrere weitere und jeweils für sich genommen sehr interessante Wendungen der humanistisch-altphilologischen und theologischen Rezeption vor, die Darstellung des 19. Jahrhunderts ergeht sich dadurch jedoch in einer schwer zu überschauende Fülle und erhält eine letztlich unnötig kontingente Struktur. Die hierbei sich einstellende >Themendrift< führt zudem ab von der neuhumanistischen versus theologischen Rezeption zu einem reinen Schwerpunkt Schule und Altertumswissenschaft (S. 181–187).

Die dabei thematisierte Debatte um Lukian als Teil des Lektürekanons angesichts schrumpfender Stundenzahlen – ein eben gar nicht so neues Thema des altphilologischen Unterrichts – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist dann jedoch auch wieder spannend: Exemplarisch werden hier zwei Schulmänner pro und contra Lukian, Julius Sommerbrodt und Wilhelm Schrader, vorgestellt, von denen letzterer mit Hilfe des Frivolitätsvorwurfs obsiegt und eine erste Streichung Lukians aus dem preußischen Schulprogramm ab 1865 bewirkt (S. 185).

Abschließend fokussiert dieses Kapitel das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch anhaltende allgemeine Forschungsinteresse, dem jedoch Jacob Bernays einen hochwirksamen Schlag versetzen sollte: Bernays wies zwar mit gut philologischen Argumenten den alten Vorwurf der Christenfeindlichkeit nachhaltig zurück und erzeugte so eine entspanntere Sicht vor allem auf De Morte Peregrini als bloß anti-kynischer Schrift. Er gelangte jedoch in einer ganz neuen Wendung auch zu einer anderen folgenreichen, nun philosophisch->objektivistischen< Abwertung: Die 1879 von ihm ausgesprochene Anprangerung einer "nihilistischen Oede" (Zitat Bernays nach Baumbach, S.192) sollte die Beurteilung Lukians fast einhundert Jahre so negativ halten, daß die wenigen positiven Stimmen wie Inseln in einem Meer der Ablehnung erscheinen müssen.

Vielfache >Anklage< bis
ins späte 20. Jahrhundert

Das achte und letzte darstellende Kapitel, chronologisch vom späten 19. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert reichend, steht sodann unter der nichts Gutes verheißenden Überschrift: "Lucianus quinquies accusatus – Das Ende der Lukianforschung in Deutschland" (S. 201–243). Ein tatsächliches >Ende< läßt sich hier natürlich nicht behaupten – allein die vorliegende Arbeit wäre ja insofern eine Art performativen Selbstwiderspruchs –, die fünffache Anklage Lukians (vgl. Baumbachs Auflistung auf S. 201), 7 die sich seit den 1870er Jahren summierte, hatte den Autor jedoch stark zu marginalisieren vermocht.

Den ersten >Anklagepunkt< bildet die Fortführung des Bernaysschen Vorwurfs der >nihilistischen Öde< (S. 201–206); dieses Verdikt gewann eine allgemeinere Bestärkung durch die lang andauernde Geringschätzung der sogenannten Zweiten Sophistik des 2. Jahrhunderts, jener hellenistischen philosophisch-rhetorischen Bewegung, in deren Umfeld auch Lukian gehörte und die angeblich geistig nichts Wesentliches mehr zu leisten imstande war (zweiter Punkt, S. 206–209). Hinzu trat – dritter Punkt – schon vor 1900 eine Ablehnung besonders der zeitgenössischen Satire, die doch während der Aufklärung so sehr geschätzt worden war. Für sein wichtigstes Beispiel hier, die zunehmende Geringschätzung Heinrich Heines und in dessen Gefolge dann auch Lukians, greift Baumbach zuungunsten der Kapitelstruktur allerdings erneut zeitlich und thematisch weiter zurück (S. 215–217).

Thematisch schließt sich — vierter Punkt – die düsterste Steigerungsform der Ablehnung eines Heine wie eines Lukian in Form des Antisemitismus an (S. 217–219): Lukian wurde im Rahmen der rassistischen Debatten um 1900 bereits von dem berüchtigten Houston Stewart Chamberlain als "syrischer Semit" abqualifiziert (S. 218). Wieder um eine altphilologische Auseinandersetzung mit Lukian geht es mit dem fünften Punkt, der die Auswirkungen der >Quellenforschung< auf das Bild von Lukian als eigenständigem Autor thematisiert (S. 220–226). Insbesondere die Arbeiten Rudolf Helms sind hier zu nennen: Sie führten einen Großteil des Lukianischen Werks auf dessen erklärten, aber an sich kaum erhaltenen Vorläufer Menipp zurück und beförderten so auch eine allgemeinere Sicht von Lukian als bloßem >Feuilletonisten< und oberflächlichem Nachschöpfer älterer Satirik.

Eine wirkliche Wende in der so durch mehrere Facetten verfestigten Beurteilung Lukians läßt sich erst seit wenigen Jahrzehnten beobachten; ihr widmet Baumbach die letzten Seiten seiner Darstellung (S. 236–243). Einen "Lucianus redivivus"
(S. 238) ermöglichte dabei vor allem eine (nicht zufällig von außerhalb Deutschlands kommende) Neubewertung der Zweiten Sophistik, deren durchaus vorhandene genuine Leistungen und historische Eigenposition mittlerweile gesehen werden.

>Serviceleistungen<

Ein hilfreiches Verzeichnis der Schriften Lukians nach den eingeführten lateinischen sowie griechischen und (in der Regel auf Wieland beruhenden) deutschen Titeln (Kap. IX, S. 245–250) ist hier genauso zu erwähnen wie ein Verzeichnis der neuzeitlichen Textausgaben (und natürlich der sonstigen verwendeten Literatur; beides: Kap. XI, S. 267–309) und die Indices zu den verhandelten Lukianstellen und "Personen" (= antike Autoren und neuzeitliche Rezipienten; zusammen: Kap. XII, S. 313–320).

Ein "Anhang" bietet ferner einige Auszüge aus wichtigen literarischen Rezeptionszeugnissen und Übersetzungen Lukians von Fontenelle bis Pauly (Kap. X, S. 251–266). Diese freundliche Zugabe wäre allerdings noch sinnvoller, wenn sie denn eine wirkliche Einbindung in die Darstellung erfahren hätte. Zumindest häufigere Verweise auf sie im Verlauf der Studie hätten sich angeboten, ganz zu schweigen von dem großem Desideratum, das aus der völlig unkommentierten, "Übersetzungsvergleich" genannten Zusammenstellung dreier deutscher Fassungen eines Stückchens Lukiandialog besonders deutlich wird: Wäre es im Rahmen einer rezeptionsgeschichtlichen Arbeit nicht wenigstens an ein oder zwei Stellen am Platze gewesen, einen tatsächlichen Übersetzungsvergleich vorzunehmen? Lukians Griechisch und verschiedene deutsche Übertragungsversionen hätten sich so vielleicht noch ungleich intensiver, konkreter und kategorial interessanter präsentieren lassen, als dies bei einer sozusagen rein doxographisch angelegten Analyse möglich ist.

Fazit

Baumbachs Gang durch die deutsche Rezeptionsgeschichte eines streitbaren und nicht zuletzt deshalb umstrittenen antiken Autors endigt mit einer Werbung für die Lektüre dieses >anderen Klassikers< (S. 243). Lukians kritisch-satirische Schriften mögen heutzutage die Gemüter wohl nicht mehr so zu erregen, wie in so manchen deutschen Epochen, die Baumbach zum Teil recht lebendig und immer in flüssigem Stil vorführt. Aber zumal in Wielands großer Übersetzung stellen Lukians Texte ein kulturhistorisches Zeugnis dar, das um so bemerkenswerter erscheint, wenn man anhand der vorliegenden Studie en détail erfahren hat, auf welche (jeweils zeittypischen) Widerstände im deutschsprachigen Raum es gestoßen ist.

Und nicht zuletzt ist ja glücklicherweise, wie ganz zu Eingang bereits thematisiert, ein Weiteres anhand dieser weitgehend gelungenen Darstellung der Rezeptionsgeschichte eines einzelnen antiken Autors auch zu erkennen, nämlich, welchen Umgang mit basaler (ethischer) Gesellschaftskritik zumal in satirischer Form die Deutschen zu welchen Phasen ihrer Kulturgeschichte der Neuzeit wie weit goutierten.

Nicht unerwähnt bleiben soll zum Abschluß, daß Baumbach die relativ lang erscheinende Zeit zwischen der Einreichung seiner Dissertation (1997) und ihrer Publikation im vergangenen Jahr nicht ungenutzt hat verstreichen lassen: Schon im Jahr 2000 hat er die Beiträge eines 1999 von ihm ausgerichteten Kongresses zur europäischen Antikerezeption herausgegeben, 8 und noch in demselben Jahr hat er sogar seine eigene Übersetzung eines Lukianischen Haupttextes publiziert, 9 die das reiche Material seiner Rezeptionsstudie somit gleichsam um ein neuestes Zeugnis erweiterte. 10


Dr. Stefan Elit
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.


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Anmerkungen

1 Ein Monendum ist die hier jeweils etwas veraltete Fachliteratur (vgl. Anm. 63 resp. 65 auf S. 82 in der vorliegenden Arbeit). Etwa zur Entwicklung der Gattung Gespräch wäre hier ergänzend zu nennen: Brigitte Schlieben-Lange (Hg.): Fachgespräche in Aufklärung und Revolution (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 47) Tübingen: Niemeyer 1989.   zurück

2 Wieland postulierte seine innere Verwandtschaft über die Zeiten hinweg allerdings noch mit mindestens zwei weiteren antiken Autoren: Vor allem Horaz als Satiriker und Cicero als Briefverfasser glaubte er nahezu >weiterzuleben< (vgl. etwa zu Wielands Rezeption des ersteren: Manfred Fuhrmann: Wielands Horaz-Übersetzungen. In: Christoph Martin Wieland: Übersetzung des Horaz. Hg. v. Manfred Fuhrmann (C.M.W.: Werke in 12 Bänden 9) Frankfurt: Klassiker 1984, S. 1061–1095).   zurück

3 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Besserm Verständnis. In: J. W. G.: West-östlicher Divan. Hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Katharina Mommsen und Peter Ludwig (J. W. G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Hg. v. Karl Richter ins Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert u.a. 11.1.2) München: Hanser 1998, S. 129–282, hier S. 262–265.    zurück

4 Zu Recht trifft Baumbach auch für das 18. Jahrhundert eine Auswahl hinsichtlich der prominenten Lukianrezipienten. Aus der Kenntnis des Rezensenten sei hier jedoch zumindest noch der Wieland sicherlich mindestens gleichbedeutende Friedrich Gottlieb Klopstock erwähnt. Klopstock griff nämlich bei mehreren seiner sprachwissenschaftlichen und poetologischen Dialoge (v.a. bei den Grammatischen Gesprächen) auf Lukian zurück, und zwar ließ er sich insbesondere von dem von Wieland kaum beachteten Lukianischen Iudicium Vocalium, Gericht der Vokale nachhaltig inspirieren (zu der >Überreizung< dieses Vorbilds und folglich einer >Verwässerung< des Lukianischen Humors bei Klopstock vgl. schon Franz Muncker: Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Stuttgart: Göschen 1888, S. 524; vgl. ferner: Ludwig M. Eichinger / Claire Lüsebrink: Gespräche über die Sprache. In: Brigitte Schlieben-Lange (Anm. 1), S. 197–240).   zurück

5 Die Vornamen nicht zu ermitteln. Baumbach selbst verfährt in der Namensnennung leider nicht einheitlich: Bald werden Vornamen ausgeschrieben, bald nicht, auch wenn sie ermittelbar waren.   zurück

6 Vgl. die vorangehende Anmerkung.   zurück

7 Lukian selbst hatte sich in einer Schrift satirisch-fiktiv ja nur zweimal angeklagt gesehen, vgl. den Dialog Bis Accusatus.   zurück

8 M.B. (Hg.): Tradita et Inventa. Beiträge zur Rezeption der Antike. Heidelberg: Winter 2000.    zurück

9 Lukian von Samosata: Wahre Geschichten. Aus dem Griechischen übersetzt und mit einem Nachwort von M.B. Zürich: Manesse 2000.   zurück

10 Zu erwähnen ist hier noch eine bereits erschienene Rezension der vorliegenden Arbeit: In ihr weißt der Doyen der neueren deutschen Lukianforschung, Heinz-Günther Nesselrath, (abschließend) leider insbesondere auf eine bedenkliche Mängelrate in der Zitationsgenauigkeit bei Baumbach hin, die das ansonsten auch bei ihm grundsätzlich eher positive Bild etwas trüben (vgl. diese Rezension unter der URL: http://ccat.sas.upenn.edu/bmcr/2003/2003-01-24.html ).   zurück