Was leisten Rezeptionsgeschichten?
Umfassende Rezeptionsgeschichten zumal eines antiken Autors
können vielleicht zweierlei Eindrücke erzeugen: Entweder scheinen
sie sich in einem kontingenten Aufeinander zu erschöpfen und kaum
weiteren Aufschluß oder Gewinn zu bieten, und dies war bei frühen
Studien dieser Art (ab dem späten 19. Jahrhundert) leider öfter der
Fall. Oder aber sie demonstrieren, wie sich in den historischen Aufnahmen auf
faszinierende Weise kulturgeschichtliche Entwicklungen widerspiegeln.
Die Rezeptionsstudie von Manuel Baumbach zu Lukian in
Deutschland, überarbeitete Fassung einer 1997 an der
Universität Heidelberg eingereichten altphilologischen Dissertation
(betreut von Glenn W. Most und entstanden im Rahmen von dessen mit dem
Leibnizpreis geförderten Projekt zum Nachleben der Antike), gehört
erfreulicherweise eher zu letzterer Kategorie. Die forschungs- und
rezeptionsgeschichtliche Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart bleibt
in der Regel nicht bei dem Bericht von der schieren Diversität stehen,
sondern sie versucht, große Linien, signifikante Konvergenzen wie
Divergenzen, aufzudecken und sie mit dem jeweiligen historischen Kontext zu
verbinden. Aufgrund der Menge des Materials, das hier für einen Zeitraum
von mehr als 500 Jahren vorgelegt wird, gelingt das nicht in jedem einzelnen
Fall, das hätte den Rahmen einer Dissertation jedoch auch bei weitem
gesprengt. Rezipienten und Rezeptionsmodi von größerer Bedeutung
werden jedoch so dargestellt, daß sie etwa als typisch oder auch
innovativ für ihre Zeit verstanden werden können, und auch
(mögliche) >Fernwirkungen< einzelner Rezeptionen werden zum Teil
sehr schön verfolgt.
Dezidierte Urteile vom Humanismus bis ins 20. Jahrhundert
Daß die Erfassung der neuzeitlichen deutschen Rezeption
eines Lukian erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheint, ist dabei selbst
bereits ein kleiner Ausweis für bestimmte >Fernwirkungen< und
Rezeptionsverläufe (so kann man jedenfalls nach Lektüre der
vorliegenden Arbeit gut schlußfolgern). Denn der scharfzüngige
hellenistische Rhetoriker und Satiriker des 2. Jahrhunderts n. Chr.,
inspirierend für rhetorisch-satirische Autoren von Erasmus (Moriae
Encomium, Lob der Torheit) über Gottsched (als Dialogdichter) bis
hin zu Heine und Tucholsky, hatte nach einem für einen antiken
>Klassiker< recht mannigfaltigen Auf und Ab der Rezeption von der
Renaissance bis zum 19. Jahrhundert gerade im deutschsprachigen Raum seit dem
mittleren 19. Jahrhundert einen immer schwereren Stand. So wurde er noch in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur marginal wahrgenommen, und
zwar auch und gerade von der philologischen Disziplin selbst: Sie sah in ihm
längst nicht mehr einen Autor, der schon aufgrund seines guten attischen
Stils zu einem engeren oder zumindest weiteren Kanon (jenseits der
eigentlichen >Griechischen Klassik<) gehören müßte.
Die mehr oder weniger eminente kritische Einstellung zu einem
besonders kritikfreudigen antiken Autor ist es also, die seine deutsche
Rezeptionsgeschichte bis in die jüngste Zeit prägte. Diese
allgemeiner kulturgeschichtlich relevante und womöglich bezeichnende
Entwicklung verfolgen zu können, ist denn vielleicht auch der
spannendste, wenn auch ein wenig >hervorzulockende< Nutzen dieser
Arbeit nicht nur für an Antikerezeption oder einer ausschnittartigen
Disziplin- wie Schulfachgeschichte der Altertumswissenschaft Interessierte.
Daß Lukian und die Lukianrezeption ein solches
Interesse verdient hat, macht Baumbach schaglichtartig bereits in seiner
"Einleitung" deutlich, die nicht nur Auskunft über Zielsetzung
und Methode der Arbeit sowie einen knappen Forschungsüberblick gibt,
sondern über den Gliederungsabriß auch schon erste Hinweise auf
das Auf und Ab der deutschen Lukianrezeption (Kap. I, S. 11–17). Angesichts
der starken >Pegelausschläge< der Rezeption setzt Baumbach in
seiner Einleitung verständlicherweise offen damit ein, daß auch er
hier "Farbe zu bekennen" (S. 11) habe. Er tut das jedoch zum Nutzen
der möglichst neutralen Analyse, die er sich als Methode vornimmt, nur
sehr dezent: Der Einleitung ist als Mottozitat ein Satz Wielands
vorangestellt, der auf das verdiente historische Lob, aber auch die viele
unzutreffende Kritik an Lukian hinweist. Erst auf der letzten Seite des
Abschlußkapitels wird Baumbach dann noch einmal "Farbe
bekennen", indem er, vor allem gegen dessen erwähnte jüngste
Marginalisierung, zur Lektüre des Autors aufruft (S. 243).
Bevor jedoch der Pfad einer großen, vorwiegend
chronologischen Sichtung der deutschen Lukianrezeption der Neuzeit
eingeschlagen wird, informiert ein zweites Kapitel (S. 19–25) zumal
eine nicht-altphilologische Leserschaft noch kurz und griffig über die
schon differenzierte antike Wahrnehmung des Lukianischen Œuvre, gibt eine
Kurzvita anhand der wenigen Quellen zum Autor und stellt als zentrale
Signaturen vieler Lukiantexte "[k]omische[n] Dialog und menippeische
Satire" vor. Dabei ist letztere Gattung, eine Mischform von Prosa- und
Verssatire, die bereits von Lukian selbst auf den Kyniker Menippos von Gadara
zurückgeführt wurde, von besonderer Bedeutung, da bereits an ihr
Wert- bzw. Geringschätzung der Epochen ansetzten.
Umstrittene Aufnahme durch Humanisten und Reformatoren
Noch mehr jedoch schieden sich die Geister in der Frage, wie
sich Lukians satirische Kritik implizit wie explizit gegenüber dem
Christentum verhielt. Dabei setzte die Beurteilung im Zweifel immer wieder
bei Lukians kritischer Schrift über den Tod des Kynikers Peregrinus
(De Morte Peregrini) an: Schon im byzantinischen Suda-Lexikon des 10.
Jahrhunderts wurde Lukian anhand dieses Textes als Blasphemist verurteilt –
so Baumbach zu Beginn seines dritten Kapitels zur humanistischen Phase
der Lukianrezeption (S. 27). Der Einsatz des chronologischen Durchgangs in
Byzanz gibt hier einen wichtigen Vorläufer für den christlichen
Blasphemievorwurf gegenüber Lukian an, was sogleich in einer kurzen
Horizonterweiterung bis zum 19. Jahrhundert expliziert wird (S. 28). Baumbach
leistet es dann jedoch im direkt Folgenden leider nicht, den (etwas
unvermittelt) auf Byzanz gerichteten Blick mit der Hauptperspektive des
Kapitels auf den Humanismus zu verbinden.
Von den humanistischen Rezipienten führt Baumbach nach
einem kurzen Überblick über die für Lukians Gattungen
besonders positive Rezeptionslage (S. 28–32) vor allem die bekannten
>Spitzen< Erasmus von Rotterdam sowie Philipp Melanchthon und Ulrich
von Hutten vor (S. 32–51); dem großen Dialogsatiriker und
dementsprechend innigen Lukiananhänger Erasmus wird dabei der meiste
Raum gegeben (S. 33–42). Ein besonderes Augenmerk richtet Baumbach auch auf
die Ambivalenz der Lukianrezeption in dieser Zeit, in der einem Erasmus und
vielen weiteren Freunden Lukianischer Dialogik sowie damit verbundener
Kirchenkritik eine starke theologische Kritik, etwa durch Luther,
gegenüberstand – die jedoch der positiven Rezeption keinen Abbruch tat
(S. 41).
In Philipp Melanchthon fand Lukian seinen ersten großen
Propagator für den Schulunterricht: Der gute attische Stil und die
lehrreiche Repräsentation von Prosa und Vers in den menippeischen
Satiren machten ihn reizvoll, und zur weiteren Verbreitung brachte
Melanchthon ihn sogar in lateinischer Übersetzung heraus (S. 42–45).
Hatte Erasmus satirische Dialoge im Anklang an Lukian zur
allgemeinen Kirchenkritik genutzt, so spezifizierte sich diese
aktualisierende Anwendung (bevorzugt anhand der Dialogi Mortuorum,
Totengespräche) bei Ulrich von Hutten zu reformatorischen Zwecken
(S. 45–48) – eine Entwicklung, die folgenreich sein sollte.
Abklingendes Interesse im 17. Jahrhundert
Wie das vierte Kapitel, zum 17. Jahrhundert (S.
53–64), verdeutlicht, wurde Lukian zunehmend eine protestantische Vorliebe,
während in katholischen Kreisen die Ablehnung bis zur Indizierung
führte, und besonders aus den Schulprogrammen der Jesuiten wurde er
weitgehend gestrichen (S. 53 f.). Aber die (überlieferte) Rezeption
verringerte sich in diesem Jahrhundert aus verschiedenen Gründen auch
insgesamt: Nach den Editionsleistungen der Vorzeit bestand auf diesem Gebiet
erst einmal geringerer Handlungsbedarf, die menippeische Satire geriet nun
wieder ins Hintertreffen gegenüber der als normpoetisch reiner
empfundenen Verssatire römischer Provenienz (S. 55 f.), und
schließlich wurde die offene Kritikhaltung Lukians nunmehr als zu
>destruktiv< empfunden (S. 57).
Am Ende dieses Kapitels thematisiert Baumbach sodann bereits
die Lukianrezeption des frühaufklärerischen Frankreich, das –
wie in so vielen Bereichen – mit seinem Faible für diesen Autor
auch für den deutschen Raum einen neuen Trend setzen sollte (S. 62–64).
Neu ist die Art der aktualisierenden Auseinandersetzung: Lediglich die
literarische Form (vor allem der Dialogi Mortuorum) wird von
Fontenelle, Fénelon und anderen dazu genutzt, eigene
(religiös-moralische) Inhalte zu transportieren (S. 64).
Aufklärerische Dialogbegeisterung und der
>Zeitgenosse< Lukian
Das fünfte Kapitel ist vor allem dem positiven
Höhepunkt der bisherigen deutschen Rezeption gewidmet (S. 65–119):
Lukian avanciert zu einem großen Vorbild aufklärerischer Haltung.
Welche Momente seine Texte in diesem Jahrhundert besonders erfolgreich
machten, legt Baumbach übersichtlich in vier Punkten gleich zu Eingang
dar und führt diese im folgenden aus. Es handelt sich um (1) die bereits
eingeführte Vorbildlichkeit der französischen
Frühaufklärung insbesondere mit Bezug auf die Dialogi Mortuorum
, wobei (2) eine Renaissance der Gattung Gespräch durch den
bekannten >dialogischen Charakter< der Aufklärung hinzutritt, noch
verstärkt (3) durch das Interesse am Satirischen als Mittel eines neuen
Journalismus, der gerade Lukians Prosatexte wiederentdeckt. Er wird so
schließlich (4) geradezu ein "Mitstreiter in Sachen
Aufklärung" (S.65).
Nach einer ersten Analyse vor allem der Rezeption durch
Johann Christoph Gottsched (S. 67–72), der unter anderem die Fontenelleschen
Dialogues des Morts übersetzte, kommt Baumbach zunächst noch
auf die Etablierung der Dialogi Mortuorum als Vorbild für die
Gattung Gespräch (S. 75–81) sowie auf die Entstehung des
Zeitschriftenwesens und des neueren Journalismus seit Christian Thomasius zu
sprechen (S. 81–89). 1
Die für die Aufklärung wichtige Kategorie des
>Witzes<, den ein guter Autor in dieser Zeit haben sollte, wird hier
besonders betont, da Lukian gerade diese Eigenschaft zu seinem Vorteil
zugeschrieben wurde. Baumbach versteht den Begriff jedoch gerade für das
frühe 18. Jahrhundert etwas zu eindeutig >modern< (S. 83 f.): Wenn
ein Gottsched von >Verstand< und >Witz< schrieb, ist eher von
einem Hendiadyoin auszugehen, als daß >Witz< in unserer heutigen
Bedeutung zu verstehen wäre. Als Autor >witzig< zu sein,
hieß dementsprechend keineswegs immer, lustig, sondern vielmehr:
gewitzt zu schreiben.
Fraglos ein Kernstück der Studie ist die
Auseinandersetzung mit Christoph Martin Wieland als dem >deutschen
Lukian< (S. 89–113). Daß die Lukiansche Satire einen zeitlosen Wert
darin habe, "grundlegende menschliche Laster aufzudecken" (S. 88),
wurde von Wieland sicherlich am intensivsten und zeitweise auch
erfolgreichsten demonstriert, und Wieland hielt sich und Lukian sogar
für >Brüder im Geiste<, verbunden auch durch eine geistige
Parallelität der Zeit Lukians mit dem späten 18. Jahrhundert (S. 92 f.). 2
Sehr positiv stellt Baumbach dabei für Wielands
Lukianübersetzungen eine gelungene "Gratwanderung zwischen
philologischer Textnähe und sprachlich zeitgemäßer
Wiederbelebung des Textinhalts" heraus (S. 100) und erwähnt dazu
deren hohe Würdigung in Goethes Rede Zu brüderlichem Andenken
Wielands von 1813. Dem ist allerdings
hinzuzufügen, daß Goethe an anderer Stelle, sozusagen wenn keine
pietätvolle Situation sein Urteil beeinflußte, Wielands
Übersetzungsweise auch für weniger unübertrefflich ansah: In
einem der Kommentare zu Besserm Verständnis des
West-östlichen Divans wurde Wielands Verfahren in der Nachfolge
der Belles Infidèles nämlich von ihm nur als eine mittlere Stufe
der guten Übersetzung eingeschätzt, während die
ausgangssprachlich orientierten Übersetzungen eines Johann Heinrich
Voß von ihm als die höchste Stufe angesehen wurden. 3 Auch in der allgemeinen zeitgenössischen
Debatte um das beste Übersetzen galt Wielands Position zudem eher
für eine einigermaßen überholte und bezeichnenderweise als
>französisch< angezweifelte Richtung. Bezieht man dies mit ein,
gelangt man im übrigen bereits hier in den Bereich der drohenden
Herabsetzung Wielands, wie sie Baumbach erst später verfolgt.
Nach einer kurzen Vorstellung eines zweiten großen
Lukianverehrers in dieser Zeit (David Christoph Seybold, S. 114 f.) steht am
Ende auch dieses Kapitels eine Auseinandersetzung mit einem bereits für
das nächste Jahrhundert wichtigen Moment. Unter dem Rubrum
"Philologische Studien: [Johann Matthias, S.E.] Gesners Abhandlung zum
Philopatris" wird ein (ebenfalls Göttinger) Vorläufer
der beiden großen Altphilologen Christian Gottlob Heyne und Friedrich
August Wolf behandelt, der zugleich einer der Wegbereiter einer neuen
literarhistorisch-kritischen Lukianforschung werden sollte (S. 116–119). 4
Neuhumanismus und Altertumswissenschaft nach 1800
Das sechste Kapitel beschreibt "Lukian im
frühen 19. Jahrhundert – die umstrittene Etablierung seines Oeuvre
innerhalb der Altertumswissenschaften" (S. 121–149): Auf der Basis von
Wielands großer Propagation wird Lukian zunächst zum wichtigen
Schulautor neuhumanistischer Bestrebungen Johann Gottfried Herders und
Wilhelm von Humboldts (S. 124–127) und findet in zahlreichen neuen Ausgaben
Verbreitung (S. 127–129). Mit der (sich verstärkenden) Kritik an Wieland
(und damit der Spätaufklärung überhaupt!) gerät jedoch
auch die Position Lukians folgerichtig wieder ins Schwanken, die
philosophische und kritische Haltung des einen wie des anderen wird als zu
vage und (in anti-christlicher Weise) >destruktiv< bewertet, und beide
verfallen manifest dem Verdikt, zu sehr einem Voltaire zu gleichen (S. 130–137, zu H.G. Tzschirner 5
und Friedrich Christoph Schlosser).
Eine >Rettung< zumindest des antiken Autors schien
daher nur möglich über ein neues Bild von ihm jenseits des
Wielandschen: Ein >ernsterer<, >deutscher< "Lukian als
Bildungsreformer" sollte die Lösung sein, die etwa Karl Georg Jacob
verfocht (S. 139–144) – durchsetzen konnte sie sich jedoch nicht: Die
neuere altertumswissenschaftliche Schule, hier in der Gestalt von Karl
Friedrich Hermann, wies sie mit historisch-kritischen Argumenten zurück
(S. 144–148). Eine erste Anzweifelung des moralischen Zustands der Zeit
Lukians überhaupt tat fernerhin das ihre, um Lukian in einem schlechten
Licht erscheinen zu lassen. Die nachnapoleonische Zeit suchte andere epochale
Vorbilder.
Das lange 19. Jahrhundert:
zweierlei nachhaltige Abwertungen
Zu Beginn des siebten Kapitels greift Baumbach noch
einmal auf das frühe 19. Jahrhundert zurück, kann so jedoch die
Rezeptionslinie "Lukian im Spannungsfeld zwischen Theologie und
Altertumswissenschaft" als zentrales Problem der Rezeption in diesem
Jahrhundert gut herleiten. Die Themenführung dieses großen
Kapitels (S. 151–200) ist dann jedoch nicht immer konzentriert genug,
vielmehr verschiebt sich der Fokus mehrmals fast unmerklich.
Nach der Thematisierung der weitgehend säkular
orientierten Rezeption einer langen Aufklärungszeit und der neueren
altertumswissenschaftlichen Schule richtet Baumbach sein Augenmerk
zunächst ergänzend auf die christlich-theologische Aufnahme des
Autors. Diese griff nämlich seit Beginn des neuen Jahrhunderts Raum,
indem die Kirche insgesamt sich wieder mehr mit den pagan-antiken Autoren
auseinandersetzen mußte, um vor allem im Kontext der preußischen
neuhumanistischen Bildungsprogramme überhaupt noch etwas von ihrem
Einfluß auf die Schulen zu wahren (S. 151).
Eine noch von nachwielandscher Offenheit für Lukian,
aber auch schon von christlicher Vereinnahmung geprägte theologische
Rezeption bildet hier den Auftakt. Letztere führte etwa zu einer
weitgehenden >Rettung< Lukians bei Johann Christian Tiemann und August
Kestner. Der erste große und ständig latente Vorwurf gegen Lukian
in dieser Zeit, der der Frivolität, konnte so ferngehalten werden, ja
Lukian wurde in religiös-sittlicher Hinsicht bisweilen sogar zum
Proto-Lutheraner erklärt (S. 156). Der zweite große Vorwurf, das
alte Verdikt von der destruktiven Blasphemie, kehrte jedoch in einer
großen Gegenbewegung zur Rezeption der Spätaufklärung bald
wieder: Schon 1820 erneuerte Heinrich Carl Abraham Eichstädt den
Kritikansatz zu Lukian als Christenfeind an De Morte Peregrini (S.
160–163) und erhielt auch bald Schützenhilfe von seiten der
Altertumswissenschaft (in der Gestalt von August Pauly, S. 163 f.).
Bemerkenswert sind jedoch auch die
>Ausgleichsbemühungen< durch (christliche) Schulmänner, die
ausführlich vorgestellt werden: In den 1840 / 50er Jahren postulierten
etwa E. Nordtmeyer und A. Planck 6 die Vereinbarkeit von christlicher Dogmatik und einem paganen
>Klassiker< wie Lukian, um so den neuhumanistischen Kanon und
christliche Bildungsvorstellungen in Einklang zu halten (S. 164–168).
Baumbach führt sodann noch mehrere weitere und jeweils
für sich genommen sehr interessante Wendungen der
humanistisch-altphilologischen und theologischen Rezeption vor, die
Darstellung des 19. Jahrhunderts ergeht sich dadurch jedoch in einer schwer
zu überschauende Fülle und erhält eine letztlich unnötig
kontingente Struktur. Die hierbei sich einstellende >Themendrift<
führt zudem ab von der neuhumanistischen versus theologischen Rezeption
zu einem reinen Schwerpunkt Schule und Altertumswissenschaft (S. 181–187).
Die dabei thematisierte Debatte um Lukian als Teil des
Lektürekanons angesichts schrumpfender Stundenzahlen – ein eben
gar nicht so neues Thema des altphilologischen Unterrichts – in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist dann jedoch auch wieder
spannend: Exemplarisch werden hier zwei Schulmänner pro und contra
Lukian, Julius Sommerbrodt und Wilhelm Schrader, vorgestellt, von denen
letzterer mit Hilfe des Frivolitätsvorwurfs obsiegt und eine erste
Streichung Lukians aus dem preußischen Schulprogramm ab 1865 bewirkt
(S. 185).
Abschließend fokussiert dieses Kapitel das in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch anhaltende allgemeine
Forschungsinteresse, dem jedoch Jacob Bernays einen hochwirksamen Schlag
versetzen sollte: Bernays wies zwar mit gut philologischen Argumenten den
alten Vorwurf der Christenfeindlichkeit nachhaltig zurück und erzeugte
so eine entspanntere Sicht vor allem auf De Morte Peregrini als
bloß anti-kynischer Schrift. Er gelangte jedoch in einer ganz neuen
Wendung auch zu einer anderen folgenreichen, nun
philosophisch->objektivistischen< Abwertung: Die 1879 von ihm
ausgesprochene Anprangerung einer "nihilistischen Oede" (Zitat
Bernays nach Baumbach, S.192) sollte die Beurteilung Lukians fast einhundert
Jahre so negativ halten, daß die wenigen positiven Stimmen wie Inseln
in einem Meer der Ablehnung erscheinen müssen.
Vielfache >Anklage< bis ins späte 20. Jahrhundert
Das achte und letzte darstellende Kapitel,
chronologisch vom späten 19. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert
reichend, steht sodann unter der nichts Gutes verheißenden
Überschrift: "Lucianus quinquies accusatus – Das Ende
der Lukianforschung in Deutschland" (S. 201–243). Ein tatsächliches
>Ende< läßt sich hier natürlich nicht behaupten –
allein die vorliegende Arbeit wäre ja insofern eine Art performativen
Selbstwiderspruchs –, die fünffache Anklage Lukians (vgl. Baumbachs
Auflistung auf S. 201), 7
die sich seit den 1870er Jahren summierte, hatte den Autor jedoch stark zu
marginalisieren vermocht.
Den ersten >Anklagepunkt< bildet die Fortführung
des Bernaysschen Vorwurfs der >nihilistischen Öde< (S. 201–206);
dieses Verdikt gewann eine allgemeinere Bestärkung durch die lang
andauernde Geringschätzung der sogenannten Zweiten Sophistik des 2.
Jahrhunderts, jener hellenistischen philosophisch-rhetorischen Bewegung, in
deren Umfeld auch Lukian gehörte und die angeblich geistig nichts
Wesentliches mehr zu leisten imstande war (zweiter Punkt, S. 206–209). Hinzu
trat – dritter Punkt – schon vor 1900 eine Ablehnung besonders
der zeitgenössischen Satire, die doch während der
Aufklärung so sehr geschätzt worden war. Für sein wichtigstes
Beispiel hier, die zunehmende Geringschätzung Heinrich Heines und in
dessen Gefolge dann auch Lukians, greift Baumbach zuungunsten der
Kapitelstruktur allerdings erneut zeitlich und thematisch weiter zurück
(S. 215–217).
Thematisch schließt sich — vierter Punkt –
die düsterste Steigerungsform der Ablehnung eines Heine wie eines Lukian
in Form des Antisemitismus an (S. 217–219): Lukian wurde im Rahmen der
rassistischen Debatten um 1900 bereits von dem berüchtigten Houston
Stewart Chamberlain als "syrischer Semit" abqualifiziert (S. 218).
Wieder um eine altphilologische Auseinandersetzung mit Lukian geht es mit dem
fünften Punkt, der die Auswirkungen der >Quellenforschung< auf das
Bild von Lukian als eigenständigem Autor thematisiert (S. 220–226).
Insbesondere die Arbeiten Rudolf Helms sind hier zu nennen: Sie führten
einen Großteil des Lukianischen Werks auf dessen erklärten, aber
an sich kaum erhaltenen Vorläufer Menipp zurück und
beförderten so auch eine allgemeinere Sicht von Lukian als bloßem
>Feuilletonisten< und oberflächlichem Nachschöpfer
älterer Satirik.
Eine wirkliche Wende in der so durch mehrere Facetten
verfestigten Beurteilung Lukians läßt sich erst seit wenigen
Jahrzehnten beobachten; ihr widmet Baumbach die letzten Seiten seiner
Darstellung (S. 236–243). Einen "Lucianus redivivus" (S. 238)
ermöglichte dabei vor allem eine (nicht zufällig von
außerhalb Deutschlands kommende) Neubewertung der Zweiten Sophistik,
deren durchaus vorhandene genuine Leistungen und historische Eigenposition
mittlerweile gesehen werden.
>Serviceleistungen<
Ein hilfreiches Verzeichnis der Schriften Lukians nach den
eingeführten lateinischen sowie griechischen und (in der Regel auf
Wieland beruhenden) deutschen Titeln (Kap. IX, S. 245–250) ist hier genauso
zu erwähnen wie ein Verzeichnis der neuzeitlichen Textausgaben (und
natürlich der sonstigen verwendeten Literatur; beides: Kap. XI, S.
267–309) und die Indices zu den verhandelten Lukianstellen und
"Personen" (= antike Autoren und neuzeitliche Rezipienten;
zusammen: Kap. XII, S. 313–320).
Ein "Anhang" bietet ferner einige Auszüge aus
wichtigen literarischen Rezeptionszeugnissen und Übersetzungen Lukians
von Fontenelle bis Pauly (Kap. X, S. 251–266). Diese freundliche Zugabe
wäre allerdings noch sinnvoller, wenn sie denn eine wirkliche Einbindung
in die Darstellung erfahren hätte. Zumindest häufigere Verweise auf
sie im Verlauf der Studie hätten sich angeboten, ganz zu schweigen von
dem großem Desideratum, das aus der völlig unkommentierten,
"Übersetzungsvergleich" genannten Zusammenstellung dreier
deutscher Fassungen eines Stückchens Lukiandialog besonders deutlich
wird: Wäre es im Rahmen einer rezeptionsgeschichtlichen Arbeit nicht
wenigstens an ein oder zwei Stellen am Platze gewesen, einen
tatsächlichen Übersetzungsvergleich vorzunehmen? Lukians
Griechisch und verschiedene deutsche Übertragungsversionen hätten
sich so vielleicht noch ungleich intensiver, konkreter und kategorial
interessanter präsentieren lassen, als dies bei einer sozusagen rein
doxographisch angelegten Analyse möglich ist.
Fazit
Baumbachs Gang durch die deutsche Rezeptionsgeschichte eines
streitbaren und nicht zuletzt deshalb umstrittenen antiken Autors endigt mit
einer Werbung für die Lektüre dieses >anderen Klassikers< (S.
243). Lukians kritisch-satirische Schriften mögen heutzutage die
Gemüter wohl nicht mehr so zu erregen, wie in so manchen deutschen
Epochen, die Baumbach zum Teil recht lebendig und immer in flüssigem
Stil vorführt. Aber zumal in Wielands großer Übersetzung
stellen Lukians Texte ein kulturhistorisches Zeugnis dar, das um so
bemerkenswerter erscheint, wenn man anhand der vorliegenden Studie en détail
erfahren hat, auf welche (jeweils zeittypischen) Widerstände im
deutschsprachigen Raum es gestoßen ist.
Und nicht zuletzt ist ja glücklicherweise, wie ganz zu
Eingang bereits thematisiert, ein Weiteres anhand dieser weitgehend
gelungenen Darstellung der Rezeptionsgeschichte eines einzelnen antiken
Autors auch zu erkennen, nämlich, welchen Umgang mit basaler (ethischer)
Gesellschaftskritik zumal in satirischer Form die Deutschen zu welchen Phasen
ihrer Kulturgeschichte der Neuzeit wie weit goutierten.
Nicht unerwähnt bleiben soll zum Abschluß, daß Baumbach
die relativ lang erscheinende Zeit zwischen der Einreichung seiner
Dissertation (1997) und ihrer Publikation im vergangenen Jahr nicht ungenutzt
hat verstreichen lassen: Schon im Jahr 2000 hat er die Beiträge eines
1999 von ihm ausgerichteten Kongresses zur europäischen Antikerezeption
herausgegeben, 8 und noch in demselben Jahr
hat er sogar seine eigene Übersetzung eines Lukianischen Haupttextes
publiziert, 9 die das reiche Material seiner
Rezeptionsstudie somit gleichsam um ein neuestes Zeugnis erweiterte. 10
Dr. Stefan Elit
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Anmerkungen
1 Ein Monendum ist die hier jeweils etwas
veraltete Fachliteratur (vgl. Anm. 63 resp. 65 auf S. 82 in der vorliegenden
Arbeit). Etwa zur Entwicklung der Gattung Gespräch wäre hier
ergänzend zu nennen: Brigitte Schlieben-Lange (Hg.): Fachgespräche
in Aufklärung und Revolution (Konzepte der Sprach- und
Literaturwissenschaft; 47) Tübingen: Niemeyer 1989. zurück
2 Wieland postulierte seine innere
Verwandtschaft über die Zeiten hinweg allerdings noch mit mindestens
zwei weiteren antiken Autoren: Vor allem Horaz als Satiriker und Cicero als
Briefverfasser glaubte er nahezu >weiterzuleben< (vgl. etwa zu Wielands
Rezeption des ersteren: Manfred Fuhrmann: Wielands Horaz-Übersetzungen.
In: Christoph Martin Wieland: Übersetzung des Horaz. Hg. v. Manfred
Fuhrmann (C.M.W.: Werke in 12 Bänden 9) Frankfurt: Klassiker 1984, S.
1061–1095). zurück
3 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Besserm
Verständnis. In: J. W. G.: West-östlicher Divan. Hg. v. Karl
Richter in Zusammenarbeit mit Katharina Mommsen und Peter Ludwig (J. W. G.:
Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe.
Hg. v. Karl Richter ins Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert u.a.
11.1.2) München: Hanser 1998, S. 129–282, hier S. 262–265.
zurück
4 Zu Recht trifft Baumbach auch für das
18. Jahrhundert eine Auswahl hinsichtlich der prominenten Lukianrezipienten.
Aus der Kenntnis des Rezensenten sei hier jedoch zumindest noch der Wieland
sicherlich mindestens gleichbedeutende Friedrich Gottlieb Klopstock
erwähnt. Klopstock griff nämlich bei mehreren seiner
sprachwissenschaftlichen und poetologischen Dialoge (v.a. bei den
Grammatischen Gesprächen) auf Lukian zurück, und zwar
ließ er sich insbesondere von dem von Wieland kaum beachteten
Lukianischen Iudicium Vocalium, Gericht der Vokale nachhaltig
inspirieren (zu der >Überreizung< dieses Vorbilds und folglich
einer >Verwässerung< des Lukianischen Humors bei Klopstock vgl.
schon Franz Muncker: Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens
und seiner Schriften. Stuttgart: Göschen 1888, S. 524; vgl. ferner:
Ludwig M. Eichinger / Claire Lüsebrink: Gespräche über die
Sprache. In: Brigitte Schlieben-Lange (Anm. 1), S. 197–240). zurück
5 Die Vornamen nicht zu ermitteln. Baumbach
selbst verfährt in der Namensnennung leider nicht einheitlich: Bald
werden Vornamen ausgeschrieben, bald nicht, auch wenn sie ermittelbar
waren. zurück
6 Vgl. die vorangehende Anmerkung.
zurück
7 Lukian selbst hatte sich in einer Schrift
satirisch-fiktiv ja nur zweimal angeklagt gesehen, vgl. den Dialog Bis
Accusatus. zurück
8 M.B. (Hg.): Tradita et Inventa.
Beiträge zur Rezeption der Antike. Heidelberg: Winter 2000.
zurück
9 Lukian von Samosata: Wahre Geschichten. Aus
dem Griechischen übersetzt und mit einem Nachwort von M.B. Zürich:
Manesse 2000. zurück
10 Zu erwähnen ist hier noch eine
bereits erschienene Rezension der vorliegenden Arbeit: In ihr weißt der
Doyen der neueren deutschen Lukianforschung, Heinz-Günther Nesselrath,
(abschließend) leider insbesondere auf eine bedenkliche Mängelrate
in der Zitationsgenauigkeit bei Baumbach hin, die das ansonsten auch bei ihm
grundsätzlich eher positive Bild etwas trüben (vgl. diese Rezension
unter der URL:
http://ccat.sas.upenn.edu/bmcr/2003/2003-01-24.html
). zurück
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