Elit über Hurlebusch (Hg.): Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik

IASLonline


Stefan Elit

Eine Edition und ihr großer Apparat:
1001 Seite zu Klopstocks Gelehrtenrepublik

  • Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Bd. 2: Text / Apparat. Hg. von Klaus Hurlebusch (F.G.K.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe [Hamburger Klopstock-Ausgabe]. Werke VII 2). Berlin / New York: de Gruyter 2003. 1001 S. Kart. EUR (D) 298,-.
    ISBN 3-11-016421-3.


Fast drei Jahrzehnte nach dem ersten, den historischen Haupttext enthaltenden Band ist im Rahmen der Hamburger Klopstock-Ausgabe (im folgenden: HKA) nun der zweite und abschließende Band zu Klopstocks Die deutsche Gelehrtenrepublik (im folgenden: GR) erschienen. 1 Damit hat die HKA ein weiteres zentrales Werk des Autors mustergültig (und fast ein wenig beängstigend umfassend) für die Forschung aufbereitet. Abgesehen von dem schon 1982 erschienenen, von demselben Herausgeber betreuten Arbeitstagebuch Klopstocks von 1755 / 56 (HKA Addenda II), ist so zugleich die erste Prosaschrift des Autors komplett neu erschlossen. Auf die Edition der sich zum Teil an die GR anschließenden weiteren Prosatexte Klopstocks zu Sprache und Dichtkunst – vor allem die Grammatischen Gespräche, sein größtes Projekt der 1780 / 90er Jahre, wären hier zu nennen – ist nun mit Spannung zu warten.

Über die grundsätzliche philologische Leistung dieses weiteren großen Bandes der HKA ist hier kaum ein Wort zu verlieren, so unbestritten dürfte die durchgängige Spitzenarbeit der Ausgabe wohl fast von Anbeginn an gewesen sein. 2 Eine besondere Bekanntmachung verdient gerade dieser Band dennoch aus verschiedenen Gründen. Zum einen enthält er zunächst eine nicht geringe Zahl hochinteressanter Texte und Textstücke aus dem näheren und weiteren Umfeld der GR: "Textstücke zum geplanten zweiten Teil der >Gelehrtenrepublik< von 1774" (S. 1–102), die bereits 1771 gesondert veröffentlichten "Gesetze der Gelehrtenrepublik in Deutschland" (S. 103–118), sehr aufschlußreiche "Frühe Arbeiten zum Themenkomplex >Stand und Staat der Gelehrten<" (S. 119–149) als eine Art Proto-GR und schließlich ebenfalls für sich kennenlernenswerte "Textstücke fraglicher Werkzugehörigkeit" (S. 151–227).

Zum anderen birgt der Apparatteil zur GR insgesamt (S. 231–445), zu ihren Teilen (S. 447–732) sowie zu den erwähnten Texten aus dem Umfeld (S. 733–924) geradezu luxuriöse Verständnishilfen. Dieser >Apparat< enthält nämlich nicht nur, wie bei der HKA in vorbildlicher Weise üblich, genaue Angaben zu Überlieferung, Textkonstitution und autoreigenen >Varianten< resp. autorfremden >Lesarten<. Es finden sich hier zudem vorzügliche Dokumentationen der jeweiligen "Zeugnisse zur Entstehung und Wirkung", und zusätzlich zu den Zeugnissen hat der Herausgeber kenntnis- wie umfangreiche und oft ganz grundsätzliche einführende Essays beigegeben, die meist unter dem bescheidenen Rubrum >Textgenese< firmieren.

Was der Apparatteil nicht enthält, sind sprachliche oder inhaltliche Einzelanmerkungen zu den Texten, sprich: einen Stellenkommentar als direkteste (und oft ja nützlichste) Hilfestellung für die Interpretation – dieser Kommentarebene enthält sich die HKA jedoch ihrem Grundsatz nach, so daß dieser Punkt hier eigentlich nicht mehr als Desiderat in Anschlag zu bringen ist. Der Leser der HKA ist allerdings etwas verwöhnt durch die realienkundlichen und verweisorientierten Stellenkommentare, die andere Bände, zum Arbeitstagebuch, zu den Epigrammen und vor allem zu den Briefen, denn doch enthalten.

Eine kleine Entschädigung bieten ganz am Ende des Bandes allerdings das HKA-übliche gründliche Register (S. 947–1001) sowie zwei angehängte Faksimiles von Manuskriptpassagen, die zugleich Klopstocks (gut leserliche) lateinische und deutsche Kurrentschrift gegenüberstellen.

Textpräsentation zur Erweiterung
des Forschungshorizontes

Die historische wie dann auch die wissenschaftliche Wahrnehmung der GR beschränkte sich üblicherweise auf den 1773 / 1774 von Klopstock selbst veröffentlichten Band. Seine überwiegend verständnislose, ablehnende und nur ganz ausnahmsweise positive zeitgenössische Rezeption (letztere etwa bei Goethe) ließ den Autor bald von einer Veröffentlichung des geplanten zweiten Teils Abstand nehmen, und eine Verlagerung der Interessen führte ihn fernerhin im Bereich der Prosa zu anderen Publikationen in nurmehr angrenzenden Bereichen. Der vorliegende Band erschließt nun jedoch erstmals die zahlreichen Textstücke, die Klopstock noch für den zweiten Teil der GR verfaßt hat und die gegen Ende bereits von seiner späteren Interessenkonzentration auf den Bereich Sprache und Dichtkunst, zumal im internationalen Vergleich, zeugen.

Hingewiesen sei hier zum Beispiel auf das letzte Textstück mit der Überschrift "Abend. Von dem Reichthume, und der Biegsamkeit unsrer Sprache" (Textteil I, 16, S. 98–102). In diesem wird dazu angesetzt, den besonderen >Reichtum< und die einzigartige >Biegsamkeit< der deutschen Sprache vor allem durch Übersetzungen aus antiken Dichtungen zu beweisen. Die im Hintergrund stehende Annahme ist dabei, daß das Deutsche die genannten Eigenschaften durch seine Reproduktionsfähigkeit anerkannter griechischer und lateinischer Literatur so beweisen könne, daß zugleich >endlich< sein allgemeiner hoher Rang unter den alten wie neuen Kultursprachen zutage trete und anerkannt werde. Das Vorhaben eines solchen Rangbeweises sollte Klopstock im Rahmen der Grammatischen Gespräche in umfassender Weise und als immer selbständigeres Projekt fortsetzen. 3

Eine Reihe von Übersetzungsstücken, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von Klopstock zumindest zunächst für das Textstück I, 16 angefertigt worden sind, finden sich im Textteil IV, 6 in zehn Einzelstücken versammelt (S. 168–225). Es handelt sich dabei um >Übersetzungsproben< vor allem aus Prosawerken, etwa von Caesar, Cicero oder Xenophon; aus dem Bereich der Versdichtung finden sich hier lediglich zwei kleine Stücke aus Homers Ilias, die Klopstock zudem nur in Prosa zu übersetzen wagte. Bei seinen späteren Übersetzungen (für das soeben erwähnte wettstreitende Übersetzungsunternehmen in den Grammatischen Gesprächen) verlagerte er den Schwerpunkt jedoch deutlich in den Bereich der Versdichtungen, indem er vornehmlich >Proben< zu Homer, Horaz, Ovid und Vergil vorlegte und dabei auch das jeweilige Metrum übernahm. Diese Form der Übersetzung hielt er zur Zeit des erwähnten Textstückes I, 16 allerdings noch nicht für möglich (vgl. S. 100, Z. 34–40).

Darüber hinaus stellte Klopstock bereits hier, und zwar sogleich in der für sein Gesamtwerk längsten zusammenhängenden Form, allgemeine übersetzungstheoretische Überlegungen an, die ein im zeitgenössischen Vergleich recht hohes Anforderungsniveau aufweisen (S. 99, Z. 16ff.). Sie positionieren Klopstock als Übersetzer auf besondere Weise zwischen der damals schon älteren zielsprachlich orientierten Übersetzungsweise im Gefolge der >belles infidèles<, wie sie insbesondere Wieland noch verfolgte, und einer neu aufkommenden, stark ausgangssprachlich orientierten Übersetzungsrichtung, die bei Klopstocks Schüler Johann Heinrich Voß bereits kulminierte. Klopstocks eigene Position, wie er sie später auch noch verschiedentlich skizzieren sollte, fordert nun zwar grundsätzlich auch eine sensible Orientierung an der Ausgangssprache, mahnt jedoch dabei die Respektierung der Möglichkeiten und Grenzen der Zielsprache an, in die übersetzt wird; einer prinzipiell ausgangssprachlich orientierten Übersetzungsweise werden hier also von seiten der Zielsprache deutliche (idiomatische) Grenzen gesetzt. 4

Neben den weiterführenden Linien, die sich aus der Präsentation der unveröffentlichten weiteren Textstücke zur GR ergeben, sind jedoch auch die hinführenden zu erwähnen, die die Forschung mit Hilfe des vorliegenden Bandes nun viel besser in den Blick nehmen kann. Mit Textteil II und III lassen sich nämlich frühere Stufen der GR leichter rezipieren, die Klopstocks Interesse am Thema in früheren Phasen zeigen: einerseits auf dem Stand von 1771 (= Textteil II, Wiedergabe der separaten Zeitschriftenveröffentlichung von Gesetzen der Gelehrtenrepublik in Deutschland, die in Überarbeitung und Erweiterung in die GR eingehen sollten) und andererseits sogar bereits auf dem Stand von 1755 und 1768 (= Textteil III: "Frühe Arbeiten zum Themenkomplex >Staat und Stand der Gelehrten<"; III, 1 aus dem Kontext des erwähnten Arbeitstagebuchs von 1754 / 55, III, 2f. aus dem Kontext des Wiener Plans von 1768).

Läßt sich dabei an Textteil II vornehmlich eine recht direkte Vorstufe der GR von 1774 nun einfacher zum Vergleich heranziehen, so gewährt Textteil III eine noch viel interessantere Einsicht in bezug auf Arbeitsphasen Klopstocks im allgemeinen. Handelte es sich nämlich bei der GR von 1774 bekanntermaßen um ein Manifest der besonders >deutschen< Phase Klopstocks, für die bei ihm die Rezeption (und Konstruktion) einer eigenen germanisch-deutschen Kulturwelt kennzeichnend ist, so läßt sich an den Texten von 1755 (III, 1, S. 121–131) feststellen, daß der frühe Klopstock auch dieses Thema zunächst in transnational-humanistischer Weise angegangen ist: Genau so, wie Klopstocks frühe Versdichtung auf den Füßen der griechisch-römischen Mythologie und Poesie ruhte, zeigen die frühesten Überlegungen zu "Stand und Staat der Gelehrten" seine anfänglich intensive antikisch-humanistische Orientierung.

Essays zur >Textgenese<
oder: Thesen zu Klopstocks
Autorkonzeption und Poetik

Neue Forschungsimpulse gehen allerdings keineswegs nur von den Textteilen des vorliegenden Bandes aus, denn der Apparatteil bietet neben der grundsätzlichen editionsphilologischen Aufbereitung auch eine große Auswahl an Entstehungs- und Wirkungszeugnissen vor allem in Form von Briefen und zeitgenössischen Rezensionen, deren Lektüre schon für sich zu vielerlei Erkenntnissen und Aufschlüssen verhelfen kann. Überdies sind dort – wie bereits erwähnt, meist mit dem Rubrum >Textgenese< – profunde Essays zur GR und ihren mannigfaltigen diskursiven Umfeldern sowie zu Klopstocks gesamter Vorstellungswelt und Poetik zu entdecken.

Der Hauptessay zu "Genese und Geschichte des Werkes" im ganzen (S. 233–311) unternimmt es dabei gleich, die GR aus einer umfassend angelegten Perspektive auf Klopstocks Schaffen anzugehen – eine Perspektive, die sich wie ein roter Faden durch die weiteren Essays ziehen wird. Es handelt sich dabei um eine poetologische Grundlinie, die sich nach Ansicht des Herausgebers in innerer wie äußerer Anlage der GR (und fernerhin auch in anderen Werken) beim mittleren und späten Klopstock zunehmend zeigte: die Verlagerung von Klopstocks Poetik von einer Wirkungsästhetik der >Herzbewegung< resp. >Darstellung< hin zu einer proto-modernen, in der Terminologie des Herausgebers des vorliegenden Bandes: >autorzentrischen< Schaffensästhetik mit gleichzeitig schwach ausgeprägtem >Werkbewußtsein<, das heißt: geringem Interesse an der >Stabilität< eines entstehenden Werkes (Kap. 1 des Essays, S. 234–262).

Zu bedenken gegeben sei hier allerdings: So verlockend die Annahme einer alles steuernden Egozentrik Klopstocks als Autor auf diesen und vielen weiteren Ebenen wirkt, sie ist vielleicht doch nur ein einzelnes Erklärungsmoment und nicht das einzige, stets anzusetzende Movens. >Herzbewegung< als Ausdrucksziel der Poesie und die Anerkennung der deutschen Sprache als bestes Medium für eine solche Wirkung als gleichsam unterstützende Zielrichtung der poetologischen Prosa bleiben meines Erachtens primär wirkungsästhetische Intentionen, die Klopstock allerdings zugestandenermaßen mit sehr >eigenen<, egozentrischen Maßgaben verfolgte.

Das stete Einbringen der These von der (mit dem Herausgeber:) >Autorzentrik< Klopstocks in den vorliegenden Band erscheint nun schließlich auf der einen Seite nur konsequent, wenn man sie für so grundsätzlich wirksam hält, wie es der Herausgeber anscheinend tut. Auf der anderen Seite könnte man allerdings auch fragen, ob ein Editionsband für solch eine dezidierte neue Gesamtperspektive bereits der rechte Ort ist. 5

Scheint die Annahme einer kompletten Verschiebung der >Intention< der Poetik Klopstocks von der Wirkung zu einer reinen Bezüglichkeit auf den Autor und seinen Schaffensprozeß zwar etwas gewagt, so bietet sie im einzelnen doch die Möglichkeit, verschiedene Züge nicht nur der GR und ihrer Entstehung besser zu verstehen: So kann insbesondere der vielfach fragmentarische Charakter von Texten Klopstocks nun gut damit erklärt werden, daß im Zentrum des Schaffens eben nicht so sehr das gefälligst auch zu vollendende Werk stand. Ferner ergibt sich die Unverständlichkeit so mancher seiner Konzeptionen für die Zeitgenossen eben aus der (auch bereits notorischen) Egozentrik, die zu einer immer hermetischeren sprachlichen wie gedanklichen Idiosynkrasie führte, die sich selbst genügte.

In seinen weiteren Kapiteln widmet sich der Hauptessay vor allem den >inneren< Entstehungszusammenhängen der GR von dem erwähnten übernational-humanistischen Frühstadium an. Erwähnenswert erscheint aus diesen reichen Folgeabschnitten noch zweierlei: Zum einen ist dies die Thematisierung des Status von Allegorie und Satire in der GR (S. 266–269), dessen Einschätzung von Anfang an ein Problem für die Rezeption war. Denn schon die Zeitgenossen sahen oft nicht, daß es Klopstock bei aller Allegorisierung und satirischen Einkleidung mit seiner >Gelehrtenrepublik< ganz real ernst war, daß er sie sich nicht nur im üblichen Sinne als virtuelle Gemeinschaftsbildung vorstellte. Die beiden literarischen Mittel dienten vielmehr der Unterhaltung – und dem Selbstschutz vor einer Haftbarmachung des Autors bei allzu großer Kritik (und genauso sollte Klopstock dann ja noch einmal verfahren, als er in den Grammatischen Gesprächen einen Übersetzungswettstreit konzipierte, den er schließlich des literarischen Schutzmantels entkleidete, um so nachdrücklicher einen wirklichen Wettstreit zu erreichen).

Zum anderen entwickelt der Herausgeber noch eine sympathische Ausdifferenzierung gegenüber der soeben problematisierten >Autorzentrik< Klopstocks, und zwar wird "das geistige Kraftzentrum seines Schaffens" nun auf "zwei Pole" bezogen: "das egozentrisch-expressive Ursprünglichkeitsdenken und das bibliozentrisch-werkschaffende Streben nach Repräsentation" (S. 270). Diese Pole werden dabei als Quelle verstanden "für eine widersprüchliche Dynamik von intensiver Ausdrucksneigung und extensivem, von Größenwahn nicht immer freien Verewigungswillen" (ebd.).

Letztere Einschätzung ist wiederum für einen Klopstockforscher wohl schon >starker Tobak< und zeugt von einer nicht unbeachtlichen Distanznahme, man kann sich diesem Urteil jedoch kaum entziehen, wenn man es einmal als einen wichtigen Erklärungshintergrund für Klopstocks Schaffen allgemein und für das Zustandekommen der GR im besonderen ansetzt.

Etwa das pure Textkonvolut, das die GR darstellen, erklärt sich nämlich besonders gut, wenn man sich vorstellt, daß Klopstock zum einen in zentralen Textteilen ein (egozentrisches, inneres) Ausdrucksbedürfnis umgesetzt hat, zum anderen aber mehrere Textstücke nur eingefügt hat, um eine gewisse (repräsentative) Buchstärke zu erreichen, die er für eine äußere Anerkennung wohl zu benötigen glaubte – aufgrund des eher schmalen Ausdruckskerns und des eigentlich geringen >Werkbewußtseins< ergab sich so auch, daß die GR dem Autor "ein offenes Werk" (S. 259) blieben, das er immer wieder nach verschiedenen (auch rein äußerlichen) Kriterien umgruppierte.

Über die grundsätzlichen Entstehungszusammenhänge hinaus, die in dem Hauptessay gleichmäßig weiterverfolgt werden (bis zur vermutlich 1779 endgültig eingestellten Planung einer Fortsetzungspublikation als GR 2), bieten Essays zur >Textgenese< der einzelnen Teile von GR 1 und der mit ihr verbundenen Textstücke viele weitere Hintergrundinformationen:

Sehr interessant ist zum Beispiel die allgemeine >textgenetische< Erläuterung des zweiten Textabschnitts innerhalb der GR von 1774, der "Geschichte des lezten Landtages" (S. 504–543); hier kommen nämlich besonders die konkreten realen Gegner ins Blickfeld, gegenüber denen Klopstock in diesem Abschnitt mehr oder weniger deutlich Position bezieht (S. 507–534): zunächst Friedrich II. von Preußen, dessen Frankophilie Klopstock ein Greuel war, sodann allgemein die klassischen Philologen in ihrer Pedanterie und zu starken Antike-Orientierung sowie namentlich der Dichter Ramler, ferner Lessing als Kritiker (auch Klopstockischer Schriften) und Schönaich in Stellvertretung für den seit langem zu Klopstock in poetologischer Opposition stehenden Gottschedkreis.

Ein weiterer größerer Essay fokussiert die grammatischen Passagen der GR, und auch in diesem Apparatteil wird ein umfassender allgemeiner Aufschluß über Klopstock, den "Dichter als Grammatiker – [den] Grammatiker als Dichter" gegeben (S. 566–579, Kap. 1 dieses Essays). Dabei kommt ebenfalls die besondere >Selbstbezüglichkeit< des Autors zur Sprache, und zwar nun in Form seiner "grammatischen Identifikation mit der selbstbezüglich idealisierten deutschen Sprache" (S. 579–586, Kap. 2). Ein weiterer Abschnitt dieses Essays, zu "Klopstocks energetische[m] Sprachbegriff" (S. 586–600, Kap. 3), bringt seinerseits wichtige Grundsatzerläuterungen, etwa zu den für den Autor zentralen Charakteristika der deutschen Sprache: "Bildsamkeit – Einheitlichkeit – Ganzheit" (S. 594–600).

Die Ausführungen zu den grammatischen Textstücken gleichsam fortführend wirkt sodann ein Essay zu dem GR-Abschnitt "Zur Poetik", und dieser greift nun erneut auf die ganze Poetik des Autors aus (S. 672–720), deren zentrale Kategorien wie >Darstellung<, >Bewegung< und >Dichtung für das Ohr< hier jeweils eigens thematisiert und wiederum verschiedentlich mit der Grundthese des Herausgebers zur >Autorzentrik< Klopstocks in Beziehung gesetzt werden.

Kürzere Einzelessays zu den im vorliegenden Band präsentierten weiteren Textstücken des GR-Komplexes schließen sich in den betreffenden Apparatteilen an (S. 733–924). Besondere Erwähnung verdient von diesen vielleicht zum einen derjenige zu Textteil I, 9–14, einer historischen Fragmentsammlung Klopstocks "Zur Geschichte unsrer Sprache"; in diesem Essay wird insbesondere die Zusammenstellung dieser Textstücke, die sprachgeschichtliche Studien Klopstocks festhalten, wunderbar detailliert verfolgt (S. 807–829). Zum anderen sind die Erläuterungen zu dem bereits hervorgehobenen Textteil I, 16 ("Abend. Von dem Reichthume, und der Biegsamkeit unsrer Sprache") erwähnenswert, da sie eine schöne grundsätzliche Einführung in "Entstehung und Entwicklung der Übersetzertätigkeit" des Autors geben (S. 846–863).

Fazit

Die editionsphilologische Aufbereitung des vorliegenden Bandes stellt die Erforschung der GR auf eine sichere neue Grundlage, und die Präsentation bisher schwer oder gar nicht zugänglicher Texte aus dem näheren und weiteren Umfeld der GR von 1774 ermöglicht der Forschung einige neue Perspektiven. Darüber hinaus präsentieren zum Teil recht umfangreiche >textgenetische< Essays eigene Sichtweisen des Herausgebers nicht allein auf das GR-Projekt, sondern auch für Klopstocks Vorstellungswelt und Poetik im ganzen und in vielen Details.

Die Annahme einer Verschiebung der gesamten Klopstockschen Poetik von einer Wirkungsästhetik hin zu einer proto-modernen >Autorzentrik< ist hier die bemerkenswerteste und diskutabelste These. Die umfassende Einbringung dieser neuen für die Forschung noch recht >frischen< Generalthese ist dabei wohl für den Apparatband einer historisch-kritischen Ausgabe etwas gewagt, schmälert jedoch die enorme Leistung des vorliegenden Bandes nicht, da man diese These und die mit ihr verbundenen Aussagen ja gesondert neben den dargebotenen Texten und den rein editionsphilologischen Apparatteilen rezipieren kann.

Über das von diesem Band bereits Geleistete und in besonderem Maße Angebotene hinaus ist für die Klopstockforschung nun zum einen etwa an eine weitere kulturgeschichtliche Einordnung des GR-Komplexes und an konkrete Vergleiche mit Projekten von Zeitgenossen (etwa Herders Fragmente) zu denken. Zum anderen stehen die weiteren sprachpatriotischen Bemühungen Klopstocks, die sich in der Folge des GR-Projektes und seiner konzeptuellen Verschiebungen zumal in Form der Grammatischen Gespräche ergaben, nun ebenfalls erneut zur Entdeckung an. Allerdings wird die HKA in letzterem Fall wohl wiederum erst einmal den editorischen Grund legen müssen.


Dr. Stefan Elit
Berlin-Brandenburgische
Akademie der Wissenschaften
Goethe-Wörterbuch
Jägerstr. 22 / 23
D-10117 Berlin

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 31.10.2003
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Anne Bohnenkamp-Renken. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]

Anmerkungen

1 Zu den hier nicht zu erläuternden, verständlichen Gründen s. im vorliegenden Band das Nachwort, S. 944f.   zurück

2 Unter den zahlreichen Rezensionen resp. Würdigungen vorangegangener Bände vgl. etwa die beständig begleitenden von Norbert Oellers in der Zeitschrift arcadia (für genauere Angaben zu diesen und anderen Rezensionen vgl. Helmut Riege: Klopstock-Bibliographie 1972–1992. In: Klopstock an der Grenze der Epochen. Mit Klopstock-Bibliographie 1972–1992 v. Helmut Riege. Hg. v. Kevin Hilliard u. Katrin Kohl, Berlin / New York 1995, S. 260f.).   zurück

3 Für einen kurzen Überblick über dieses spätere Unternehmen vgl. Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock (Sammlung Metzler 325) Stuttgart / Weimar 2000, S. 122–128, und ferner Stefan Elit: Die beste aller möglichen Sprachen der Poesie. Klopstocks wettstreitende Übersetzungen lateinischer und griechischer Literatur (Die Antike und ihr Weiterleben 3) St. Augustin 2002.   zurück

4 In dem Essay zu Textstück I, 16 im Apparatteil, vgl. bes. S. 850ff., sieht der Herausgeber Klopstocks übersetzungstheoretische Position mehr auf der Seite der Zielsprachenorientierung, als ich es soeben hier dargelegt habe; es handelt sich jedoch vielleicht mehr um eine Frage der Nomenklatur denn um einen Unterschied in der Sachinterpretation.   zurück

5 Das Thema der >Autorzentrik< Klopstocks wurde von dem Herausgeber des vorliegenden Bandes allerdings bereits allgemeiner verfolgt in zwei vorangegangenen Arbeiten: Klaus Hurlebusch: Soviel Anfang war selten. Klopstock und die zeitgenössischen Genieästhetiker als Wegbereiter der literarischen Moderne. In: Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag. Hg. von Sabine Doering, Waltraud Maierhofer und Peter Philipp Riedl. Würzburg 2000, S. 61–82. sowie K. H.: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens. Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne. Tübingen 2001.   zurück