Erhart über Heinz: Wissen vom Menschen - Preprint

Walter Erhart

Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 6). Berlin, New York: Walter de Gruyter 1996. XVI/369 S. DM 198,-



Die Mühlen der Wissenschaften und der Dissertationen mahlen langsam. Bereits 1980 stellte Hans-Jürgen Schings ein Konzept des anthropologischen Romans im 18. Jahrhundert vor: "Seine Entstehung und Krise im Zeitalter derSpätaufklärung". 1 Zwölf Jahre später leitet er ein Symposion der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, dessen Beiträge 1994 veröffentlicht werden. 2 Im selben Jahr berichtet Wolfgang Riedel dementsprechend über eine "Forschungslandschaft", die bereits Früchte getragen hat, deren Entdeckung freilich immer noch aussteht, ja die eben im Begriff steht, sich in ein neues Paradigma (horribile dictu?) zu verwandeln. 3

Obwohl Jutta Heinz diese respektable Forschungstradition sogar noch weiter zurückverfolgt (bis zu Odo Marquard und zu Schings' Habilitationsschrift über Aufklärung und Melancholie), kann auch sie ihre Arbeit als eine Art Grundsteinlegung vorstellen: "die Erarbeitung eines neuen Forschungskonzeptes des anthropologischen Romans der Spätaufklärung" (S. 4). Dazu aber müssen zunächst einmal (um im Bilde zu bleiben) die Fundamente, Gebäude und Ruinen weggeräumt werden, die eine prosperierende Aufklärungsforschung in den letzten drei Jahrzehnten hinterlassen hat, und diese imposanten Ruinen werden samt und sonders auf den Namen "Sozialgeschichte" getauft. Erst mit diesem Gegner vor Augen können Schings, Riedel und auch Heinz ihr eigenes neues Programm lancieren: "weg von der reinen Sozialgeschichte hin zur Quellenforschung" (S. 6).

Die Sozialgeschichtsschreibung der Literatur des 18. Jahrhunderts setzt sich in dieser Lesart von Jutta Heinz vor allem zwei Vorwürfen aus.

Zum einen haben die von ihr beeinflußten Arbeiten eben vielfältig vorliegende "Quellen" nicht berücksichtigt und statt dessen "einer starken Isolation der Kontexte auf genuin literarische Bereiche" das Wort geredet. Zum anderen aber laborieren nicht wenige sozialgeschichtliche Forschungen an einem "Problem der Theorielastigkeit" (S. 10): Die Reinheit der "reinen" Sozialgeschichte bestünde demzufolge offensichtlich darin, sich über Gebühr auf die schon zeitgenössischen Theorie-Konzepte (die Poetik des Romans etwa) zu konzentrieren, dann jedoch deren Ergebnisse auf ihrerseits theoretisch vorgefertigte sozialgeschichtliche Befunde hochzurechnen. Die Vorwürfe also entwerfen ein scheinbar paradoxes Bild dieser "Sozialgeschichte": Einerseits habe sich die Literaturwissenschaft unter ihrem Einfluß offensichtlich doch zu sehr (und malgré lui) auf die Literatur beschränkt; andererseits aber sei sie dabei sehr wohl "theorielastig" geblieben.

Wie dem auch sei (und die Wissenschaftsgeschichte einer in die Jahre gekommenen Sozialgeschichte der deutschen Literatur steht in der Tat aus), die wohldosierte und (dankenswerterweise) nicht mit ausladenden Forschungsberichten belastete Kritik der bisherigen Forschung erlaubt es der Autorin, ihr eigenes Programm dementsprechend zielsicher zu lancieren. Zum einen nämlich sollen - in den Spuren von Schings - die "für die Spätaufklärung entscheidende(n) außerliterarische(n) Aspekte" (S.10) in den anthropologiegeschichtlich geschärften Blick geraten; zum anderen aber sollen diese "Quellen" nicht unbedingt mit Theorien, sondern anhand der literarischen Werke selbst überprüft und an diesen gemessen werden.

Bekanntlich hat die sozialgeschichtlich orientierte Forschung häufig genug Thesen über eine Dialektik der Aufklärung variiert. Auch auf diese "Theorielastigkeit" will Jutta Heinz eine neue Antwort geben: So soll der neu zu entdeckende "anthropologische Roman" als "Beitrag zu einer wieder wichtig gewordenen Strategie zur Überwindung der Dialektik der Aufklärung von innen heraus gewürdigt werden" (S.4). Von außen also wird die Literatur mit anthropologiegeschichtlichen "Quellen" umstellt und dadurch fundiert; von innen heraus aber - von ihrem eigenen "kulturellen Wissen" (S.6,11) 4 her - gelingt der Romanliteratur des 18. Jahrhunderts die Lösung ("Überwindung") eines aktuellen theoretischen Problems.

Mit diesen Vorgaben hat sich Jutta Heinz hohe Ziele gesetzt. Auf der einen Seite will sie die Fundamente ihres Untersuchungsgegenstandes selbst erst quellenkritisch freilegen; auf der anderen Seite muß sie im Bestreben, einen, wenn nicht den wichtigsten Romantypus des 18. Jahrhunderts mit einem neuen "Forschungskonzept" zu versehen, an einer "systematischen Vermittlung romantheoretischer, poetologischer und typologischer Ansätze" (S.11) interessiert sein. Darüber hinaus ist ihre Arbeit (nolens volens) ein Testfall für die gesamte anthropologiegeschichtliche Wende der Aufklärungsforschung: Die vorliegende Dissertation geht auf die Gründungsakten dieses Forschungskonzeptes zurück, und sie verspricht es zugleich (siegreich?) in eine neue Debatte über Aufklärung überhaupt führen zu können - nach der Dialektik der Aufklärung, nach der Sozialgeschichte, nach der Quellenforschung.

Ein Drittel des gesamten Buches widmet sich der Grundlagenforschung: "Entstehung und Entwicklung der Anthropologie im 18. Jahrhundert - Ansätze zu einer Wissenschaftsgeschichte" (S.19-123). Es handelt sich dabei nicht nur um eine der besten und ausführlichsten Einführungen in dieses Thema; die Verfasserin entwickelt darin zugleich die Leitlinien und Schwerpunkte ihrer eigenen Untersuchung, die sie selbst anschließend an den von ihr ausgewählten Romanen fortsetzt, appliziert und überprüft.

Am Beginn steht ein Überblick über die Verlaufsformen der "Wissenschaft vom Menschen" im 18. Jahrhundert: von der Kritik an der rationalistischen Vermögenstheorie des Christian Wolff über die empirische Psychologie bei Thomasius und den "philosophischen Ärzten" bis zur vergleichenden und universalistischen (romantischen) Anthropologie um 1800. Entscheidend dabei sind Einfluß und Kritik des (vornehmlich französischen) Materialismus in den 80er Jahren sowie die zunehmende popularphilosophische Rezeption und Verbreitung der anthropologischen Themen. Die daraufhin vorgestellten Themenschwerpunkte der anthropologischen Diskussion stecken zugleich das Terrain ab, auf dem sich der später untersuchte anthropologische Roman des 18. Jahrhunderts bewegt.

In der breit geführten Debatte um das Problem des >commercium<, das Wechselspiel zwischen Leib und Seele, werden zunächst die durch die "Rehabilitation der Sinnlichkeit" (Panajotis Kondylis) ausgelösten Konflikte ausgetragen und zuletzt mit Hilfe monistischer und historisierender Konzepte gelöst, verdrängt, überwunden oder minimalisiert (S. 55-75). Die psychologische "Emanzipation der Emotionen" - zwischen materialistischer Freisetzung affektiver Triebkräfte einerseits, harmonisierender Bewahrung des "Vernünftigen" und "Menschlichen" andererseits - war bereits durch den anthropologischen Versuch eines "Mittelweges" ausbalanciert und gebändigt worden (S. 76-88). Die Freisetzung der Einbildungskraft kann im dichterischen Bild des "Schwärmers" und des "Genies" beschworen, zugleich aber auch "domestiziert" werden (S. 88-103). Die "Dynamisierung der Anthropologie" zu einer "Geschichte des Menschen" führt schließlich zu einer kulturhistorischen Konzeptualisierung anthropologischer Themen, zugleich jedoch zur Aufhebung der "Wissenschaft vom Menschen" in den großflächigen Modellen der Geschichtsphilosophie um 1800 (S. 103-117).

Die Darstellung zeigt: Eine Dialektik der Aufklärung, die sich an den unbewältigten Konsequenzen und Folgelasten der Vernunftansprüche abarbeitet, reicht bis weit ins 18. Jahrhundert hinein zurück. Das anthropologische Konfliktpotential des Problems des >commercium<, mit seinen im Verlauf des 18. Jahrhunderts so zahlreich zutagetretenden Widersprüchen, wird dabei durch die theoretischen Umbesetzungen am Ende des Jahrhunderts (vor allem in Deutschland) eher stillgelegt als abschließend gelöst. Die empirische und konkrete, zuweilen fast konkretistische Ausrichtung der aufklärerischen Anthropologie hat stets die Nähe zu den >exempla< gesucht, zu fiktiven Fallgeschichten und zu literarischen Texten. Dort bleiben auch die Widersprüche bestehen, und deshalb kann Jutta Heinz ihre anschließende Untersuchung des aufklärerischen anthropologischen Romans nicht nur als germanistisch-literaturwissenschaftliche Anwendung der zuvor geleisteten wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion präsentieren, sondern zugleich als deren Höhepunkt. Der "anthropologische Roman" nämlich bringt Potential und Reichweite des "anthropologischen Diskurses" (S. 118) erst zur Geltung; er füllt jene "Lücke" (S. 121), die in der "Wissenschaft vom Menschen" gerade freigelassen wurde: das konkrete Experiment, die individualpsychologische Probe auf's Exempel.

Im folgenden geht es vor allem um zwei große Thesen, mit denen die Verfasserin ihrem Thema des "anthropologischen Romans" seine für die Literatur des 18. Jahrhunderts herausragende Bedeutung sichern will:

1. Der Roman des 18. Jahrhundert ist eine Geburt aus dem Geist der Anthropologie. Die in der Forschung schon oft festgestellten und untersuchten Merkmale dieses Romans sind praktische Anwendungsgebiete der anthropologischen Wissenschaften - die "Psychologisierung des Romans" (S. 132-144) ebenso wie seine "Dialogisierung" (S. 145-161), die ein kommentierendes Gespräch zwischen Autor und Leser über den anthropologischen Fall ermöglicht.

2. Der Roman des 18. Jahrhunderts entwickelt die anthropologischen Themen des 18. Jahrhunderts selbständig weiter, indem er die "Wissenschaft vom Menschen" in konkrete Handlungsverläufe, fiktive Testverfahren und komplizierte Anwendungsbeispiele übersetzt und darüber hinaus den Leser als Diskutanten und "Anthropologen" motiviert.

Auf diese Weise rückt Jutta Heinz in umfangreichen Einzelinterpretationen eine ganze Reihe von Romanen ins Zentrum ihrer Untersuchung, die auch von der Aufklärungsforschung bisher eher vernachlässigt oder auch übersehen worden sind: Friedrich Blanckenburgs Beyträge zur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten, August Gottlieb Meißners Alcibiades, Moritz August von Thümmels Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich, Friedrich Jacobis Woldemar, Johann Karl Wezels Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit, Johann Jakob Engels Herr Lorenz Stark, Friedrich Traugott Hases Gustav Aldermann und Friedrich Mahler, Friedrich Maximilian Klingers Weltmann und Dichter, Theodor Gottlieb Hippels Lebensläufe nach aufsteigender Linie.

Jeder dieser Romane variiert ein wichtiges Thema der anthropologischen Wissenschaften, benennt bzw. praktiziert zugleich jedoch die Probleme und Defizite, die diesem Thema jeweils aufgebürdet sind: Psychologisierung (Blanckenburg) und Dialogisierung (Meißner), den Solipsismus des von der Einbildungskraft befangenen Schwärmers (Thümmel), die entsprechenden Gefahren der Empfindsamkeit (Jacobi, Wezel, Engel), die Suche nach Vermittlungskonzepten zwischen Empfindung und Verstand, die vor allem im Kontakt des Helden mit der (Berufs-)Welt nötig und im komplexen Geschehen des Romans vom dialogfähigen Leser entschlüsselt und erprobt werden müssen (Hase), schließlich die Grenzfälle des "anthropologischen Romans" - in Abgrenzung nämlich zum philosophischen Thesenroman (Klinger) und zur theologischen Bewältigung der Extremerfahrung "Leiblichkeit" und "Tod" (Hippel). Jeweils eng verbunden mit der thematischen Fortsetzung anthropologischer Fragestellung ist die durchgängige Beobachtung erzähltheoretischer und formanalytischer Beobachtungen zur Romanliteratur: von der rezeptionsästhetischen Bandbreite der Leseraktivierung bis hin zur entsprechenden polyperspektivischen oder chaotischen "Verwilderung" der Form, etwa in Hippels Lebensläufen.

Jutta Heinz teilt mit dem von ihr untersuchten Gegenstand die gleichsam empirische Nähe zu den Phänomenen und das eklektizistische Verfahren einer zwanglosen Vermittlung von Theorien, Beschreibung und Interpretation. Damit erbt sie jedoch auch die Stärken und die Schwächen, die mit einer solchen Vorgehensweise (schon im 18. Jahrhundert) verbunden sind. Zu den Stärken gehört zweifellos eine kaleidoskopische Übersicht über eine weithin verborgene Romantradition, in der anthropologische Wissenschaften und narrative Gestaltung, "Wissen vom Menschen" und fiktives Experiment sehr viel enger und vielfältiger aufeinander bezogen sind, als es bisher in den üblichen und wenigen Verweisen der Romanforschung (über Gellert, Wieland, Wezel und Moritz hinaus) bekannt geworden ist. Der Blick auf die im 18. Jahrhundert weithin bekannten, mittlerweile jedoch längst in den Rang von poetae minores herabgestuften Popularphilosophen und Romanschriftsteller erweist sich hier unbedingt als Vorteil. Über die genauen und luziden Interpretationen der in Romanform noch avancierter wirkenden anthropologischen Themen hinaus zeigt sich die ganze Breite aufklärerischer Romanliteratur: So werden in Friedrich Traugott Hases Dialogromanen Empfindsamkeit und Stoizismus nicht nur in einem moralphilosophischen Experiment gewogen und gewissermaßen als zu schwer für die anthropologisch komplizierten Testfälle des Lebens befunden; das Vorgehen und das dialogisch erzählpraktische Verfahren des Romans führen zugleich zu einer immanenten Reflexion über Romanliteratur und Romanlektüre, die in ihren zumeist gefährlichen, weil distanzlosen emotionalen Wirkungen vorgeführt werden. Der Leser hingegen ist durch die Form des vorliegenden Dialogromans immer schon in eine andere Lektüre involviert, die als "Fähigkeit zur wahrhaft kritischen Selbstreflexion" (S. 267) ihrerseits aufklärerische Funktionen wahrnimmt.

Die genaue Nachzeichnung solcher und anderer Strategien des anthropologischen Romans übernimmt in diesem zuletzt deutlichen Sinn zumeist auch die immanenten Botschaften und sogar die Emphase der anthropologisch vorgezeichneten Lösungsvorschläge. Gegen die Nachzeichnung des empfindsamen Diskurses oder die traditionsreiche Parteinahme für den >Sturm und Drang<, 5 aber auch gegen eine historisch-theoretische Diskursanalyse der seit 1750 "empfindsam" gewordenen Aufklärung 6 setzt Heinz so (gemeinsam mit den von ihr gewählten Autoren) die affirmative Beglaubigung eines zeitgenössischen, popularphilosophischen Denkens, das - empfindsamkeitskritisch und weltmännisch - zumeist den goldenen Mittelweg der Affekte und die wohltemperierte Praxis des >sensus communis< propagiert.

Schon in ihrer Rekonstruktion der anthropologischen Wissenschaften im 18. Jahrhundert geht die Verfasserin in diesem Sinne eher immanent vor und leitet Aufstieg, Verlauf und Niedergang der Anthropologie aus der philosophiegeschichtlichen Problemgeschichte und letztlich aus der Selbstbeschreibung der Anthropologen her - mit der Konsequenz freilich, daß diese Verlaufsform ihrerseits mit keiner (modernen) Theorie mehr erklärt wird (und die akribische Nachzeichnung so der vermeintlichen "Theorielastigkeit" sozialgeschichtlicher Forschung entgegengesetzt werden kann). Die vor allem philosophiehistorischen Kontexte der anthropologischen Diskussion werden an einigen Punkten angedeutet, etwa durch Begriffe und Konzepte wie "Erkenntnisskepsis" (S.51), eine der anthropologischen Forschung innewohnende Tendenz zum "Umschlag von Aufklärung in Zwangsregulierung" (S.122) oder auch der Gedanke der "Perfektibilität" (S.74), der am Ende des Jahrhunderts die für das anthropologische Denken charakteristischen unlösbaren Widersprüche verzeitlicht und auflöst. 7

Gesellschaftshistorische, diskursanalytische und zivilisationstheoretische Kontexte der Anthropologie allerdings, die es ermöglichen würden, die Aufklärung in den eher fremden Blick des späten 20. Jahrhunderts zu nehmen, werden zumeist erst gar nicht erwähnt - auch und vor allem deshalb, weil mit dem weitgehenden Verzicht auf Theorien des gesellschaftlichen Wandels auch die Verlaufsformen wissenschaftsgeschichtlicher Evolutionen nicht interpretiert werden können. Genau dies aber haben die von Norbert Elias und von Horkheimer/Adorno initiierten Zivilisationstheorien, eine von Michel Foucault beeinflußte Geschichtsschreibung der Episteme oder eine systemtheoretische Rekonstruktion moderner Gesellschaften stets versucht - mit durchaus respektablen neuen Ergebnissen auch für die Literatur des 18. Jahrhunderts. 8

Ein in der anthropologiegeschichtlichen Forschung und auch bei Jutta Heinz spürbares und durchaus bewußt interessegeleitetes Vertrauen in die Evidenz der vorliegenden Quellen wird noch sehr viel deutlicher in den vorliegenden literaturwissenschaftlichen Interpretationen der Romane. Im Bestreben, den anthropologischen Diskurs in den Romanen nachzuzeichnen, gerät die Analyse zuweilen in den Zwang, die zuvor explizierten anthropologischen Argumente im Roman - etwa in Jacobis Woldemar - nur bestätigt zu finden: "Der Roman erweist so [...] die Kritik der Popularphilosophie an übertriebener Empfindsamkeit als berechtigt" (S.212). Aufgrund der impliziten Zustimmung zu den anthropologischen Argumenten führt die enge Verbindung von zeitgenössischer Theorie und Romanliteratur zugleich dazu, daß die historische Begrifflichkeit oft nur übernommen und noch einmal variiert wird, ja daß die Interpretation vom zeitgenössischen anthropologischen Diskurs selbst manchmal kaum zu unterscheiden ist:

"Karl Stark [in Engels Herr Lorenz Stark] wird dabei nirgends explizit als empfindsam bezeichnet; seine Neigung zu rührenden Szenen und Tränen [...], seine Passivität und Neigung zur Eitelkeit identifizieren ihn jedoch eindeutig als - wenn auch schwache - Variante des Empfindlers" (S. 221).

"Karl Starks Heilung wird exakt nach diesem Modell [...] dargestellt. Sie vollzieht sich im wesentlichen in den von außen unbeeinflußten, natürlichen Erfahrungen von Mitleid, Liebe und Verantwortungsübernahme [...]." (S.243)

"Der Held [in Hases Friedrich Mahler] bewährt sich nicht in Aufstieg und Karriere, sondern findet ein liebendes Weib; die wechselnden Glücksumstände seiner ökonomischen und beruflichen Situation nimmt er mit wahrhaft stoischem Gleichmut hin. Die Glücksmöglichkeiten des Individuums sind ganz in die private Sphäre verlagert. [...] In seiner Hand liegt hingegen das menschliche Vermögen, Freude spontan zu geben und zu empfangen. Speziell in der so begründeten Liebeserfahrung vereinen sich dabei sinnliche Anziehungskraft, emotionale Befriedigung und die Anerkennung des anderen als eigenständiger Person. [...]. Dieser inhaltlichen Tendenz zur emotionalen Mittellage, zur Extremabwehr und zu moralischem Relativismus entspricht die relative Geschlossenheit der äußeren Form." (S.281f.)

Am Ende der vorliegenden Untersuchung sollen die von Jutta Heinz in diesem Sinne mehr gesammelten als konzeptuell erfaßten Merkmale des anthropologischen Wissens im aufklärerischen Roman in ein umfassendes "Gattungsmodell" des anthropologischen Romans einmünden (S.335-344), bei dem sich dann allerdings fragen läßt, ob dessen einzelne Bestandteile (z.B. anthropologische Thematik, Problem des >commercium<, Psychologie, Polyperspektivismus, dialogische Erzählformen, methodische und poetologische Offenheit, Mischformen) sich einer solch zwangsläufig rigiden Bestimmung ("Gattung") überhaupt fügen. So erfüllt etwa Wielands Geschichte des Agathonfast alle Bestimmungen dieses "Gattungsmodells", und es läßt sich mit Fug und Recht darüber spekulieren, ob nicht schon dieser einzig berühmt gewordene Roman der deutschen Aufklärung ausgereicht hätte, um an ihm dieselbe Theorie eines "anthropologischen Romans" (und mehr) zu entwickeln. 9

Statt einer gänzlich neuen Romanform und statt einer anthropologiegeschichtlich motivierten neuen Sicht auf den Roman des 18. Jahrhunderts fügt Jutta Heinz deshalb der vielschichtig gewordenen Erzählliteratur des 18. Jahrhundert lediglich einige zu Unrecht vergessene klassische Muster des Aufklärungsromans hinzu und vertieft die immer noch jungen Einsichten in die im 18. Jahrhundert überaus komplexen Zusammenhänge zwischen anthropologischen Fragestellungen und schöner Literatur. Für die weitere Aufklärungsforschung ist es deshalb am Ende wohl wenig brisant, ob mit dem vorliegenden Buch der Versuch gemacht wurde, eine neue Gattungsdefinition oder einen neuen Romantypus aus der Taufe zu heben - geschweige denn, ob dieser Versuch auch gelungen ist. Demgegenüber bleibt es tatsächlich bei jener zunächst auch explizit angestrebten Maxime der anthropologiegeschichtlichen Forschung, den Kenntnisstand in der Erforschung des 18. Jahrhunderts durch Quellenstudien zu erweitern. 10 Interessant freilich dürfte an diesem Ende sein, was aus dem ebenso explizten Bestreben geworden ist, von diesen Quellen her einen neuen Blick auf die Dialektik der Aufklärung und damit die Aufklärung insgesamt zu riskieren.

Die Arbeit und die in ihr untersuchten Romane grenzen sich nach zwei Richtungen hin ab, die zugleich auch zwei chronologisch aufeinanderfolgende Etappen der vor allem literaturwissenschaftlichen Aufklärungsforschung markieren.

Auf der einen Seite steht die optimistische Aufklärung mit ihrem Glauben an die Versöhnung der widerstrebenden menschlichen Vermögen und an die Perfektibilität individueller, gesellschaftlicher und historischer Bildungsprozesse. In der germanistischen Literaturwissenschaft war es hier bekanntlich das Modell des erfolgreichen Bildungsromans, mit dem alle früheren Epochen der Aufklärungsliteratur >überwunden< waren. Ähnlich aber galten >Empfindsamkeit< und >Sturm und Drang< lange Zeit als jene Etappen der Aufklärung, mit denen die Einseitigkeiten und Verkürzungen einer aufklärerischen Verstandeskultur als korrigiert galten, und noch die meisten Sozialgeschichten der deutschen Literatur haben die Kultur der Empfindsamkeit dem Konto des "aufsteigenden" Bürgertums buchstäblich gutgeschrieben.

Wenig später hat sich das Bild gewandelt, und die (nunmehr mit den Augen von Horkheimer und Adorno gelesene) Geschichte hat gewissermaßen die teleologischen Seiten gewechselt. Die Geschichte des aufklärerischen Romans soll nun vielmehr eine zivilisatorische Verfallsgeschichte dokumentieren, in der eine immer unwirtlicher und repressiver werdende Vernunft die affektiv-sinnlichen Potentiale menschlicher Natur domestiziert, einschränkt und verkümmern läßt. Die Dialektik der Aufklärung hat in dieser Lesart schon am Ende des Jahrhunderts ihr zerstörerisches zivilisatorisches Geschäft entfaltet, 11 und Johann Karl Wezel (als deutscher Vertreter des französischen Materialismus) wird mit seinem Belphegorihr wahrhafter Chronist. 12

Die anthropologiegeschichtliche Forschung scheint auch hier eine praktische Mittellage anzustreben, nämlich sich von beiden Extremen zu distanzieren und zugleich mit den neu entdeckten Anthropologen des 18. Jahrhunderts auch eine neue aktuelle Aufklärung ans Licht heben zu wollen. Statt Vorläufer einer sich erst langsam entwickelnden Humanitätsphilosophie und einer emphatischen Bildungsidee und statt Dokumentaristen einer Dialektik der Aufklärung enthüllt diese Geschichtsschreibung lauter Botschafter des common sense, die es sich inmitten der anthropologischen Widersprüche wohnlich einzurichten verstehen. Die Kritik an der "überspannten" Empfindsamkeit (und Wezels anderer Roman Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit) findet nun plötzlich offene Ohren, und statt der gesellschaftstheoretischen Forderung nach zwanglosem Konsens und der Utopie einer kommunikativ gewordenen Vernunft genügt nun das offene Gespräch über strittige Fragen der menschlichen Natur, das der Leser zudem kraft seiner eigenen popularphilosophischen Vernünftigkeit entscheiden möge.

Jede Zeit scheint in der Aufklärung auch ihre eigene Gegenwart (und ihre eigenen Wünsche) erkennen zu wollen: Nachdem die Aufklärer zunächst in die Masken des allseits gebildeten Bürgers und des politischen Selbstdenkers geschlüpft waren und sich dann als vollends aufgeklärte, nämlich normierte und disziplinierte Subjekte wiederfanden, sind sie nun plötzlich in die Rolle freundlicher Gesprächspartner versetzt, die sich nach den geschichtsphilosophischen Verirrungen und den humanitätstheoretischen Überforderungen der letzten zweihundert Jahre unaufdringlich zu Wort melden. Das ist nicht wenig, aber der Unmut über solch vorsichtige und ausgewogene Gesprächspartner wird nicht lange auf sich warten lassen.


Prof. Dr. Walter Erhart
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Institut für Deutsche Philologie
Bahnhofstr.46/47
D-17489 Greifswald

Preprint der im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) erscheinenden Druckfassung. Ins Netz gestellt am 15.12.1998.
Copyright © 1998 by the author. All rights reserved.


Auf der Liste neuer Rezensionen und der alphabetisch geordneten Liste älterer Rezensionenfinden Sie weitere Besprechungen, die als Preprint zugänglich, im Druck aber noch nicht erschienen sind.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selber für IASL rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | Neue Rezensionen | Ältere Rezensionen]



Anmerkungen

1 Hans-Jürgen Schings: Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung. In: Bernhard Fabian u.a. (Hg.): Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. (Studien zum 18. Jahrhundert 3) München 1980, S. 247-276.  zurück

2 Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. DFG-Symposion 1992. (Germanistische Symposien. Berichtsbände). Stuttgart/Weimar 1994.  zurück

3 Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 6 (1994) (Forschungsreferate 3. Folge), S. 93-157. Zur Geschichte dieses neuen Paradigmas vgl. Lutz Danneberg/ Michael Schlott/ Jörg Schönert/ Friedrich Vollhardt: Germanistische Aufklärungsforschung seit den siebziger Jahren. In: Das achtzehnte Jahrhundert 19 (1995), S. 172-192. Eine Forschungsübersicht auch bei Carsten Zelle: Fragen nach der Aufklärung und ihrem Ich in Anthropologie, Literatur und Ästhetik zwischen 1750 und 1800 (Sammelrezension). In: Das achtzehnte Jahrhundert 17 (1993), S. 98-104. Ein oft übersehener wichtiger Ausgangspunkt der anthropologiegeschichtlichen Diskussion ist formuliert bei Lothar Bornscheuer: Zum Bedarf an einem anthropologiegeschichtlichen Interpretationshorizont. In: Georg Stötzel (Hg.): Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Teil 2. Berlin, New York 1985, S. 420-438.  zurück

4 Jutta Heinz übernimmt diesen Begriff von Michael Titzmann: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: M.T. (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 33) Tübingen 1991, S.395-438. zurück

5 Dies läßt sich fast durchgehend an den bekannten Sozialgeschichten der deutschen Literatur aufzeigen, zuletzt z. B. bei Sven-Aage Joergensen/ Klaus Bohnen/ Per Ohrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. 1740-1789. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet von Helmut de Boor und Richard Newald. Bd. 6. München 1990. zurück

6 Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Frankfurt 1988. zurück

7 Alle diese Begriffe bedürften einer genaueren Kennzeichnung. Die "Skepsis" müßte als ein theoretisches Begleitmotiv der eklektizistischen, popularphilosophischen Aufklärung erst noch entdeckt werden und benötigte eine eigenständige theoretische Abhandlung. Dies gehört immer noch zu den Desideraten der Aufklärungsforschung, trotz des Vorstosses von Wilhelm Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Frankfurt 1988. "Zwangsregulierung" verweist auf Norbert Elias und die Dialektik der Aufklärung, ohne dadurch gerade im Kontext der Anthropologiegeschichte schon hinreichend expliziert zu sein. "Perfektibilität" ist ein schon weitgehend erforschtes Phänomen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, doch bleibt der Übergang von der Anthropologie zur Verzeitlichung des geschichtsphilosophischen Denkens noch erklärungsbedürftig. zurück

8 Vgl. dazu etwa Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit (Anm. 3). Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart, Weimar 1995. Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. Ursula Geitner: Zur Poetik des Tagebuchs. Beobachtungen am Text eines Selbstbeobachters. In: Hans-Jürgen Schings: Der ganze Mensch (Anm. 2), S. 629-659. Albrecht Koschorke: Alphabetisation und Empfindsamkeit. In: Schings: Der ganze Mensch, S. 605-628.  zurück

9 So spiegelt die kurze Bemerkung zu Wielands Agathonden überaus prekären Zwang zur definitorischen Abgrenzung: "Insgesamt handelt es sich bei dem >Agathon< wohl um eine Mischform aus pragmatischem Roman (bezüglich der Erzählweise), anthropologischem Roman (bezüglich der Thematik) und philosophischem Roman (bezüglich der diskursiven Ebene und deren Dominanz über die anderen Textebenen) [...]" (S. 337). Vor allem im Blick auf die englische und französische Literatur (Sterne, Diderot) zeigt sich die nirgends ausgeführte Festlegung eines >philosophischen Romans< oder eines >philosophischen Thesenromans< als äußerst fragwürdig. Vgl. dazu Klaus Dirscherl: Der Roman der Philosophen. Diderot-Rousseau-Voltaire. Tübingen 1995. Walter Erhart: Aufklärung und Selbstentzweiung. Christoph Martin Wielands Agathon-Projekt. Tübingen 1991.

Die einschränkende Konzentration auf einige Romane bei gleichzeitig großflächiger Gattungsdefinition führt schließlich notgedrungen auch dazu, daß wichtige Erkenntnisse der spezialisierten Forschung zum 18. Jahrhundert (z. T. trotz ihrer Erwähnung im Literaturverzeichnis) übersehen werden, weil sie an zunächst anderen (aber eben auch hier passenden ) Kontexten gewonnen worden sind: So finden Blanckenburgs Beyträge zur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten breite Erwähnung in einer immer noch wichtigen Arbeit von Horst Thomé: Roman und Naturwissenschaft im 18. Jahrhundert. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik. Frankfurt, Bern, Las Vegas 1978; Werner Fricks monumentales Buch über den europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts (Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1988) dürfte besonders für die in Frage stehende poetologische Diskussion an vielen Punkten zentraler sein, als es hier zuweilen scheint (eben weil Werner Frick sich auf vermeintlich andere Traditionen des Romans bezieht).

Im Blick auf die Wissenschaftsgeschichte der Anthropologie wiederum wird die gesamte popularphilosophische Diskussion des 18. Jahrhunderts vielleicht allzu flüchtig nur gestreift, auch hier aus freiwilligen, ebenso unnötigen wie unverständlichen Begrenzungs- und Gattungszwängen heraus: So wird Karl Philipp Moritz' Anton Reiservom "anthropologischen Roman" abgegrenzt, weil "Moritz als Hauptvertreter der Erfahrungsseelenlehre eine eher popularphilosophische Sonderrichtung der Anthropologie" (S. 338) vertreten haben soll. Ähnlich bezeichnend für die begrenzte Sicht auf die Popularphilosophie ist ferner, daß Doris Bachmann-Medicks wichtige Studie über Die ästhetische Ordnung des Handelns gänzlich unerwähnt bleibt - obwohl gerade die zuletzt bei Klingers Weltmann und Dichterals für den anthropologischen Roman zentral behandelte "Ganzheit" eines Lebenszusammenhangs (S. 295) direkt auf diesen philosophischen Kontext (mit z.T. denselben Autoren: Engel, Garve) verweist (Doris Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989). zurück

10 Dazu dient etwa auch die hübsche Illustration anthropologiegeschichtlicher Thesen durch die abgedruckten Stiche Chodowieckis zur Geschichte der Menschheit nach ihren Culturverhältnissen (1784).  zurück

11 Vgl. dazu Peter J. Brenner: Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung. Tübingen 1981. Rolf Grimminger: Die Ordnung, das Chaos und die Kunst. Für eine neue Dialektik der Aufklärung. Frankfurt 1986. zurück

12 Vgl. etwa Detlef Kremer: Wezel. Über die Nachtseite der Aufklärung. München o. J. [1985]. Sybille Gössl: Materialismus und Nihilismus. Studien zum deutschen Roman der Spätaufklärung. Würzburg 1987.  zurück