Ertler über Werz: Grenzen der Säkularisierung

Klaus-Dieter Ertler

Von traditioneller Ideologiekritik
zur modernen Theorie der Alltagsreligion

  • Michael Werz: Grenzen der Säkularisierung. Zur Entstehung der Ideologiekritik. (Nexus 54) Frankfurt/Main und Basel: Strœmfeld Verlag 2000. 219 S. Kart. DM 48.-
    ISBN 3-86109-154-2.


Inhalt

Vorwort von Moshe Zuckermann (Tel Aviv) – Einleitung – Aufklärung und Glaube – Leidenschaften und Interessen – Entzauberte Welt – Gewalterfahrungen. Das Moment der Psyche – Grenzen der Säkularisierung – Literaturverzeichnis – Nachwort

Nec plus ultra:
Über das Territorium und die Grenzen der Säkularisierung

Wenn man sich über Ideologie, Ideologiekritik und deren gesellschaftliche Implikationen äußert, geschieht dies meist vor dem Hintergrund eines der prominenten philosophischen, soziologischen oder psychoanalytischen Entwürfe der europäischen Ideengeschichte sowie mittels fest umrissener Argumentationsmuster, die einen im Strudel der miteinander konkurrierenden Strömungen lenken. Aber gilt dies nicht auch für jeden wissenschaftlichen Diskurs? Bei der begrifflichen Fassung von Ideologie und Ideologiekritik drängt jedenfalls die Fokalisation des Beobachters selbst meist so stark in den Vordergrund, als ginge es in diesen Fragen nur um stark persönlichkeitsorientierte Falsifizierungen von unterschiedlichen Konkurrenzentwürfen.

Wer ein Buch über die Grenzen der Säkularisierung schreibt, auf dessen Titelseite das Emblem der Herkules-Säulen mit einem in Richtung Westen stechenden Schiff abgebildet ist, das die Devise des "nec plus ultra" herauszufordern scheint, verweist symbolisch auf die Thesen der Frankfurter Schule, insbesondere auf die ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, der zufolge die Aufklärung mit ihrem Versuch, den Zwang der Natur zu brechen, nur noch tiefer in den Naturzwang hineingeraten war. Auch die beiden eminenten Vertreter der Frankfurter Schule hatten zur Illustration der Idee, daß der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts die unaufhaltsame Regression sei, auf das bekannte Bild aus der antiken Schiffahrtsmetaphorik zurückgegriffen: In einer Allegorie überlegt Odysseus, wie man dem Gesang der Sirenen - und damit den trügerischen Kräften der menschlichen Triebe - am besten widerstehen könne. Sollte er seinen Kameraden die Ohren verstopfen und sich selbst an den Mast binden lassen, um sich vor dem drohenden Unheil der dunklen Kräfte zu schützen?

Genau an diese Traditionslinien schließt der Hannoveraner Soziologe Michael Werz an, wenn er sich erneut mit dem Hintergrund und der Funktion einer Ideologiekritik auseinandersetzt, die aufgrund der historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts nicht mehr ungebrochen auf die Aufklärungstraditionen zurückgreifen kann. Er rekonstruiert die Frage, warum die Emanzipationsbestrebungen der Aufklärung eine solche Niederlage erlitten haben, und stellt anschließend zur Diskussion, wie die Funktion von Ideologie und deren Kritik nicht nur nach den Erfahrungen von Auschwitz, sondern vor allem in der heutigen Gemengelage der ethnischen Nationalismen einzuschätzen sei.

Alternativen zur Ideologiekritik:
Theorie der Alltagsreligion

Sein begriffliches Instrumentarium entwickelt der Verfasser von den Prämissen der Kritischen Theorie aus, der zufolge Aufklärung auch eine negative Seite mitführe, und läßt die historische Übersicht mit der frühneuzeitlichen Philosophie beginnen. Schon im Vorwort wird dem Leser klar, daß es sich in der Studie nicht um ein Ideologiekonzept im engeren Sinne handelt, das in seinen Entwicklungsschritten - von Destutt de Tracy bis in die Postmoderne - genau nachgezeichnet würde, sondern daß es um eine Darstellung im weiteren, anthropologisch-philosophischen Sinne geht, in der Begriffe wie Religionskritik, Vorurteil, Bornierung mit Ideologie gleichsetzt werden und mit der Subgeschichte bürgerlichen Denkens in kausalen Zusammenhang gebracht werden.

Die daraus hervorgehende Mikroerzählung könnte man deshalb mit folgender semantischer Raffung am besten fassen: Durch den Zerfall der positiven Religionen in Ideologeme ist ein allgemeiner Säkularisierungsprozeß in Bewegung geraten, der sein eigentliches Ziel nicht erreichte und den Menschen in eine metaphysische Obdachlosigkeit versetzte. Dadurch griffen die Individuen auf neue axiologische Konstruktionen zurück, die ihnen in gesellschaftsstratifikatorischer Hinsicht wieder eine Orientierung zu liefern vermochten. Nach dem Zerfall der bürgerlichen Werte habe sich daraufhin für jeden Einzelnen ein verzerrtes Verhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt ergeben, das als Alltagsreligion stereotype Wahrnehmungen systemisch verfestigt und auf diese Weise sinnspendend wird.

Den für die Untersuchung zentralen Begriff der Alltagsreligion verwendet Werz im Sinne von Detlev Claussen, wonach es sich um einen praktischen Glauben handelt, der die Menschen ihren Alltag in dem Bewußtsein bewältigen läßt und ihnen den Eindruck vermittelt, sie hätten alles im Griff und nichts Menschliches sei ihnen fremd. Alltagsreligion habe als Meinungswissen gegen Aufklärung eine starke Resistenz gewonnen und müsse sich gegen kritische Gedanken absperren, um sich als System zu erhalten 1. Werz geht in seiner Einleitung von der These aus, daß sich mit Alltagsreligion der traditionelle Ideologiebegriff überwinden ließe, da es sich dabei um eine völlig überkommene Kategorie handele, die es heute neu zu definieren gelte (vgl. S.18f). Mit dieser neuen Form von parzellierter Weltanschauung brauche man die Möglichkeiten der Emanzipation auch nicht aufzugeben, sondern könne die sozialen Gegebenheiten komplexer fassen als mit dem Begriff der Ideologiekritik.

Der Verfasser geht bei der Erforschung von Säkularisierung und ihrer Grenzen davon aus, daß der traditionelle Begriff Ideologie mit der bürgerlichen Gesellschaft eng verbunden sei und daß mit dem Verschwinden dieser Gesellschaftsform auch der Begriff keine eigentliche Grundlage mehr besitze 2. Im Anschluß an Adorno und Horkheimer versucht Werz, die Rehabilitierung von Metaphysik für heutige Verhältnisse im subjektiven Vernunftbegriff zu lokalisieren und darüber hinaus zu zeigen, daß es in der Zeit der Massengesellschaften und deren Vereinzelungsmechanismen notwendig ist, die irreduktiblen Restbestände der Metaphysik in ihrer neu konstituierten, unter alltagsreligöser Dualisierung fungierenden Form auszumachen und zu beschreiben. Er möchte diese metaphysischen Restbestände mißglückter Säkularisierung in Zeiten wie dem Balkan-Konflikt eben nicht mehr als homogene Ideologie anerkennen, sondern als alltagsreligiöse Rudimente.

Mit diesem Desiderat folgt er der funktional ausdifferenzierten Gemengelage der (post-) modernen Gesellschaft und löst so ein Unbehagen, das die Ideologiekritik im Zuge der immer komplexer werdenden Kommunikationsstrukturen seit längerem erfahren hat. Heute sollen auf die Fragen, wie gepanzerte Argumentationen im zeitgenössischen Zusammenhang fungieren und wie sie sich auf die Alltagsdiskursivität auswirken, entsprechende Antworten gefunden werden. Werz meint, daß dieses neu geprägte Konzept der Alltagsreligion als Resultat mißglückter Befreiung zu einer funktionstüchtigen Wahrnehmungspraxis geworden ist und die Rolle der archaischen Muster der Weltsicht übernommen hat. Auf diese Weise könne es die bürgerlichen Ideologieformen ersetzen. Wie es zu diesem paradoxen Phänomen der Dialektik der Aufklärung in heutiger Zeit kommen konnte, zeichnet er in seinem Buch auf anschauliche und breit angelegte Weise nach.

Die historischen Wurzeln
der Alltagsreligion

Richard van Dülmens Thesen folgend setzt der Verfasser den Anfang des Säkularisierungsprozesses mit der Entwicklung des Bürgertums um die Mitte des 16. Jahrhunderts an, als es im Zuge der Verstaatlichung der mittelalterlichen Gesellschaft zu massiven Eingriffen in die weltliche Alltagspraxis kam, etwa zur Unterdrückung der Sexualität durch öffentliche Institutionen oder zur Zerstörung traditioneller Geselligkeitsformen 3. Im frühneuzeitlichen Staat verdrängte die ökonomisch ausgerichtete Beziehung der Bürger die Feudalgesellschaft mitsamt ihrer moralischen Ordnung und lieferte neue Begründungen in Form von Naturgesetzen, die nach dem Vernunftprinzip ausgerichtet waren. Anhand der philosophischen und politischen Theorien von Francis Bacon, Thomas Hobbes und John Locke vollzieht der Verfasser diesen Ablösungsprozeß nach und weist auf deren Erwartungshaltung hin, die Welt nach den Regeln der Vernunft einzurichten und sich von angestammter Autorität mit ihrer Tradition und ihrem Aberglauben zu emanzipieren.

In Bacons These, daß mit der Säkularisierung des Erkenntnisprozesses und der Entzauberung der Welt falsches Bewußtsein weiterbestehen könne, ist das Grundproblem der Aufklärung angesprochen, das später nicht nur zur Ideologie und deren Kritik, sondern auch zu dem führen wird, was Werz Alltagsreligion nennt. Schon an dieser Stelle verknüpft der Verfasser in Anlehnung an die Frankfurter Schule deren erkenntniskritische Potentiale mit den frühbürgerlichen Gesellschaftsformen, damit er späterhin auch die gesamte Ideologie und ihre Kritik an die bürgerliche Gesellschaft binden kann.

Von Horkheimer übernimmt er den Gedanken, diese frühneuzeitliche Philosophie weise "mit der von ihr als Ideologie bestrittenen Religion die Ähnlichkeit auf, daß auch sie absolute und abschließende Wahrheit zu geben verspricht. Für sie [die Philosophie] steht fest, daß der Zeitpunkt, an dem sie selbst auftritt, die Wahrheit schlechthin sich angeeignet hat" 4. (Vgl. S.66) Aufklärung und Glaube haben sich demnach von Anfang an nicht genau trennen lassen, und folglich sind darin die Wurzeln für die mißglückte Säkularisierung und ihre Konsequenzen zu finden.

Die Umwandlung von Leidenschaften in Interessen

In seiner Arbeit geht es Werz aber nicht nur um Restpotentiale der von Säkularisierung in Mitleidenschaft gezogenen Religion. Er konzentriert sich darüber hinaus auf einen anthropologisch wichtigen Bereich, d.h. auf die richtungweisende Umwandlung der Leidenschaften in historisch systematisierbare Interessen, die durch die Reflexionskraft der Aufklärung und den Druck der Tauschwirtschaft in Bewegung geraten sind. Ihm zufolge liegt hier ein weiterer bedeutender Aspekt in der Ausdifferenzierung des bürgerlichen Denkens, zumal das in der Moralistik allgegenwärtige Konzept des amour propre (Selbstliebe) im Wirtschafts- und Machtsystem der aufgeklärten Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle eingenommen und die sozialen Beziehungen je nach der Nützlichkeit für das individuelle und gesellschaftliche Interesse strukturiert hat.

Wegweiser für diese Argumentation waren für ihn d'Holbach und Hélvétius, in deren Ansatz er eine fruchtbare Wechselwirkung von Gesellschaft und Psyche erkennt. Beide Kritiker haben gegen Ende des 18. Jahrhunderts in ihren gesellschaftsphilosophischen Analysen auf die unheilvollen Wirkungen der Vorurteile hingewiesen, die dem vernunftorientierten Fortschrittsglauben diametral entgegenstünden und ein enormes Gewaltpotential beinhalteten. Werz liest auch diese geschichtsphilosophische Entwicklung mit der paradigmatischen Brille der Dialektik der Aufklärung und zitiert mit Vorliebe seine Meister Adorno und Horkheimer, die unermüdlich darauf hinwiesen, daß das mit jeder Aufklärung einhergehende Entfremdungsverhältnis stets mitzudenken sei. Durch die Umwandlung von Leidenschaften in Interessen sei der Mensch im Laufe der Aufklärung einer immer größer werdenden Instrumentalisierung unterlegen, was in ihm die alltagsreligiösen Nebeneffekte hervorgebracht habe.

Alltagsreligiöse Konzepte im 19. Jahrhundert:
Ludwig Feuerbach als Wegweiser

Im Kapitel "Entzauberte Welt", dessen Titel an Max Webers Begriff der Aufklärung erinnert, dominieren die alltagsreligiösen Prädispositionen des positivistischen Jahrhunderts. Neben Marx' und Engels' Theorien zur tauschwertorientierten Gesellschaft stehen vor allem Ludwig Feuerbachs Schriften als theoretische Vorläufermodelle der Dialektik der Aufklärung im Zentrum des Interesses. Werz erkennt in den anthropologischen Konzepten, wie sie in Feuerbachs Werk hervorgekehrt wird, bereits den gesellschaftlichen Verlust von Harmonie, der in der Aufklärungsgeschichte des Menschen mitklingt und diesen in die neuen, problematischen Lebensbedingungen entläßt. Ludwig Feuerbach hebt hervor, was der Verlust von Religion in einer warenproduzierenden, tauschwertorientierten Gesellschaft bedeutet. Er zeigt die Sublimationsstrategien auf, die aktiviert werden, wenn von einer religiös geordneten Kultur auf eine säkularisierte, auf Handel ausgerichtete Gesellschaft umgestellt wird. Für Feuerbach tritt das Konzept des Opfers in den Vordergrund, das ihm als Kategorie für die Dialektik von Anerkennung und Selbstverleugnung wichtig war. In ihm finden Psychogenese und Soziogenese zu einer tiefgründigen Verdichtung.

Wie Horkheimer und Adorno sieht Werz darin das Hauptagens für die Verinnerlichung eines immer weiter fortschreitenden Zivilisationsprozesses, der im 20. Jahrhundert schließlich mehrmals unterbrochen wurde. In diesem Zusammenhang kann Aufklärung im Rahmen der Negativen Theorie als radikale, mythische Angst interpretiert werden. Hier liegt für den Verfasser nicht zuletzt der wichtigste Generator für alltagsreligiöse Formatierungen, die in seinem Postulat das Ideologische ablösen:

Die Fissuren im bürgerlichen Bewusstsein entstehen angesichts von Elend, Furcht und der Undurchschaubarkeit sozialer Verhältnisse. So werden alltagsreligiöse Versatzstücke produziert, die sich geschichtstheoretisch und religionskritisch interpretieren lassen; sie sind >Nebenprodukte missglückter Säkularisierung< und entsprechen in ihrer komplexen Struktur dem historischen Prozess unvollkommener Emanzipation von der Religion, dessen Produkt sie sind (S.123).

Bei Feuerbach fand der Autor somit ein passendes Instrumentarium für eine anthropologisch gehaltene Beobachtung der ambivalenten Säkularisierung, die ihn auf die Spuren der Alltagsreligion führte. Denn die dem Menschen Sehnsucht und Sicherheit spendende Funktion der religiösen Vermittlung ist mit einem Ideologiebegriff nicht zu fassen, der darin bloß ein falsches Bewußtsein ortet. Demzufolge habe Engels die Funktion von Religion völlig verkannt, heißt es, da er sie mit Ideologie gleichgesetzt habe. (S.128) Eine so reiche Interpretation müsse im Anschluß an Detlev Claussens "Banalisierung des Bösen" miteinander verwandte Konzepte wie Vorurteil, Ideologie und Massenbewußtsein zusammenführen können. (S.132)

Gewalterfahrung
und deren Verarbeitung durch die Psyche

Die Verinnerlichungsprozesse der ökonomischen und sozialen Transformation, die sich als Gewalterfahrungen auf der psychischen Ebene manifestieren und bei Werz einen besonderen Stellenwert erhalten, werden im vierten Kapitel besprochen. Werz stützt sich dabei auf die Freudschen Untersuchungen zum Verhältnis zwischen neurotischen Zwangshandlungen (Privatreligion) und herkömmlichen Religionsübungen und zeigt im Anschluß an den Ethnopsychoanalytiker Paul Parin, wie mit dem "Auseinanderfallen des Spannungsverhältnisses von erzwungener Monadisierung und schwindender religiöser Integration die Stilisierung der eigenen Gruppe an die Stelle des christlichen Universalismus" (S.135) tritt.

Im Zentrum steht hier das Interesse dafür, wie die ökonomischen Grundlagen ihre ideologischen Formen über die innersten Regungen der Psyche ausdifferenzieren. Solche Prozesse verbucht Werz als alltagsreligiöse Verinnerlichungen, zumal sich dabei nicht nur auf soziogenetischer Ebene, sondern auch im psychogenetischen Bereich kuriose Sonderformen herausbilden können, die in besonderer Verknüpfung mit Ideologie, neurotischen Zwangshandlungen und subjektivem Autonomieempfinden entstehen. Auf der Ebene der Massenpsychologie können dadurch weitgreifende autoritäre Verinnerlichungen entstehen, wie sie dem Autor &150; in Synergie mit dem Diskursfeld der Frankfurter Schule &150; aus der faschistischen Propaganda bekannt sind. Als Vorlage dienen Werz dabei die Arbeiten von Bruno Bettelheim, demzufolge ein optimistisches und starkes Ich "wesentlich wichtigere Bedingungen für tolerante Haltungen sind als der Faktor sozialer und ökonomischer Konkurrenz" (S.149). Eine Theorie der Alltagsreligion sieht einen Teil ihrer Aufgabenstellung gerade in der Beobachtung dieser psychisch-biologischen Fallstricke des Kulturprozesses. Damit vermeint der Verfasser, die soziologischen Exzesse von modernen Massenbewegungen besser fassen zu können.

Definitionen und Perspektiven
der Alltagsreligion in der heutigen Zeit

Im letzten Kapitel der historischen Aufbereitung von Vorurteil, Bornierung, Ideologie und ihrer Genese zur Alltagsreligion geht der Autor definitorisch auf diesen für ihn zentral gewordenen Begriff ein und faßt ihn als "Scheinreligion", gewissermaßen als Leerstelle für Sinnfindung, die in traditionellen Gesellschaften von der Religion besetzt war und im Laufe des Säkularisierungsprozesses der Aufklärung zerstört wurde. Es ist heute also nicht die Ideologie, die das dadurch entstandene Vakuum mit ihrem falschem Bewußtsein ausgleicht, sondern eine Reihe von "verzerrten Wahrnehmungsformen und vorurteilsvollen Alltagsmeinungen" (S.177) erfüllen diese Funktion. Auf diese Weise dehnt der Autor die Begrifflichkeit weit in die Bereiche des Vorurteils und der Verblendung aus, so daß der Ideologiebegriff als archaisches Relikt bürgerlicher Denkformen zurückbleibt.

Als Leser dieser Studie erhält man den Eindruck, als würde darin über die Rückschläge der Natur in postmoderner Befindlichkeit nachgedacht werden. Es geht hier daher um nichts anderes als um eine dynamisch-funktionalisierte Bestandsaufnahme zersplitterter Perzeptionsformen unserer heutigen Vergesellschaftungen, wobei allerdings der systemische Aspekt nicht maßgeblich in den Mittelpunkt gerückt wird, sondern bloß als Versatzstück hin und wieder auftaucht. Werz möchte mehr fassen als die klassische Ideologiekritik oder die Systemtheorie: "Alltagsreligion suggeriert Wissen trotz Erfahrungslosigkeit, sie konstituiert Meinung als individuelle Indifferenz. Es handelt sich um eine Form von Vergesellschaftung und Kollektivität ohne autonome Subjekte, die der beständigen Veränderung einen unverwüstlichen Haltepunkt entgegensetzt" (S.182). Einmal mehr richtet sich der Text gegen radikal konstruktivistische Argumentationen und kehrt seine Verpflichtung zur Kritischen Theorie hervor. Der funktionalisierte Prozeß der postmodernen Kommunikationsgesellschaft und dessen theoretisches Design wird mit seinen Begriffen wie Indifferenz oder Subjektlosigkeit automatisch mit einem Fehlen von Emanzipationsmöglichkeiten gleichgesetzt und nicht in seiner kommunikationellen Dynamik reflektiert.

Wo der Systemtheoretiker im Hinblick auf Ideologie die moderne Gesellschaft an ihre unverbrüchlichen Funktionsstellen und symbolisch generierten Kommunikationscodes erinnert, bindet Werz seine massenkulturellen Schemata an eine psychoanalytisch aufgeklärte Sozialpsychologie. Diese Kategorien begründen seine Theorie der Alltagsreligion, "die als Resultat mißglückter Befreiung die Stelle bürgerlicher Ideologieformen einnehmen will". (S.187)

Darüber hinaus wird für Werz' Theorieentwurf auch die Relativität wissenssoziologischer Ansätze problematisch, weil sich - wie er behauptet - "Bewußtsein nicht mehr vornehmlich entlang sozialer Zugehörigkeit konstituiert, sondern vielmehr zum >seligierenden Prinzip< einer partiellen Wahrnehmung gesellschaftlicher Relativität geschrumpft ist" (S.193). Daß sich diese partielle Wahrnehmung mit ihrem seligierenden Prinzip in eine komplexe Perzeptions- und Kommunikationsdynamik einschreibt, für die theoretische Beobachtungsmechanismen bereitgestellt werden sollten, scheint den Verfasser nicht weiters zu interessieren. Und daß sich dabei normative Gesetzmäßigkeiten ablesen lassen, ist für ihn ebensowenig von vorrangigem Interesse.

Und dennoch scheint ihm bewußt zu sein, was allen konstruktivistischen Ansätzen eigen ist, und zwar die Ansicht, daß "auf der warendeterminierten Alltagsebene eine Normalität der Abstraktion eingekehrt ist, aus der heraus übergreifende soziale Orientierungen sich nicht mehr ableiten lassen und die einer säkularen Variante der christlichen Prädestinationslehre zur Sinnstiftung bedürfen" (S.200). Dasselbe Argumentationsmuster könnte auch für die eben genannten Konkurrenzentwürfe ins Treffen geführt werden, denn die konstruktivistisch angelegten Soziologien setzen sich allesamt mit den neuen gesellschaftlichen Bedingungen auseinander, denen der archimedische Punkt verloren gegangen ist.

Mit dem euphorisch aufgeladenen Begriff der Alltagsreligion schließt Werz also an die Negative Dialektik der Frankfurter Schule an und möchte sie vor dem Hintergrund der heutigen Probleme fortschreiben. Es ist sicherlich von Vorteil, die Dialektik der Aufklärung mit ihrem Konzept der mißglückten Säkularisierung neu aufzurollen und sie in das aktuelle epistemologische Diskurssystem einzubauen. Durch die Breite des gewählten Untersuchungsrahmens und die geschickte Anordnung der einzelnen Themenbereiche gewinnt der Text ohne Zweifel an Lesbarkeit und an Spannung und liefert somit einen wertvollen Überblick über den Stand der Diskussion zu den Grenzen der Säkularisierung. Die Analysen zu den psycho- und soziogenetischen Verflechtungen der Vorurteilskonstruktionen wirken anregend und sind gut nachvollziehbar.

Weniger gerecht wird der Text hingegen seinem Untertitel "Zur Entstehung der Ideologiekritik" in dem Maße, als der Begriff >Ideologie< durchweg mit seinen semantischen Nachbarn >Vorurteil< und >Bornierung< gleichgesetzt wird und dabei seine wissenschaftsgeschichtliche Dimension verliert. In dieser Hinsicht kann er keine befriedigende wissenschaftliche Fortsetzung der Diskussion liefern

Fazit

Michael Werz' Buch stellt nichtsdestotrotz einen wertvollen Beitrag dafür dar, wie der grundlegende Ansatz der mißglückten Säkularisierung heute neu gedacht und auf die aktuellen politischen Ereignisse der ethnischen Nationalismen angewendet werden kann. Der Verfasser beruft sich dabei auch nicht auf die postmoderne Konzeptualität der Beliebigkeit kultureller Praxis oder ständig konstruierbarer Identitäten, sondern kehrt zu Argumentationsmustern zurück, die auf den ersten Blick anachronistisch erscheinen mögen, und schreibt seine Gedanken in den historischen Prozeß eines permanent tragischen Mißlingens ein. Insofern hat er ein wertvolles theoretisches Potential gehoben, das schon in Vergessenheit zu geraten drohte, und vermochte es geschickt mit postmodernen und konstruktivistischen Diskursen zu verknüpfen. Ob die Theorie der Alltagsreligion die Analyse von Ideologemen ersetzen kann, bleibt allerdings fraglich.




Ao. Univ.-Prof. Dr. Klaus-Dieter Ertler
Universität Heidelberg
Romanisches Seminar
Seminarstraße 3
D-69117 Heidelberg

Ins Netz gestellt am 02.05.2001

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Anmerkungen

1 Vgl. Detlev Claussen: Die Banalisierung des Bösen. Über Auschwitz, Alltagsreligion und Gesellschaftstheorie. In: Michael Werz (Hg.): Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt. Frankfurt/Main: Neue Kritik 1995, S.13-28, hier S.22.   zurück

2 Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Ideologie. In: Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen. Hg. von Th. W. A./Walter Dirks. Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1968, S.162-181, hier S.163.   zurück

3 Vgl. Richard van Dülmen: Entstehung des frühneuzeitlichen Europa. 1550-1648. Frankfurt/Main: Fischer 1996.   zurück

4 Max Horkheimer: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Bd. 2. Philosophische Frühschriften 1922-1932. Hg. von Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt/Main: Fischer 1987 [1930], S.179-268, hier S.230f.   zurück