Jürgen Fohrmann
Sozialgeschichte der Lyrik
Günter Häntzschel: Die deutschsprachigen Lyrikanthologien
1840 bis 1914. Sozialgeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts. (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Bucharchiv München, Bd. 58). Wiesbaden: Harrassowitz 1997. X,471 S. Geb. 278,- ISBN: 3-447-03935-3
Günter Häntzschel legt zum ersten Mal eine umfassende Bestandsaufnahme
deutschsprachiger Lyrikanthologien zwischen 1840 und 1914 vor, und es ist
durchaus angebracht, in dieser Perspektive von einer 'Sozialgeschichte der
Lyrik des 19. Jahrhunderts‘ zu sprechen. In dieser Zeit nämlich taucht
Lyrik zum ersten Mal als 'Massenphänomen‘ auf, wobei sie vornehmlich
im Rahmen der Chrestomathie / Anthologie wahrgenommen wird. Zwar habe
man von 20.000 Lyrikern im 19. Jahrhundert auszugehen, die den
literarischen Markt mit ihren Texten beschickten. Dementsprechend groß
sei wohl auch die Zahl einzeln veröffentlichter Lyrikbände; Erfolg
hätten aber nur die Lyrikanthologien gehabt. In der Tat spricht die Zahl
von mehr als 2.000 Anthologien zwischen 1840 und 1914 für sich; und
dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man an die hohen Auflagen denkt,
die einzelne 'Blumenlesen‘ gehabt haben (etwa Elise Polkos
"Dichtergrüße").
Übersichtliche Gliederung
Die Ausführungen der Publikation beruhen auf einer Bibliographie,
die Häntzschel bereits vor einigen Jahren separat vorgelegt
hat. 1 In der zu besprechenden Arbeit geht der Autor von politischen Zäsuren aus: er trennt "Die
Jahre von 1840 bis 1848", "Die Zeit der Reaktion 1849
bis 1870" und "Von der Reichsgründung bis zum
Beginn des Ersten Weltkrieges 1871 bis 1914". Innerhalb dieser im
wesentlichen politisch motivierten Zeitalter-Abfolge entscheidet sich Häntzschel
für eine generische Gliederung, wobei die Klassifikationshinsicht sowohl
eine innerliterarische sein kann (Balladen und Romanzen, Parodien, Travestien
...) und dies sehr viel stärker funktionsspezifisch ausgerichtet ist. Die
funktionale Perspektive unterteilt sich wiederum nach Themen bzw.
Verwendungszusammenhängen (Politische Lyrik, Geschichte in
Gedichten, Stammbuchverse, Deklamatorien, Geistliche Lyrik o. ä.) oder
aber nach Adressatengruppen (Anthologien für 'Schule und Haus‘,
'für Frauen und Mädchen‘, 'von Frauen für Frauen‘, für
Kinder, für die Pflege der Mundarten usw.).
Die Melange mag auf den
ersten Blick recht unverbunden erscheinen, bildet aber doch gut die sich
ausdifferenzierende 'Anlaßkultur' des 19. Jahrhunderts ab, die durch diese Gliederung in ihrer Selbstbeschreibung eingefangen wird. Eine andere Sortierung hätte
viel stärker abstrahieren müssen und hätte den Handbuch-
und Nachschlagecharakter, den Häntzschels Studie m. E. deutlich
trägt, verlassen. So etwa kann man unter dem Stichwort 'politische
Lyrik‘ in allen drei Perioden nachschlagen und eine Querlektüre
realisieren, die auch möglich ist, ohne immer die gesamte Publikation
präsent zu haben. Aber ohne Zweifel wird dieser Vorteil auch mit dem
Nachteil erkauft, daß die gesamte Darstellung dadurch trotz der
Variation im 3. Teil etwas schematisch gerät und eigentlich kaum linear
gelesen werden kann. Ich sage dies ganz ohne Bewertung, sondern gebe nur
meinen Eindruck wieder.
Zwischen die Phasen 2 und 3 schiebt Häntzschel ein Kapitel ein, das die "Sozialgeschichtlichen
Bedingungen" der Lyrik erörtert (Publikum, Autoren und
Anthologieherausgeber, Buchhandel). Auf diese Weise trägt Verf. eine
Fülle von Informationen zusammen, die das Werk auf lange Zeit
unverzichtbar machen werden für die Analyse von Lyrik der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Entwicklungen und Brüche
Welche Veränderungen lassen sich nun ohne natürlich alle
Details und alle adressatenspezifischen Hinsichten aufnehmen zu
können knapp skizzieren, wenn man den Thesen Häntzschels
folgt?
Die Phase zwischen 1840 und 1848, für die Häntzschel 126
Anthologien registriert, weist schon eine breite Sortenfächerung auf,
wobei der Zusammenhang zwischen Schulbetrieb und Anthologienproduktion
noch relativ eng ist. Auch wenn die politische Lyrik keineswegs auf die
Vormärzlyrik begrenzt werden kann, gibt es dennoch eine von dieser
Richtung inspirierte Öffnung zu einem "Bildersaal der
Weltliteratur" (Johannes Scherr) hin, d. h. zu einem eher
'weltbürgerlichen Konzept‘ der Poesie, das auch noch die
populären 'Hausschätze‘ inspiriert (Echtermeyer u. a.).
Für die "Zeit der Reaktion 1849 - 1870"
hingegen ist nomen eben omen, und die nun 531 Lyrikanthologien tragen
schon ein deutlich anderes Gepräge. In den Sammlungen
"für Schule und Haus" verstärkt sich der
'vaterländische Ton‘, in den "populären
Überblicksauswahlen" macht Günter Häntzschel
eine zunehmende Trivialisierung" (S. 68 ff.) aus. Sehr wichtig - und
überaus folgenreich - ist m. E. der Strukturwechsel dieser
Chrestomathien. So "verändert sich die Anordnung der
Gedichte von der einst üblichen Chronologie der Autoren zu einer
solchen nach Lebens- und Liebessituationen oder nach
Gemütsstimmungen." (S. 69) Elise Polkos Anthologie ist hier
wohl das prominenteste Beispiel.
Und was hinzutritt: Die Lyrik wird erst gut,
dann schön bzw. beides wird identisch, und so kommt es zu jener
fatalen Amalgamierung von Ethik und Ästhetik, die das biedere
Literaturverständnis bis in die 1970er Jahr hinein geprägt hat.
Popularität des 'Verklärungsmodells'
Diesem Zusammenhang systematisch nachzugehen (etwa der Rolle der
Ästhetik F.Th. Vischers für diese Entwicklung), liegt natürlich
ganz außerhalb der Möglichkeiten der vorgelegten Untersuchung;
sie bildet aber m. E. einen guten Beleg für diese These, auch wenn sie
ihn nicht eigens entfalten kann. Diese Tendenz läßt sich
interessanter Weise bei allen Lyriksparten, die Häntzschel
aufblättert, nachweisen: bei den "Balladen und
Romanzen" in einer "moralischen und nationalen
Verengung", in der Transformation des Volksliedes zum
"volkstümlichen Lied", im Übergang von der
Satire zum Humor, in der nationalen Gesinnung, die sich viel stärker als
vorher in der politischen Lyrik breit macht, der Verklärung des
Vaterlandes, im Umstellen auf "erbauliche Lebenshilfe"
in den Anthologien für "Frauen und
Mädchen", im Einzug der 'Erbauung‘ auch in die 'Geistlichen
Anthologien‘ und in die Lyriksammlungen für Kinder, das Aufkommen
von Deklamatorien, Anthologien, die zu wohltätigen Zwecken
veröffentlicht werden usw. Während der Kanon sich dabei verengt,
sei gleichzeitig eine Zunahme illustrierter Anthologien zu beobachten (dazu
später). Nur in den Sammlungen fremdsprachiger und mundartlicher
Lyrik zeichneten sich nach wie vor Tendenzen ab, die dem
'Verklärungsmodell‘ nicht angehörten.
Hätzschel macht deutlich, daß dieses Umstellen
auf Harmonisierung und Lebenshilfe einerseits eine weibliche Sozialisation
adressiert, die auf einen purifizierten Geschlechtscharakter abzielte und die
Lyrik hierfür zuzurichten versuchte. Männliche Lyrikrezeption
hingegen habe vornehmlich im Vereinswesen stattgefunden (Verbindungen
incorporated). Und hier ist schon auffallend, daß diese Lyrik im
wesentlichen eine selbstorganisierende Funktion übernimmt: sie will
Werte beschwören, die den Zusammenschluß selbst als Apotheose
der Sozialität zu feiern versuchen ("Eintracht, Bruderliebe,
Heimatliebe, Pflichterfüllung" ...; S. 137). Dies unterscheidet
sich signifikant von jenen politischen Liedern, die zwischen 1840 und 1848
anzutreffen sind und die gleichsam als literarische Agitationsform auch von
den noch heute namhaften Autoren verfaßt wurden.
Nach 1848
verbreitert sich das Gros der Lyrikschreibenden (darunter viele Frauen), und
gerade die Familienblätter werden mit lyrischen Produkten geradezu
überschwemmt. Lyrik wird als Tendenz bis zur Jahrhundertwende zu
der Gattung der poetae minores, und nahezu kein noch heute bekannter Autor
hat sich am Anthologiengeschäft beteiligt. Erzieherinnen und Erzieher
(im literalen wie metaphorischen Sinn) dominieren das Feld; und sie sind als
Autoren (gern) bereit, für ihre Lyrik-Produktion selbst zu zahlen. Im
Distributionssystem entwickeln sich Verlage, die sich auf das
Geschenkgeschäft konzentrieren, und hier findet die erbauliche Lyrik
dann ihren genuinen Ort.
Der Anthologienmarkt im Deutschen Kaiserreich
In der letzten untersuchten Phase (1871-1914) expandiert der
Anthologienmarkt noch weiter (1.499 ermittelte Anthologien), und mit ihm
expandieren die schon angedeuteten Tendenzen. Nun soll 'in die ideale Welt
unseres Volkes‘ (vgl. S. 162) eingeführt werden, wobei diese 'ideale Welt‘
durch vermeintlich aggressive Feinde konterkariert wird. Die
Anthologiestruktur ist an 'catchwords‘ orientiert, die das Muster bilden, in das
die einzelnen Texte eingetragen werden. Und jetzt dient alles 'dem deutschen
Haus‘, für das nur das sittlich Beste natürlich in Frage kommt.
Alles wird heilige Familie, und was heilig ist, glänzt bekanntlich. In
diesem Glänzen spiegelt sich das Prachtwerk, das nun die Gedichte
umschließt. Häntzschel führt zu Recht die medien-
technischen Innovationen an, die den ungehinderten Einzug des Bildes in den
Text ermöglichen (etwa Holzstich). Dieser Anthologiestruktur entspricht
das Aufführen des Gedichts als Stimmung im Rahmen der nun immer
weiter verbreiteten Deklamation (in der Schule und im 'häuslichen‘
Gebrauch bis zur Jahrhundertwende).
Die politische Lyrik ist von der Kriegsbegeisterung getragen, die zu einem
massenhaften Aufschwung derartiger Gedichtproduktion führt. Dagegen
akzentuiert Häntzschel schließlich die oppositionellen Tendenzen
('moderne Lyrik‘, Großstadtlyrik, soziale und sozialistische Lyrik u. a.),
die dieses Modell auszusetzen versuchen.
Häntzschels interessante Ergebnisse verlangen geradezu eine sie
ausführlicher interpretierende Arbeit, die einen weiteren Rahmen
absteckt. Es käme darauf an, die Funktion von Lyrik in Geselligkeitsformen
genauer zu bestimmen, die die einzelnen Texte als jahreszeitliche
Auffrischungen eines moralischen Toposnetzes zu nutzen versuchen (und
hierfür auch bereit sind, in die Gedichte direkt einzugreifen;
Textauslassungen usw.). Die empfindsame Variante dieses Modells denkt nur
noch eine schwache, organologisch verklärte Linearität; ihr wird
alles zum Anlaß für typische Lebenssituationen. Und die heroisch-
politische Lyrik nationaler Provenienz übersetzt das Leben in eine Kette
von Schlachten, deren Jahrestage besungen werden sollen.
Darzulegen, welche
Folgen diese strukturellen Optionen einer Geschichte verräumlichenden
'Gebildetenkultur‘ der poetae minores für die Kulturgeschichte des 19.
und 20. Jahrhunderts hatte, bleibt einer über die Anthologien
hinausgehenden Untersuchung vorbehalten.
Prof. Dr. Jürgen Fohrmann
Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Germanistisches Seminar
Am Hof 1d
D-53113 Bonn
Ins Netz gestellt am 27.07.1999.
Update 26.02.2001
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