Frank / Scherer über Parker / Davies / Philpotts: The Modern Restoration
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Neue Restaurationsepoche - alte Probleme

  • Stephen Parker / Peter Davies / Matthew Philpotts: The Modern Restoration. Re-thinking German Literary History 1930-1960. Berlin: Walter de Gruyter 2004. X, 393 S. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-11-018113-4.
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Über die ›harten‹ politischen Zäsuren des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts – die epoché 1933 / 1945 – hinweg verfolgen die Mitglieder einer Forschergruppe an den Universitäten Manchester und Edinburgh im vorliegenden Band Kontinuitäten in der Geschichte der deutschen Literatur. Das Unternehmen, eine Epoche der ›Modernen Restauration‹ zu rekonstruieren, steht damit quer zur Gliederung der verbreiteten Literaturgeschichten, die sich bislang mehrheitlich an der politischen Chronologie orientieren. Die britischen Germanisten knüpfen dabei an Bemühungen der 1970er Jahre an, die diese Orientierung erstmals in Frage gestellt hatten. Die hier vor allem einschlägigen Arbeiten von Frank Trommler zu Kontinuitäten in der Nachkriegsliteratur und von Hans Dieter Schäfer zur Kontinuität einer ›Modernen Klassik‹ seit 1930 hatten seither kaum Nachfolge gefunden. Wie wenig dicht diese Forschungsperspektiven fortgesetzt wurden, die jenseits von Themen wie ›Exilforschung‹, ›Innere Emigration‹ und ›Literatur des Nationalsozialismus‹ liegen, mag verdeutlichen, daß von den wenigen Büchern seit Trommler und Schäfer auch den Autoren des vorliegenden Bandes nicht alle zur Kenntnis gelangten. 1

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Umso wichtiger ist dieses Projekt der Wiederaufnahme eines ohne sachliche Gründe marginalisierten Forschungsansatzes deshalb einzuschätzen, belegt durch die vielfältige Förderung, die es von britischer aber auch deutscher Seite erfahren hat. Neben der Hauptförderung durch das Arts and Humanities Research Board (AHRB) haben der Leverhulme Trust, das John Rylands Research Institute und die Alexander von Humboldt Stiftung Teilprojekte durch Fellowships unterstützt.

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Forschungstraditionen
der 1970er Jahre

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Am Beginn steht eine Diskussion des Forschungsstandes, wie er sich durch die Pionierarbeiten von Trommler, 2 Schäfer 3 und Bernd Hüppauf 4 um 1980 herausgebildet hatte. Wie diese wollen Parker, Davies und Philpotts Langzeitentwicklungen auf dem literarischen Feld in ihrer Eigenlogik beobachten und dazu den gemeinsamen Konzeptionen und Diskursen, den von Autoren, Herausgebern und Kritikern geteilten poetologischen Annahmen und ästhetischen Praktiken nachgehen. Während in Politik und Gesellschaft radikale Einschnitte erfahrbar sind, verbürgen diese kulturellen Aufmerksamkeiten Kontinuitäten. Das Forschungsprogramm der Verfasser gewinnt aus dieser mutatis mutandis zustimmenden Diskussion des damaligen Wissensstandes Gestalt: Es besteht in einer inhaltlichen Präzisierung und materialgesättigten empirischen Überprüfung der leitenden Thesen vor allem Schäfers zur »Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930«, um so eine unterscheidbare und signifikante literarische Epoche zu profilieren (S. 12).

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Schäfers stil- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen konstatieren um 1930 eine epochale Wende hin zu einer Literatur der ›Modernen Klassik‹, die hauptsächlich von einer jungen Generation von Schriftstellern getragen wird. Der Kreis um die Dresdner Literaturzeitschrift Die Kolonne mit Martin Raschke, Peter Huchel, Günter Eich, Elisabeth Langgässer und anderen wird dabei zum Paradigma für Entstehen, Durchsetzung und Fortbestehen einer Konstellation, die sich an traditionellen Formen und dem überkommenen Verständnis von Literatur als Dichtung ausrichtet. Dieser institutionellen Formation korrespondiert auf der Ebene der Gattungen ebenso paradigmatisch das unerwartete Wiedererstarken der Lyrik, insbesondere des Naturgedichts.

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Schäfers Epochenhypothese ist nicht unwidersprochen geblieben. Insbesondere die zuvor sicher überschätzte politische Ebene sei bei ihm nun untergewichtet, Schreckensherrschaft, Zwang zur Emigration und Unbilden des Exils, welche die Literaturproduktion nachhaltig prägen, doch zu gering veranschlagt. Zudem sei Schäfers Materialbasis mit dem Kolonne-Kreis und einigen Einzelstudien, etwa zu Johannes R. Becher im Exil, zu schmal. Kontinuitäten des Personenkreises bieten keine Gewähr für entsprechend grundlegende Befunde in der Literaturproduktion. Diese Einwände werden von den Verfassern aufgenommen und in das Design ihres Projekts integriert: Politische Brüche und soziale Umbrüche werden jetzt aus der Perspektive der sie beobachtenden, auf sie jedoch in ihrer Eigengesetzlichkeit reagierenden Literatur verstanden. Nicht Politik determiniert hier unmittelbar Literatur, sondern vorgängige Schreibweisen und poetologische Programme registrieren und verarbeiten Politikerfahrungen mittels privilegierter Darstellungsmodi. Auch plädieren die Verfasser für ›weiche‹ (S. 14) Epochenübergänge, die sie seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ansetzen, statt die eine starre Grenzziehung – 1933 – durch eine andere – 1930 – zu ersetzen.

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Der ursprünglich als The Discourses of Style in German Literature 1930–1960 angekündigte Band schließt damit trotz aller Modifikationen und Präzisierungen im einzelnen an Schäfers stil- und gattungsgeschichtliche Analysen an. Gegen die vorherrschende Beschreibungskonvention einer von politischen und sozialen Entwicklungen direkt abhängigen Literatur werden so der Eigensinn des Literarischen und der begleitenden poetologischen Diskurse beobachtet. Der Band verbreitert und vertieft dabei Schäfers Materialbasis sowohl im Bereich der Zeitschriften als auch bei den Werkbiographien. Dennoch sind damit theoretische und methodische Vorentscheidungen übernommen, die bestimmte Institutionen (Literaturzeitschriften, Autoren) und Textsorten (Übergewicht der Lyrik zuungunsten der Langtexte, Dominanz von essayistischen Selbstverständigungstexten zur Positionsbestimmung) in den Mittelpunkt rücken.

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Den Ausgangspunkt der Analysen bildet das »1930 paradigm«, das die Verfasser in Auseinandersetzung mit der skizzierten Forschungslage gewinnen. Sie verstehen darunter ein um 1930 sich herausbildendes und die folgenden drei Jahrzehnte dominierendes Literaturverständnis. Zunächst werden die Entstehungsbedingungen dieses restaurativen »1930 paradigm« nachgezeichnet, dann seine Geltung und Reichweite empirisch dadurch ›getestet‹, daß sein Erkenntnisgehalt an Literaturzeitschriften und Autoren unterschiedlichster Provenienz überprüft wird. Abweichungen vom dominierenden »1930 paradigm« werden als Stellungnahmen dazu verstanden: Ohne sich zu diesem Paradigma zu verhalten, und sei es alternativ oder ablehnend, so die These, ist Literaturproduktion in dieser Phase unmöglich.

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Stärker noch als Schäfer selbst 5 verpflichten sich die Verfasser Friedrich Sengles monumentaler Darstellung des Biedermeier, wenn sie Epochennamen und Buchtitel der ›Modernen Restauration‹ in bewußter Analogie zu Sengles Biedermeierzeit bestimmen. 6 Wer die äußerst kontrovers geführte und bis dato unabgeschlossene Diskussion um diese Epoche der deutschen Literaturgeschichte kennt, kann diese Analogie nur für unglücklich halten. Sengles Entscheidung für eine dominante Epochensignatur – Biedermeier, Restauration – hat ihn zur gewaltsamen Abwertung bestimmter Schreibverfahren (operative Literatur) und zur Marginalisierung von radikalen und sozialistischen Autoren gezwungen; eine Entscheidung, die seine Kritiker durch ein gegenläufiges Vorgehen nur noch verstärkt haben. Konkrete Bezüge zum Biedermeier werden im Band freilich nur vage hergestellt (S. 72, 342). Die Vorentscheidung für die Restaurationsthese gebiert jedoch einen Argumentationszwang, der zur Ausblendung oder ad-hoc-Integration von abweichenden Phänomenen führt.

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Dies erweist sich insbesondere deshalb als problematisch, weil die Komplexität der Gemengelage zwar einerseits gesehen wird, die Materialbasis andererseits aber eingestandenermaßen eine selektive ist (S. 16 f.). Notwendig wäre im Zusammenhang der Rede von ›Restauration‹ auch eine genauere Reflexion beziehungsweise Abgrenzung von Programmen einer dezidierten, also intentional angestrebten Wiederherstellung ursprünglicher Einheitsunterstellungen, die sich seit Rudolf Borchardts Formel »restaurierende Revolution« (Eranos-Brief 1924) 7 und dann in seiner Rede von der ›Konservativen Revolution‹ seit Mitte der 1920er Jahre zu einer »schöpferischen Restauration« verdichtet. 8 Die Diskussion um diese explizit ›restaurative‹ Strömung eines ästhetischen Fundamentalismus, die im übrigen Modernitätssignale eben nicht vollständig abwehren oder gar überwinden kann, wie gerade Borchardts einziger Roman Vereinigung durch den Feind hindurch von 1937 zeigt, diese jüngere Diskussion seit den einschlägigen Publikationen von Stefan Breuer bleibt im vorliegenden Band unberücksichtigt.

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»1930 paradigm«:
Die Hypothesen

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Hypothesen zur Epochendifferenz und zur Charakteristik des »1930 paradigm« bilden den Ausgangspunkt für die empirische und interpretatorische Arbeit. Das Modell der Verfasser unterscheidet drei Epochen und ihre Stile anhand zweier leitender Kriterien: Der Expressionismus, der die bürgerliche Institution der Literatur und die Stabilität der Sprache erschüttert hatte, wird von der Neuen Sachlichkeit abgelöst. Diese teilt mit dem Expressionismus die Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Verortung von Literatur, unterscheidet sich jedoch insofern deutlich, als sie die Ausdrucksfunktion und Bedeutungsproduktion von Sprache nicht infrage stellt. Wie Expressionismus und Neue Sachlichkeit überlappen sich auch Neue Sachlichkeit und Moderne Restauration. Sie teilt mit der Neuen Sachlichkeit das Vertrauen auf die Sprache als verläßlichen Modus, Text und Welt, Autor und Leser in Beziehung zu setzen, unterscheidet sich jedoch wiederum hinsichtlich des Bekenntnisses zur traditionellen bürgerlichen Institution Literatur und der elitären Gestalt des Dichters der ›Innerlichkeit‹, der kein Gebrauchsformen produzierender Medienarbeiter sein soll.

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In diesem Prozeß wird bis 1930 der innovativ-experimentelle Aufbruch der Avantgarden seit der Jahrhundertwende sukzessive zurückgenommen und in eine literarische Traditionen wiederherstellende Tendenz verkehrt. Synonym zum Begriff der Restauration sprechen die Verfasser wiederholt vom »desire to re-establish (i.e., re-invent) disrupted traditions«. (S. 125). Die Neue Sachlichkeit erscheint in diesem Modell als transitorische Brücke zwischen Jahrhundertwende / Avantgarden (1890–1925) und Moderner Restauration (1930–1960). Wird der Beginn der Epoche noch mit großem Aufwand skizziert, entfällt eine genauere Bestimmung ihres Endes. Unter Berufung auf neue Autoren wie Enzensberger und Handkes Auftritt in der Gruppe 47 (1966) wird es nur sehr allgemein in den 1960er Jahren erkannt (S. 155). Beide Male jedoch unterbleibt ein Versuch, eine Begründung oder Erklärung für den Wandel, neben seiner Beschreibung, zu geben.

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Aus diesem Epochenmodell folgt die Charakteristik der Modernen Restauration »as a common set of aesthetic concerns« (S. 12) durch:

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1) »a re-assertion of the conventional bourgeois institution of literature« (S. 12)

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2) den gemeinsamen »Bildungsdialekt« (S. 14) 9 als Quelle und Ausweis einer bürgerlichen Werte- und Normengemeinschaft

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3) »a search for stability of meaning« (S. 13).

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Diese Kriterien sollen die unscharfen Kennzeichnungen ›Modernismus‹ und ›Antimodernismus‹ ersetzen (S. 13). Die Moderne Restauration gewinnt ihr Profil zudem vor einem

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4) »background of successive and on-going crisis« (S. 13), dem Bewußtsein und der beständig wiederholten Erzählung einer umfassenden Kulturkrise, das die Mentalität grundiert und auf jede spezifische historische Situation (z.B. Oktober 1929, Januar 1933, 1945) angewendet wird.

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Zurecht wird der Krisenbegriff hier nicht als Differenzkriterium in der Epochendiskussion stark gemacht. Denn die Rede von der Krise kennzeichnet die gesamte Moderne, und nur die jeweils spezifische Semantisierung und rhetorische Figur der ›Krise‹ ließe sich als Unterscheidungsmerkmal einführen.

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Synchrone Schnitte:
die Literaturzeitschriften

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Drei Querschnitte durch die Landschaften der Literaturzeitschriften – um 1930 (Kolonne, Linkskurve, Literarische Welt), 1933–1945 (Das innere Reich, Maß und Wert, Das Wort), nach 1945 (Ruf, Merkur, Sinn und Form, Aufbau) – machen deutlich, daß die Verfasser ihre epochale Rahmenkonstruktion dem gesamten ideologischen Spektrum aussetzen wollen: So kann die Studie belegen, daß ein restaurativer Grundzug nicht allein die »nichtnationalsozialistische Literatur der jungen Generation« prägt, wie Schäfer dachte, sondern ebenso konservative wie linke Zeitschriften. Allerdings interessiert sie sich nur anhand der späten Weimarer Jahre für die Situierung der Zeitschriften auf dem Markt: Segmentären Organen mit seltener Erscheinungsweise wie der Kolonne stellt sie die weitverbreitete wöchentliche Literarische Welt gegenüber, kann dabei eine enge Verflechtung (Überschneidungen trotz gegenseitiger Polemiken auch mit der Linkskurve) und Prägung durch Autoren des Kolonne-Kreises nachweisen. Für die Selektion insbesondere der Nachkriegsjahre muß Peter Davies jedoch selbst konstatieren: »Indeed, when one opens Merkur or Aufbau to be confronted with another essay on Goethe, it can often seem that these individuals form a social class of their own with more in common with each other than with the majority cultures in East or West.« (S. 183) Trotz aller Gemeinsamkeiten, die sich insbesondere auch mit den linken Organen nach der frühen Durchsetzung der Lukács-Linie und durch die Sinn und Form-Herausgeberschaft Peter Huchels überzeugend nachweisen lassen, besteht eines der Ergebnisse in der zunehmenden Isolation der literarischen Kultur der Modernen Restauration von der Mehrheitskultur. Genau damit beschneiden die Verfasser die mittlere Phase der literarischen Moderne um ein zentrales Kennzeichen, das in der Integration von Ausdrucksformen und Verfahrenselementen der Populärkultur besteht: mit Schäfer gesprochen um die zweite Hälfte des ›gespaltenen Bewußtseins‹.

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Sehr verdienstvoll ist allerdings grundsätzlich, daß Literatur- und Kulturzeitschriften überhaupt einmal als Reflexionsmedien der Literatur- und Kulturgeschichte gewürdigt werden. Insofern kommt der Studie ein gewisser Pionierstatus zu, auch wenn man wiederum feststellen muß, daß sie die komplexen Funktionen einer Zeitschrift zwischen Tagesaktualität und distanzierender Perspektive, zwischen Feuilleton und Buchkultur, zwischen Reflexion und Erzeugung kultureller Diskurse kaum bereits angemessen erfaßt. Der Fokus der Beschreibung liegt noch zu sehr auf personellen Kontinuitäten, auf der Publikationsfrequenz einzelner Autoren (auch in weltanschaulich verschiedenen Organen), vor allem aber auf dem Referieren von Programmtexten oder für relevant erklärten Einzelpublikationen, ohne das Profil einer Zeitschrift aus ihren Positionierungs- und Publikationsstrategien (etwa in der je historischen Verteilung von Textsorten) zu ermitteln; kurzum: Die Zeitschrift wird zu biographistisch gefaßt, so daß die teils sehr gemischten Gemengelagen und Zirkulationen kaum systematisch an den funktionalen Stellenwert und Eigensinn der Zeitschrift als Spiegel und Generator des Literaturbetriebs zurückgekoppelt werden. Diese Gemengelagen werden dem Blick auf poetologische und ideologische Programme und auf die Zugehörigkeit der Autoren zu ihnen, aber eben vollständig erst dem Blick auch auf die je historische Durchlässigkeit für Populär- und Wissenskulturen in einer Zeitschrift kenntlich. (So läßt sich der Rückgang soziologischer und polit-ökonomischer Essayistik über populärkulturelle Phänomene der Weimarer Republik komplementär zum Hervortreten der Kunst-›Betrachtungen‹ beispielsweise sehr genau an der Neuen Rundschau seit Anfang der 1930er Jahre studieren.)

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Diachrone Beobachtungen:
die Werkbiographien

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Die fünf Werkbiographien des Bandes liefern eine Erklärung für die Dreigliedrigkeit des Epochenmodells. Denn neben Günter Eich und Peter Huchel als Vertreter der Kolonne-Generation werden auch Brecht für eine um 1920 zu schreiben beginnende mittlere sowie Johannes R. Becher und Benn für eine ältere, um 1910 / 12 hervortretende Generation auf das »1930 paradigm« hin gelesen.

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Daneben sollte nicht übersehen werden, daß schon in den Zeitschriftenquerschnitten eine Reihe weiterer Autoren immer wieder in den Fokus der Studie gerät. Neben Martin Raschke, der für die enge Verflechtung von Gruppenorgan Kolonne und mainstream-Journal Literarische Welt steht, widmet Matthew Philpotts im Rahmen des Kapitels zu Das innere Reich Georg Britting eine »case study« (S. 89–92); verwunderlich bleibt, daß er dasselbe nicht »one of the most frequently published poets« (S. 88) angedeihen läßt, dem von ihm als besonders repräsentativ für Kontinuitäten von der Kolonne und Literarischen Welt über Das innere Reich bis hin zum Merkur erachteten Georg von der Vring.

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Vor allem die instruktive Benn-Lektüre von Peter Davies zeugt von der Fruchtbarkeit, aber auch von der großen Flexibilität der Epochen-Kriterien: Er unterscheidet zwischen Benn-Rezeptionen – wie sich etwa der Kolonne-Kreis ein Benn-Vorbild formt – und Å’uvre-Entwicklungen, getrennt nach Lyrik, die zumindest in den späten 1920er Jahren als grundlegend für die Moderne Restauration gelten kann, und Prosa, die eine »radical critique of the restorative cultural discourse of the 1930s and 1940s« (S. 223) vorbringt. Anders als bei Becher, der von Beginn seiner Karriere an »could not accept the consequences of modernist critique of language, but struggled instead to find ways of reuniting word and meaning, language and world« (S. 230) durch alle seine Wandlungen vom Expressionisten über den Avantgardisten und das Exil zur Rückkehr in den SED-Staat hindurch, ist deshalb auf Benns »ambivalence« (S. 223) hinzuweisen.

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Zeigt schon Benns jüngst veröffentlichtes Hörwerk, wie sehr auch einer der älteren Generation des Samples bereits dem neuen Medium Rundfunk seine Existenz (d.h. Auskommen und Reputation) verdankt, so können auch die Analysen von Philpotts (Eich) und Stephen Parker (Huchel), so sehr sie der Literatur gelten, die Bedeutung der neuen Medien nicht verkennen: Sie werden nachgerade als Signatur und Herausforderung der späten 1920er bis späten 1950er Jahre für die Gruppe der jüngeren Autoren kenntlich, die ihre Position zwischen dem Anspruch, Dichter sein zu wollen und Medienarbeiter sein zu müssen, zu bestimmen haben.

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Das Schweigen
der langen Texte

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Angesichts des vorliegenden Bandes ist die Frage zu erneuern, warum die Ansätze der 1970er Jahre keine rechte Fortsetzung gefunden haben. Das lag zum einen sicher daran, daß sie eine Vielzahl vor allem der kanonischen Autoren und Werke zwischen 1930 und 1960 nicht zu treffen schienen: Thomas Mann, Alfred Döblin, die Österreicher Musil und Broch, aber auch Benn und Brecht, um neben dem Höhenkamm der Epik auch diejenigen der Lyrik und Dramatik zu benennen.

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Hier schafft der Band Abhilfe, was Benn und Brecht betrifft, deren Entwicklung als Auseinandersetzung mit der restaurativen Grundstimmung dargestellt wird, in der sowohl Abwehr als auch Anpassung zu beobachten sind. Allerdings bleibt der Band die Integration der Dramatik, vor allem jedoch der Epik schuldig. 10 Brecht wird vornehmlich als Lyriker und im Hinblick auf seine Selbstpositionierung im Literaturbetrieb (»From use-value to prestige-value«, S. 287–289) wahrgenommen. Mit einem Blick auf die Entstehung des epischen Theaters um 1926 wäre ein Bruch mit dem frühen Werk, wäre (vor dem Sichtbarwerden der Restauration) schon ein frühes Domestizieren anarchischer Impulse zu entdecken, womit Brecht »an die Stelle des Zeichenschaffens und seiner Lust die Exerzitien einer Disziplinierung setzt.« 11 Welche Art Wandel wäre hier zu greifen?

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Aber auch die Langtexte der vielfach genannten und genauer analysierten Autoren werden kaum ernsthaft thematisiert. So ist etwa von Günter Eichs erstem allein verantwortetem Hörspiel Ein Traum am Edsin-Gol von 1931 zwar zweimal die Rede (S. 36, 329). Es wurde seinerzeit nicht mehr realisiert, jedoch vollständig abgedruckt im letzten Band der Kolonne und inszeniert 1950 vom SWR. Das Monologstück, das ein Schlüsselwort Eichs und der Modernen Restauration im Titel führt –»Traum«, der erlebte Innerlichkeit im einsamen Flußtal der Mongolei bedeutet – hätte sich auf den ersten Blick einer genaueren Betrachtung angeboten. Doch was den Protagonisten in der selbstverordneten Ferne einholt, sind die Versagensängste in der zurückgelassenen Gegenwart der Moderne, in der Medien (Grammophon, Tagespresse) und Institutionen (Wissenschaft, Recht) das Zusammenleben vermitteln. Hier dominiert, was die Verfasser an anderer Stelle aus zeitgenössischer Quelle zitieren, ohne das Thema / Trauma weiterzuverfolgen: »Angst […] vor einem Leben ohne Aufstiegschance […] vor dem wirtschaftlichen Untergang« (S. 105). Die Rede von der Restauration müßte also dahingehend präzisiert werden, daß hier nicht diejenigen, die etwas verloren haben, dessen Wiederherstellung einfordern, sondern neue Schichten um die Teilhabe an den Modernisierungsgewinnen ringen und sich vor dem Ausschluß mental panzern. »The mood of crisis« wäre an solchen Stellen historisch dahingehend genauer zu fassen, wer welche Art von Krisen thematisiert, in welcher Anthropologie sie sich niederschlagen und wie sie formal (etwa in der gegenüber dem Expressionismus neuen Aufmerksamkeit auf den synthetisierenden Großroman) bewältigt werden.

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Kultur und »Lebenswirklichkeit«
des »gespaltenen Bewußtseins«

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Angesichts der starken Orientierung der gesamten Studie an den Vorarbeiten Schäfers, der an 24 Stellen zumeist ausführlich diskutiert wird, ist am erstaunlichsten das vollständige Übergehen von Schäfers zentralem Interesse an der ›Mehrheitskultur‹ der 30er und 40er Jahre: der großen deutschen Übersetzungskultur, die bis weit in den Nationalsozialismus hinein die westliche Moderne verfügbar macht, der Macht der populären Kultur, nicht zuletzt der Präsenz Hollywoods bis zum Weltkrieg, der zunehmenden Medienarbeit für die wachsende Alltags- und Konsumkultur. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit lautet deshalb immerhin der Untertitel von Schäfers auch als Taschenbuch (1984) verbreiteten Texten (1981), denen er als Titel seinen sozialpsychologischen Erklärungsansatz voranstellt: Das gespaltene Bewußtsein. Dies ist Schäfers früher Beitrag zur Debatte um die kulturelle Moderne in der fortgesetzten sozialen Modernisierung. Daß die Verfasser das Bewußtsein einer allgemeinen Kulturkrise zu einem ihrer vier Epochenkriterien erheben, läßt eine Diskussion dieser Schäferschen Hypothese eigentlich unabdingbar erscheinen, die zudem auf derselben Materialbasis entstanden ist. Allerdings umgehen sie derart die kontroverse Diskussion um Moderne und Modernisierung.

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Wenn in der sonstigen Forschung die politische Ausrichtung und die Ideologiekritik bislang dominiert, dann ist die Beschränkung auf den binnenliterarischen Diskurs zweifellos legitim und wünschenswert; insbesondere wenn wie hier nicht nur Stil- und Gattungsgeschichte verfolgt wird, sondern diese im Sinne einer Sozialgeschichte der Literatur in institutionengeschichtliche Forschungen zu den Literaturzeitschriften als Filter und Multiplikatoren eingebettet bleibt. Doch richtet sich dieser innerliterarische Diskurs der Zeit in der Dramatik, schon in der Kurzprosa der 1920er Jahre, insbesondere jedoch in den erzählenden Langtexten auch und gerade auf die »Lebenswirklichkeit« und auf das »Bewußtsein« in der »deutschen Kultur« aus. Auch darin ähneln sich im übrigen Werke aus dem Kolonne-Kreis und solche der kommerziellen Mitte wie der politischen Linken und Rechten; man vergleiche dazu nur Elisabeth Langgässers Gang durch das Ried (1936) mit Hans Falladas Wolf unter Wölfen (1937), Anna Seghers Das siebte Kreuz (1942) und Borchardts Vereinigung durch den Feind hindurch (1937). Hierbei zeigt sich, daß, wie die Verfasser auch gelegentlich anmerken, die Epoche »remained profoundly troubled by the experience of modernism« (S. 108), worauf etwa mit »an uneasy synthesis with traditions of […] social realism and religious writing« (S. 108) reagiert wird, wie sie hinsichtlich des Sozialistischen Realismus einräumen. Aber auch Raschkes Kulturdiagnostik »can be readily unterstood as an attempt to overcome the contemporary crisis of meaning by re-directing attention toward final questions and by revalorising key concepts in a new synthesis.« (S. 37)

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Fazit

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Die Studie erschließt mithin für den Bereich, auf den sie sich konzentriert, eine Reihe neuer Zusammenhänge, und sie entwickelt neue Sichtweisen auf gut erforschte Autoren durch die neuartige Kontextualisierung. Gegenüber dem Forschungsstand von 1980 gelingt damit eine Erweiterung der Perspektive auf zwei der kanonischen Repräsentanten der Literatur: Benn und Brecht. Allerdings ist diese Erweiterung erkauft durch die Begrenzung des Frageinteresses auf stil- und gattungsgeschichtliche Aspekte, auf die Lyrik, essayistische Weltanschauungstexte und Programmtexte im Besonderen sowie auf den Literaturbetrieb im engeren Sinn. Daß sich jedoch bei den Autoren der jüngeren Kolonne-Generation, ja schon für Brecht, eine Ausblendung des Verhältnisses zu den neuen Medien nicht durchhalten läßt, belegen die Werkbiographien des Bandes allenthalben. Wie hier wird auch an weiteren Stellen deutlich, daß die vielfältig verzweigten und verknüpften Befunde auf breitester empirischer Grundlage immer wieder über das vorgegebene Kriterienkorsett hinausdrängen. Das legt nahe, daß die Epochenmerkmale zum einen nicht vollständig erfaßt sind (Verhältnis Literatur und Medien 12). Das deutet aber auch darauf hin, daß sie zum anderen zu unspezifisch ausfallen, um noch trennscharf zu sein (›Krise‹).

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Es ist dem verdienstvollen Band, der in minutiöser Auseinandersetzung mit einem verschollenen Forschungsstrang erarbeitet wurde, zu wünschen, daß er eine dringend gebotene Neuverhandlung der Literaturgeschichte des mittleren 20. Jahrhunderts auch in der internationalen Germanistik auslöst, die den sozialhistorischen und medialen Besonderheiten dieser Phase verpflichtet bleibt.



Anmerkungen

Rainer Zimmermann: Das dramatische Bewußtsein. Studien zum bewußtseinsgeschichtlichen Ort der Dreißiger Jahre. Münster: Aschendorff 1989. Helmut Arntzen: Ursprung der Gegenwart. Zur Bewußtseinsgeschichte der Dreißiger Jahre in Deutschland. Mit Beitr. v. Thomas Althaus, Eckehard Czucka, Wolfgang Golisch, Edzard Krückeberg, Burkhard Spinnen, Gerd-Theo Tewilt. Weinheim: Beltz / Athenäum 1995. Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, hier insbesondere S. 183–195.   zurück
Frank Trommler: Der ›Nullpunkt‹ und seine Verbindlichkeit für die Literaturgeschichte. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 1 (1970), S. 9–25, F. T.: Der zögernde Nachwuchs. Entwicklungsprobleme der Nachkriegsliteratur in Ost und West. In: Thomas Koebner (Hg.): Tendenzen der deutschen Literatur seit 1945. Stuttgart: Kröner 1971, S. 1–116, F. T.: Emigration und Nachkriegsliteratur. Zum Problem der geschichtlichen Kontinuität. In: Reinhold Grimm / Jost Hermand (Hg.): Exil und innere Emigration. Third Wisconsin Workshop. Frankfurt / Main: Athenäum 1982, S. 173–197. Und die Arbeiten unter seinem Einfluß: Joseph P. Dolan: Die Rolle der Kolonne in der Entwicklung der modernen deutschen Naturlyrik. Ann Arbor: Xerox University Microfilms 1976; J. P. D.: The Theory and Practice of Apolitical Literature: Die Kolonne 1929–1932. In: Studies in Twentieth-Century Literature 1 (1977), S. 157–171, Jeanette Atkinson: Traditional Forms in German Poetry 1930–1945. Ann Arbor: University Microfilms International 1983.   zurück
Zusammengefaßt in Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945. München, Wien: Hanser 1981. Schäfers neuere Arbeiten bleiben dagegen gänzlich unberücksichtigt: H. D. S.: Amerikanismus im Dritten Reich. In: Michael Prinz / Rainer Zitelmann (Hg.): Nationalsozialismus und Modernisierung. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 199–215, H. D. S.: Kultur als Simulation. Das Dritte Reich und die Postmoderne. In: Günther Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und im DDR-Sozialismus. Paderborn u. a.: Schöningh 1997, S. 215–245, H. D. S.: Avantgarde als Werbung und Geste der Langen Fünfziger Jahre oder Hölderlin im Turm. In: Text + Kritik. Sonderband Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden 9 (2001), S. 278–308, H. D. S.: Moderne im Dritten Reich. Kultur der Intimität bei Oskar Loerke, Friedo Lampe und Helmut Käutner. Stuttgart: Steiner 2003.   zurück
Zusammengefaßt in Bernd Hüppauf (Hg.): »Die Mühen der Ebenen«. Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft 1945–1949. Heidelberg: Winter 1981.   zurück
Hans Dieter Schäfer 1981 (Anm. 3), S. 78.   zurück
Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld von Restauration und Revolution 1815–1848. 3 Bde. Stuttgart: Metzler 1970, 1972, 1980.   zurück
Rudolf Borchardt: Eranos-Brief. In: R. B.: Gesammelte Werke in Einzelbänden: Prosa I. Hg. von Marie Luise Borchardt. Stuttgart: Klett-Cotta, 2. Aufl. 1992, S. 90–130, hier S. 122.   zurück
So Borchardt im Brief an Max Brod vom 19.11.1931; vgl. dazu im Zusammenhang Stefan Breuer: Rudolf Borchardt und die »Konservative Revolution«. In: Ernst Osterkamp (Hg.): Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen. Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 370–385, hier S. 385.   zurück
Nach Wolfgang Frühwald: Büchmann und die Folgen: Zur sozialen Funktion des Bildungszitates in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Reinhart Koselleck (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 197–219.   zurück
10 
Von der Forschung seit Schäfer werden deshalb nicht die in Anm. 1 genannten Arbeiten rezipiert, sondern die verdienstvollen Darstellungen zur Lyrik von Hermann Korte (Lyrik am Ende der Weimarer Republik. In: Bernd Weyergraf (Hg.): Literatur der Weimarer Republik 1918–1933. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 8. München, Wien: Hanser 1995, S. 601–635) und Leonard Olschner (Fractured Continuities: Pressures on Lyrical Tradition at Mid-century. In: German Studies Review 13 (1990), S. 417–440).   zurück
11 
Hans-Christian von Herrmann: Sang der Maschinen. Brechts Medienästhetik. München: Fink 1996, S. 17.   zurück
12 
Dazu käme noch das ebenso wichtige Verhältnis von Literatur und Wissen(schaften), denn den Verfassern fällt mehrfach auf, daß etwa die moderne Physik für bestimmte Positionen des literarischen und weltanschaulichen Diskurses funktionalisiert wird.   zurück