Frizen über Wienand: Größe und Gnade

IASLonline


Werner Frizen

Thomas Mann wird katechesiert

  • Werner Wienand: Größe und Gnade. Grundlagen und Entfaltung des Gnadenbegriffs bei Thomas Mann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. 440 S. Kart. € 66,-.
    ISBN 3-8260-1976-8.

Gretchens Frage

Warum stellt Gretchen die nach ihr benannte Frage? Durch Fausts gesamte Existenzweise in den Grundlagen ihres Denkens verunsichert, würde sein Bekenntnis zum Glauben ihrem Weltbild die Stabilität verleihen, nach der sie verlangt. Mephistopheles' Lästerzunge sagte es so:

Die Mädels sind doch sehr interessiert,
Ob einer fromm und schlicht nach altem Brauch,
Sie denken, duckt er da, folgt er uns eben auch. (V. 3525–3527)

Warum stellen Literaturwissenschaftler immer noch und immer wieder die Gretchenfrage? Karl Rahners Rede vom >anonymen Christen< lässt das Hintertürchen offen, auch jene für den Glauben zu reklamieren, die sich bei Lebzeiten mit Händen und Füßen gegen eine Vereinnahmung gewehrt – oder auch weniger dramatisch lediglich mit einer ironischen Volte reagiert hätten. Texte allein sind geduldig und lassen postumen Proselytenmachern alle Freiheit. Das Problem, wie die Texthermeneutik eine intellektuell saubere und verantwortliche Kausalität zwischen Text und Autor herstellen kann, ist nicht gelöst. Und das gilt nicht nur für sogenannte fiktionale Texte. Im Umgang mit einem essentiellen Ironiker zumal stehen alle Texte unter dem Generalverdacht des Fiktiven. Das gilt für seine Essays, das gilt für seine Briefe, das gilt teilweise selbst für seine Tagebücher. In der Chemie ihrer Begriffe praktizieren sie je nach Anlass, Adressatenbezug und Situation dieselbe phrasenhafte Ausflucht wie Faust: "Name ist Schall und Rauch, / Umnebelnd Himmelglut." (V. 3437f.)

Es kann deshalb nicht verwundern, dass, wann immer tote Dichter katechisiert werden, alle nur denkbaren Antworten gegeben werden, da der Fragende immer auch die Antwort in seinem Horizont gibt. In Thomas Manns Fall reicht das Spektrum der Antworten vom anonymen Christentum über Agnostizismus, Indifferentismus und Kunstreligion bis hin zum Nihilismus. Auch Werner Wienand holt Thomas Mann am Ende heim ins Christentum, doch begleitet seine Untersuchung das Bewusstsein, dass sie es mit Proteus, dem wandlungsreichen Gott, zu tun hat. Das macht sie lesenswert unter dem Gesichtspunkt, wie Texte und Interpret sich gegenseitig Schnippchen schlagen.

Fausts Antwort

Wienand geht es um die Frage nach der Glückseligkeit. Eine gewaltige Frage, seit der Philosophie der Aufklärung eine der größten und nicht zum Schweigen zu bringen. Gibt es, so fragt er, für den dekadenten Künstler eine glückliche Existenz, wenn seine Kunst vom Leben getrennt ist? Die Antwort stellen heißt nicht nur sie verneinen, sondern sie steht mit dem ersten Satz schon fest: "Thomas Mann war ein angstvoller Mensch, unfähig, sich seiner Mitwelt zu öffnen." (S.11) Am Ende steht der Satz: "Sein Werk ist im Grunde eine große Bitte um Gnade." (S.418) Zwischen diesen Polen entfaltet Wienand das existenzielle und werkgeschichtliche Drama Thomas Manns, das wieder einmal, auch wenn das Problem des Religiösen im Vordergrund steht, das erotische ist.

Ohne die "charakterlichen Eigenheiten" (S.36), die persönlichen Dispositionen zu exponieren verlöre eine solche Analyse den Boden unter den Füßen; das Werk, so die Voraussetzung, dient dem Ängstlichen, dem "Kind des Verfalls", dem "Hybrid aus bürgerlichem Repräsentantentum und leidensverhaftet-heroischem künstlerischem Selbstverständnis (S.11) als "Erfüllungskonzept", als "Sublimationsraum", als "Strategem" der Ichstabilisierung. Die schöne Titelerfindung von "Größe und Gnade" soll nicht synchron, sondern mit dem Akzent "von der Größe zur Gnade" gelesen werden. Am Anfang heroischer Trotz, Wille zur Größe, am Ende Hinwendung zur Transzendenz, Verzweiflung und Bitte um Gnade. Dazwischen Bekenntnis zur Humanität, zu "Güte und Liebe" im "Zauberberg", Hinwendung zum Politisch-Sozialen in der Josephstetralogie, Theologie als Anthropologie, die als Lebenskonzept nicht trägt.

Subtrahiert der Leser die Vertraulichkeit und Selbstgerechtigkeit, mit der in solchen >Sätzen< über eine immense Werk- und Lebensleistung geurteilt wird; subtrahiert er den Systemzwang, der allen Periodisierungen von Thomas Mann innerer Biographie anhaftet; abstrahiert er vom existenziell-theologischen Anspruch und sieht er über die typischen Untugenden des Genres hinweg, an die auch diese Dissertation gebunden ist, dann lässt die Buchhaltung auf der Habenseite mehr als genug übrig, weswegen sie gelesen werden sollte. Es sind vor allem die Analysen zum Frühwerk, die überzeugen, während die zum Spätwerk provozieren. Da muss man sich die Mühe machen, Wienands eigene, immer gewandte, immer eloquente Strategeme (übersetzt: Kriegslisten) der Argumentation genauer zu beleuchten.

Ein Kronzeuge für seine These ist die Erzählung "Die Betrogene". In ihr formuliert die Hauptfigur Rosalie von Tümmler programmatisch: "Ist ja doch der Tod ein großes Mittel des Lebens, und wenn er für mich die Gestalt lieh von Auferstehung und Liebeslust, so war das nicht Lug, sondern Güte und Gnade." (GW III, 950) Wienand schließt daraus nicht minder programmatisch: "Aus dem abstrakt-allgemeinen-immanenten Postulat der >Güte und Liebe< des Zauberberg ist das persönlich-transzendente Fazit von >Güte und Gnade< geworden." (S.395) Das Proton Pseudos aller Interpretation, die Identifizierung von Figurenrede mit Autorenrede, hat, wie man sieht, weit reichende Konsequenzen. Im Ende Rosalie von Tümmlers, so das Fazit, drücke sich deshalb ein persönliches, subjektives Bedürfnis des Autors aus, der sich wie Rosalie Erlösung, Versöhnung, Synthese erhoffe (vgl. S.403). Kommt hinzu, dass dieser selbst nicht mit seiner Figur verwechselt werden wollte, ja sogar ausdrücklich die "höhnische[n] Dämonie" zum Darstellungsziel erklärte, mit der die ">liebe< Natur" der Heldin mitspiele (Tb 1953–1955, S.470).

Nicht anders verfährt Wienand mit dem "Erwählten", seinem zweiten Kronzeugen. In ihm meine Thomas Mann es durchweg ernst mit der Idee der Gnade: "Es ist explizit eine Heiligenlegende, die Transzendentes in keinerlei Zweifel zieht, sondern von ihm ausgeht." (S.388) Eine klassische petitio principii! Was zu beweisen wäre, wird mit Hinweis auf die Gattungstradition erschlichen. Tatsächlich wäre nachzuweisen, dass der Roman die Gattung und mit ihr den Transzendenzbezug weder durch Ironie noch durch Parodie gegen sich selbst kehrt oder auflöst und den Ernst der Problemstellung nicht a priori im Sprachspiel suspendiert. Dieser Nachweis gelänge aber nur, wenn überhaupt, durch eine präzise Bestimmung des intertextuellen Verhältnisses zum Epos Hartmanns von Aue. Statt ihrer reiht Wienand Thesen:

Das ist kein Nihilismus mehr (...)." — "Es geht nicht mehr ohne Gnade, also auch nicht ohne – zumindest suprakonfessionellen – Glauben, in dem jeder seinen ureigensten Bezug zur Transzendenz hat und mit dem sich Einheit im Geiste erreichen läßt." — "Die Kunst stiftet Gemeinschaft. (S.390f.)

Entwaffnet werden diese Strategemata durch die Art, wie Wienand die brieflichen Selbstinterpretationen seiner Argumentation dienstbar macht: Passen sie in seinen Argumentationskontext, sind sie hoch willkommen; passen sie nicht, werden sie durch den Adressatenbezug entwertet. Schreibt Thomas Mann an R.J. Humm, er glaube an das "Gute und Geistige, das Wahre, Freie, Kühne, Schöne und Rechte", man müsse "vielleicht außerdem an den lieben Gott oder den Atlantic Pact glauben", ihm genüge aber das andere, geht Wienand über das Bekenntnis zur klassischen Kalokagathia und Kunstreligion ebenso hinweg wie über die auf die Bigotterie jener Zeit zielende Fundamentalironie – und das mit Hinweis auf den angeblichen Agnostizismus des Briefempfängers, der zu beweisen wäre (S.391f.); denn der komplette Briefkontext lässt den Rückschluss zu, dass nicht Humm der Glaubenslose ist, sondern er seinerseits den Glauben bei Thomas Mann vermisst und ihm die Gretchenfrage gestellt hat.

Bekennt sich Thomas Mann zur Komik des "Erwählten" als einer "zwerchfellerschütternde[n] Form des Nihilismus", gilt dies für Wienand nur als scheinbare Selbstaussage (auf deutsch als adressatenbezogene Notlüge), da der "antiorthodoxe" Briefempfänger Kuno Fiedler, sich "der Gnadenthematik bei Mann vermutlich [!] nicht zugänglich" zeige (S.383).

Fügt sich jedoch die Selbstaussage einer Epistel in die Deduktion, weil sie vom "religiös aufrichtige[n] Interesse an der Idee, dem Phänomen der Gnade" spricht, ist der Adressatenbezug ohne Belang (S.383), während gerade in diesem Brief eine Simulation im Hinblick auf den Empfänger nachweisbar gewesen wäre; denn Thomas Mann schreibt nicht an einen Vertrauten (wie Kuno Fiedler), sondern einen seiner Höflichkeitsbriefe an den Mediävisten Bruno Boesch, dessen Aufsatz über den Erwählten ganz im kulturkonservativen Geist in einer konservativen Zeitschrift in restaurativen Zeiten erschien. Wenn einer dieser drei Briefe taktischen Charakters ist, dann dieser: Die Ängste, die Thomas Mann in diesen Jahren gepackt hielten, sie sind nicht bloß existenzieller, sie sind auch diplomatisch-politischer Natur.

Bleibt noch ein argumentum e silentio: Warum spart Wienand den letzten Teil des Krull aus und damit die Philosophie des Als Ob? Warum wird Das Gesetz ausgeblendet – in einer Studie, die sich dem paulinischen Gegenbegriff widmet? Warum kommt Luthers Hochzeit bei ihm nicht vor, in der die Auseinandersetzung mit der Rechtfertigungslehre fundamental ist? Warum setzt er sich mit nicht Bernd Hamachers Studie über Thomas Manns letztes Werkprojekt auseinander, die die exakte Gegenthese zu Wienands Periodisierung vertritt? Thomas Mann, so ist dort zu lesen, habe Luthers transzendente Konzeption der Gnade "in die Immanenz hineingenommen" und das lutherische sola gratia als >allein durch die Liebe< entziffert. 1

Genug der Pedanterie! Wienand hat eine große Frage gestellt, ihm wird hier leider mit kleiner Münze herausgegeben. Eine Antwort kann nur mit philologischer Akribie und methodischer Akkuratesse entwickelt werden. Ob sie je definitiv gegeben werden kann, muss bezweifelt werden. Thomas Mann reagiert auf die Gretchenfrage eben nicht, wie es dem Horizont einer Katechismusgläubigen entspräche, sondern mit den Winkelzügen, Windungen und sprachlichen Verstellungskünsten eines Faust:

Wer darf ihn nennen
Und wer bekennen:
Ich glaub' ihn. (V. 3431–3434)


Werner Frizen
Ottostr. 73
D-50823 Köln

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 11.07.2002
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Friedhelm Marx. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]

Anmerkungen

1 Bernd Hamacher: Thomas Manns letzter Werkplan "Luthers Hochzeit". Edition, Vorgeschichte und Kontexte. Frankfurt / M.: Klostermann 1996, S.284, 296.   zurück