Frizen über Mann: Briefe an Richard Schaukal

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Werner Frizen

74 von 25 000 Briefen Thomas Manns

  • Thomas Mann: Briefe an Richard Schaukal. Hg. von Claudia Girardi unter Mitarbeit von Sybille Leitner und Andrea Traxler (Thomas-Mann-Studien 27) Frankfurt am Main: Klostermann 2003. 242 S. Ln. EUR (D) 49,-
    ISBN 3-465-03243-8.


Kein "Gespräch in Briefen"

73 Briefe mit gedrechselten Liebenswürdigkeiten und gestelzten Lobhudeleien und nach fünf Jahren eifrigster Korrespondenz ein abrupter Trennungsbrief von einer Schärfe, wie man sie selten bei Thomas Mann erlebt. "Sie überfluthen mich", seufzt der gequälte Dichter in einer nicht enden wollenden Periode, "sie überfluthen mich mit Sendungen mit Gedichten, Novellen, Rezensionen und tausend Kleinigkeiten [...]. Sie erwarten, daß ich das alles lese [...] – ich komme dieser Erwartung unermüdlich nach, und Sie danken mir, indem Sie fortfahren, in einer hemmungslosen Art von sich, von sich, von sich zu reden [...]." Mit bösem Pathos zieht der "Scheidebrief" 1 darauf einen energischen Schlussstrich: "Ich erkläre unser Verhältnis für dringend ruhebedürftig und schlage vor, dass wir einander vorläufig vergessen." (S. 109)

Peter de Mendelssohn hat seine Annäherungen als Zudringlichkeit eines lästigen Bewunderers disqualifiziert, 2 mit Recht, sofern der zunächst nach Mähren verbannte, im Räderwerk der Verwaltung ächzende Jurist systematisch ein weit verzweigtes Netz von Korrespondenzen, Kontakten und Freundschaften aufbaute, um seinen lyrischen, kleinepischen und essayistischen Werken den Weg zu bereiten. Mit Unrecht, weil er Thomas Mann gegenüber zunächst – wenn auch nur für kurze Zeit – der Gebende war.

Von diesem liegt, als Schaukal auf ihn aufmerksam wird, gerade einmal Der kleine Herr Friedemann in Buch- oder Büchlein-Form vor; die Buddenbrooks sind zwar geschrieben, harren aber noch der Veröffentlichung, während Schaukal schon mit zahlreichen Publikationen hervorgetreten ist. Thomas Manns erster Erzählungsband hatte nur mäßige Resonanz gefunden: ein paar anonyme Kritiken, dann ein paar Notizen alter Bekannter wie Ludwig Ewers und Otto Grautoff, schließlich noch Arthur Eloesser in der Neuen Deutschen Rundschau mit zwei Sätzen, und das war alles gewesen – wenn nicht Schaukal an prominenter Stelle, in Conrads Gesellschaft, seine Entdeckung mit Trompetenstößen begrüßt und sich mit dieser und weiteren Rezensionen in jenen entscheidenden literarischen Inkubationsjahren Thomas Manns "sehr um dessen Ruhm verdient gemacht" 3 hätte. Schaukal glaubte, in dem neuen Talent einen Bundesgenossen gefunden zu haben, einen Fin-de-Siècle-Ästheten, der wie er – früh gereift und zart und traurig – ins Wien der Jahrhundertwende gepasst hätte. Sein Trompetenstoß klang wie ein Fanal: "Man muß sich den Autor merken; er ist ein reiner, sicherer, erfahrener Künstler" (S. 11).

Thomas Mann lässt sich tatsächlich ein auf den "kuriose[n] Kauz" – allerdings erst nach dessen drittem Annäherungsversuch. Doch auch dann nicht vorbehaltlos und nicht, ohne Erkundigungen über die Lebenssituation des Österreichers eingezogen zu haben. Warum, so fragt sich der Betrachter, macht er nicht kurzen Prozess und entzieht sich ganz – wo er doch genau weiß, dass der Kauz dem Bruder "viel näher steht" 4? Denn die persönliche Basis zwischen den beiden Ästheten ist gewiss nicht sehr tragfähig: Da werden zwar schon einmal Photographien versandt, der eine gibt dem anderen gelegentlich einen persönlichen Rat, wie er unter modebewussten Dandys zeitgemäß war, man tauscht Bulletins über Nervenkrisen, Konstipationen und Zahnschmerzen aus, auch kommt es kurz vor der Verlobung mit Katia Pringsheim zu augenzwinkernden Andeutungen unter Männern, aber das alles macht aus dem "guten Schaukal" 5 keineswegs einen Vertrauten.

Kein Dokument der Freundschaft also, schon gar kein Verkehr der Seelen, allenfalls ein literaturkritischer Austausch, vor allem aber wieder einmal ein Medium und Instrument der literarischen Profilierung und der Selbststilisierung.

"Nicht von Euch ist die Rede, [...]
sondern von mir, von mir."

Es wird unmäßig viel Weihrauch gestreut in diesen Briefen. Doch stehen die Tributleistungen des einen in einem flagranten Missverhältnis zu denen des anderen: Wo Schaukal öffentlich lobt, beschränkt sich Thomas Mann auf private Zustimmung. Es sind wahre Lorbeerkränze, die der "Apostel[]" (S. 71) dem Nachwuchsdichter windet, und der Gefeierte drückt sie sich ohne falsche Scham "mit beiden Händen fest aufs Haupt" (S. 40). Der poeta laureatus von Schaukals Gnaden hilft, wenn es nottut, auch seinerseits nach beim Rezensieren. Dem hörigen Grautoff wird er wenig später eine Rezension nahezu komplett in die Feder diktieren. Dem Kollegen gibt er immerhin die Tendenz vor, in der die Laudatio gehalten sein soll:

Wenn Sie aber über mein Buch schreiben sollten, so würde ich mich freuen, [...] wenn sie mir bestätigen könnten, daß in meinem Buch ein wenig mehr Herkunft, Erlebnis, Absicht, Ernst, Leidenschaft steckt als in den seinen [denen Jakob Wassermanns]. (S. 32)

Schaukal leistet das Seine: viele Monate, bevor Rainer Maria Rilke und Samuel Lublinski für Buddenbrooks eintreten, stimmt er in der Wiener Abendpost eine Hymne an – und zwar, wie Eckhard Heftrich schreibt, "im Fortisssimo" (GKFA 1.2, 118), eine Hymne, die, ohne den diktierten Vergleich mit Wassermann anzustrengen, die Familiensaga hineinstellt in die Ahnenreihe des europäischen Romans seit Goethe und ihren Autor unter den "Großen" ansiedelt.

Und Thomas Mann? Der nimmt mehr, als er zu geben bereit ist. Immer wieder klopft der von Publikationserfolgen recht wenig verwöhnte Schaukal an, bittet um Vermittlung für dieses oder jenes Poem, um Intervention bei diesem oder jenem Verleger. Der Lektor Thomas Mann legt sich ins Mittel, befürwortet und macht bei literarischen Freunden mit wechselndem Erfolg seinen Einfluss geltend – aber er exponiert sich nicht in der Öffentlichkeit. Als es darauf ankommt, nun seinerseits Stellung zu beziehen, windet er sich schlangengleich aus allen Gegenverpflichtungen heraus, entschuldigt sich mit grundsätzlichen, unangreifbaren Gründen – "Ich fühle mich zum Kritiker zu wenig berufen" (S. 45) – und beschränkt sein Lob auf den privaten Schriftwechsel.

Kein Wunder, dass nach fünf Jahren Schluss ist mit dieser Beziehung. Wo so viel Weihrauch dargebracht worden war, musste am Ende einer das Opfer sein. So ganz auf gegenseitigem Anerkennungsbedürfnis gegründet, musste das Zweckbündnis scheitern, sobald ernsthafte Zweifel an den künstlerischen Fähigkeiten des anderen laut wurden. Diese Stunde der Trennung war mit dem Vorabdruck von Fiorenza gekommen. Schaukal, der anmaßende poeta minor, wagt es, den missglückten Dramenversuch des "Großen" nicht nur zu kritisieren, sondern gar nicht einmal zu Ende zu lesen. Eine solche Respektlosigkeit war Anlass genug, wenn auch kaum Ursache, endlich unter das ungleiche Verhältnis den Schlussstrich zu ziehen. War durch Schaukals Frechheit Thomas Manns Künstlerstolz im "Mark getroffen" (so die Herausgeberin Claudia Girardi, S. 22) oder hatte der Mohr einfach seine Schuldigkeit getan, nachdem der Ruhm sich eingestellt hatte?

Eine beziehungsreiche Formulierung des Scheidebriefes sagt manches über die Gründe für das abrupte Ende der Korrespondenz: Statt den "einfachsten Verpflichtungen" nachzukommen, tue Schaukal nichts anderes, als "in einer hemmungslosen Art von sich, von sich, von sich zu reden" (S. 108). Wer dazu das Recht und wer es erschlichen hat, macht Thomas Mann wenige Monate später in seinem "Manifest" Bilse und ich deutlich: "Nicht von Euch ist die Rede", den künstlerischen Anspruch erhebt er ein für allemal, "sondern von mir, von mir" (GKFA 14.1, 110).

"Sie überfluthen mich mit Sendungen"

Muss man auch diese 74 Briefe noch lesen? 25 000 Schreiben, so eine der Schätzungen, sollen das epistolographische Opus Thomas Manns im Ganzen umfassen. Von A wie Adorno bis Z wie Zweig sind Tausende davon schon publiziert. Große und gewichtige Korrespondenzen mit Verlegern, Freunden, Kollegen, Jüngern und Gönnerinnen liegen auf. Ca. 3 000 zu veröffentlichen stellt die Frankfurter Ausgabe in Aussicht. Nun also auch noch die kleineren Briefkonvolute?

Immerhin: die Schaukal-Briefe sind eine Novität. Mit der Auflösung des Nachlasses waren sie 1994 in die Wiener Stadt- und Landesbibliothek gelangt. Vor 2002 fand sich von ihnen kein Regest, kein Einzelabdruck. Erst die Frankfurter Ausgabe hat 23 von den 74 erhaltenen Briefen aufgenommen. Die Komplettierung des Briefcorpus durch Claudia Girardi schafft die Kontexte, die deren repräsentative Auswahl nicht leisten kann. Gegenbriefe sind nicht erhalten, doch immerhin konnte der stenographische Entwurf eines Antwortschreibens auf Thomas Manns Scheidebrief weitgehend entziffert werden. Ein opulenter Kommentar mit ausgiebigen Referaten, Paraphrasen und Zitaten aus Schaukals Veröffentlichungen schafft ein Gegengewicht zum Monologischen der Thomas-Mann-Briefe und gibt dem stumm anwesenden Briefadressaten Stimme und Kontur. Neben den Briefen an den Bruder, komplementär zu den Martens-Briefen, zeitlich an die Grautoff-Briefe anschließend, sind sie neben diesen das einzige geschlossene Briefcorpus der entwicklungsgeschichtlich so wichtigen Zeit zwischen dem Erscheinen der Buddenbrooks und der Hochzeit.

Aber auch für Beckmesser gibt es einiges zu tun. Die Briefe sind diplomatisch wiedergegeben – mit allen originalen Schreibeigenheiten und Interpunktionen bis hin zum doppelten Trennungsstrich und dem konsonantenverdoppelnden Strichlein über dem m, mit Zeilensprüngen und Seitenwechseln. Das ist so "strikt" (S. 214), wie es behauptet wird, freilich nicht durchgeführt. Wann immer Girardi "Öffentlichkeit" etc. (S. 89 u.ö.) schreibt, dürfte die GKFA mit "Oeffentlichkeit" (S. 306 u.ö.) den auch viel später noch auftretenden Schreibgewohnheiten Thomas Manns entsprechen. Auch die Formulierung "Kapitel von dem Anfange dieser Fragmente" (Brief Nr. 42) wird falsch gelesen sein und richtig "von dem Umfange dieser Fragmente" heißen (wie auch in GKFA 21, 234). Im sechsten Brief ist – entsprechend der Regelung vor der Dudenschen Rechtschreibreform, der Thomas Mann sich erst spät und nur im Detail fügte – "protestiren" statt "protestieren" zu schreiben. Im Brief an Fischer vom 29.10.1903 bezeichnet sich der tiefstapelnde Thomas Mann keineswegs neologistisch und ungefüge als "schnurrbärtliche", sondern brav als "schnurrbärtige" Persönlichkeit (GKFA 21, 239).

Wer in Zweifelsfällen richtig liest, Claudia Girardi oder die GKFA, die ebenfalls mit dem Anspruch auftritt, die Vorlagen "wort- und zeichengetreu" wieder zu geben (S. 858) ist nicht immer so klar ausgemacht wie in den gerade zitierten Fällen und könnte Stoff für Gesellschaftsspiele sein: Bei Girardi liest Thomas Mann Schaukals Hoffmann-Buch "mit Freude" (S.97), in der GKFA "mit Freuden" (S. 307); hier trägt die Hauptfigur von Ibsens Wenn wir Toten erwachen den Namen "Rubeck" (S. 317), dort "Rubek" (S. 99). In der GKFA zeigt sich Thomas Mann enthusiasmiert über Schaukals Buddenbrooks-Rezension, die Schaukal eine "Goldschmiedearbeit" heißt, nennt sie aber in der GKFA ganz unelegant eine "künstlerisch geschmiedete kleine Sache" (S. 191), während sie bei Girardi sich als eine "kunstreich geschmiedete kleine Sache" herausstellt (S. 40). Da scheint nun Girardi die Palme zu gebühren, während ich mich im Falle des problematischen Briefes Nr. 70 vom 30.4.1905 für die Frankfurter Ausgabe entscheiden würde, in der der Egoismus der Öffentlichkeit im Kultus des Talents "ins Cynische" geht (S. 319), wo sie bei Girardi "ins Gemüth" geht (S. 101), und auch den "Reinlichkeitssinn" der GKFA ziehe ich dem "Peinlichkeitssinn" (ebd.) in der Version Girardis entschieden vor.

Unentschieden bleibt die Datierung des zweiten Briefes, den Otto Grautoff in Thomas Manns Auftrag schreibt: einmal ist er auf den 10.11.1900 datiert (S. 27), zweimal auf den 10.12.1900 (S. 116, 217) – die Datierung auf den November dürfte die richtige sein, weil Thomas Mann im Dezember aus dem Garnisonslazarett wieder entlassen ist und Grautoffs Hilfe nicht bedurft hätte.


Dr. Werner Frizen
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Ins Netz gestellt am 20.09.2003
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Anmerkungen

1 Vgl. Thomas Manns Brief an Heinrich vom 15. Oktober 1905. In: Thomas Mann – Heinrich Mann. Briefwechsel 1900–1949. Hg. von Hans Wysling. Frankfurt am Main: Fischer, 2. Aufl. 1984, S. 59.    zurück

2 Peter de Mendelssohn: Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Erster Teil 1875–1918. 3 Bände. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1996, Bd. I, S. 498.    zurück

3 Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann – Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München: Winkler 1984, S. 50    zurück

4 Thomas Mann – Heinrich Mann. Briefwechsel 1900–1949, S. 9.    zurück

5 Ebd., S. 38.    zurück