Fuhrmann über Oksiloff: Picturing the Primitive

IASLonline


Wolfgang Fuhrmann

Ethnographie, Anthropologie
und frühes Kino

  • Assenka Oksiloff: Picturing the Primitive: Visual culture, Ethnography, and Early German cinema. New York: Palgrave, 2001. 227 S. 6 Abb. Geb.
    EUR (D) 60,90. ISBN 03-12235-54-2 / Kart. EUR (D) 23,38.
    ISBN 03-1293-73-9.


Der Beginn des ethnographischen Films in Deutschland ist einer der vielen "blind spots" in der nationalen Filmgeschichtsschreibung. Dementsprechend hoch sind die Erwartungen an Publikationen, die sich diesem unbekannten Teil der Filmgeschichte zuwenden. Titel und Abbildungen aus Rudolf Pöchs Buschmann spricht in den Phonographen auf der Buchtitelseite von Assenka Oksiloffs Picturing the Primitive lassen hoffen, dass hier die Geschichte nahezu unbekannten Filmmaterials erschlossen wird.

Picturing the Primitive ist jedoch keine Untersuchung zum frühen deutschen ethnographischen Film, im Sinne seiner historisch-institutionellen Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Assenka Oksiloff untersucht vielmehr die Beziehung zwischen Anthropologie und Film im frühen deutschen Kino, die, so Oksiloff, durch ein wesentliches Merkmal gekennzeichnet ist: Beide, deutsche Anthropologie und Filmtheorie, basierten auf der Annahme, dass das modernste Medium seiner Zeit auf das Engste mit den "ursprünglichsten Formen" verbunden war. (S. 8) 1 Nach Oksiloff kennzeichnen anthropologische Diskurse über "primitive Kulturen" nicht nur die frühe ethnographische Beobachtung, sondern auch die frühe deutschsprachige Filmtheorie. Die filmische Darstellung des "primitive body" war weder in der Filmgeschichte noch in der Geschichte der ethnographischen Beobachtung zufällig, sondern diente der gegenseitigen Legitimation des filmischen und des ethnographischen Blicks.

"In its desire to capture the "authentic" in human existence, supposedly encapsulated in filmed Bushmen and aborigines, ethnographic filming as well as theories of film desired to preserve a real, observable, and tangible object of observation in a supposedly stable viewing economy." (S. 10)

Oksiloffs Begriff des "primitive" steht somit für zwei Ansätze der Beobachtung. Bezeichnet es in der Ethnographie die objektive Beobachtung des "primitiven" Ursprungs der menschlichen Spezies, kennzeichnet es in der Filmtheorie die Möglichkeit einer direkten und unmittelbaren Realitätserfahrung, die in einer modernen und technologisierten Kultur nicht mehr gegeben ist. 2

Die filmische Darstellung
des "Primitiven"

Im ersten Teil ihrer Arbeit, "Filming the Primitive", untersucht Oksiloff die Beziehung zwischen filmischer und ethnographischer Beobachtung sowie verschiedene Aspekte des frühen ethnographischen Films. Zu diesem Zweck betrachtet Oksiloff das frühe Kino im anthropologischen Sinne als ein "primitive cinema".

Kennzeichnend für die Beziehung zwischen "primitive cinema" und Ethnographie ist die Darstellung des "primitive body", sowohl als wissenschaftliches Studienobjekt als auch als visuelles Spektakel. Die ersten Filmaufnahmen, z. B. nichtfiktionale Ansichten aus fernen exotischen Ländern und deren Menschen, besaßen demnach schon eine ethnographische Qualität, womit der dokumentarische Aspekt im frühen Kino die ethnographische Filmfeldforschung bereits vorwegnahm. In der ethnographischen Feldforschung und im Film wurde schließlich die filmische Darstellung zum gleichwertigen Ersatz für eine reale Erfahrung:

"In the fetishization of the substitute, primitive cinema and the ethnographic body meet. In fact, ethnographic film can be approached as the concrete expression of the principles of primitive cinema par excellence. The filmed body is understood as a stand-in for a real culture and primitive cinema is based upon the principle of substitution." (S. 28)

In den darauffolgenden Kapiteln nähert sich Oksiloff dem ethnographischen Film und seiner Entwicklung während der deutschen Kolonialzeit. Am Beispiel von Buschmann spricht in den Phonographen (1908) des österreichischen Anthropologen Rudolf Pöch zeigt sie, wie der Film nicht nur zur wissenschaftlichen Abbildung des "primitiven" Körpers genutzt wurde, sondern auch in der Darstellung durch den Film in seiner "Primitivität" fixiert wurde. Buschmann spricht in den Phonographen visualisiert das Zusammentreffen der zwei Enden der Evolution: die "primitivste" trifft auf die "fortschrittlichste" Kultur.

Filme aus den Kolonien standardisierten und ästhetisierten die Darstellung des evolutionären Unterschiedes zwischen "primitiven" und "modernen" Völkern, wie
z. B. in Hans Schomburgks Filmen zu sehen ist. Zur Zeit des Kolonialrevisionismus etablierte Schomburgk in populärer Weise die Filmkamera als Instrument der Entdeckung und der Archivierung sterbender Ethnien. Mit dem Verlust der Kolonien bekam die Darstellung und die Suche nach dem "Primitiven" eine weitere Facette – als "stand-in" für das "verlorengegangene Paradies", zu dem nur noch die Kamera Zutritt verschaffen konnte.

Deutsche Anthropologie
und frühe Filmtheorie

Im zweiten Teil ihres Buches, "German Anthropology and Early Film Theory", steht die Beziehung zwischen anthropologischen Diskursen und früher Filmtheorie im Vordergrund. Den Übergang von Ethnographie zur Filmtheorie beginnt Oksiloff mit ihrer Diskussion von Leo Frobenius' kaum beachteter Abhandlung zur "kinematographischen Karte", in der sich auf interessante Weise ethnographische Praxis mit "Filmtheorie" verbindet. 3 Für Frobenius bedeutete "Kinematographie" nicht die tatsächliche Umsetzung von Kartographie in Film, sondern zeitliche Veränderungen (kine-Bewegung) von Kulturen mit Hilfe der Kartographie zu erfassen und eine Allbezüglichkeit zwischen den abgebildeten Objekten zu erreichen.

In den darauffolgenden Kapiteln wendet Oksiloff den anthropologischen Blick auf frühe filmtheoretische Texte von Georg Lukács' Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos (1913), Hugo von Hofmannsthal sowie Béla Balázs' Der sichtbare Mensch (1924).

Am Beispiel von Edisons Uncle Josh at the Moving Picture Show (1902), in dem ein "Landei" nicht zwischen Realität und Film zu unterscheiden weiß, diskutiert Oksiloff zuerst die Frage des "primitiven Zuschauers". Uncle Josh thematisiert nicht nur den naiven Zuschauer, sondern parodiert zugleich den unzivilisierten "primitiven" Menschen, der in seiner ungezügelten kindlichen Energie auf das neue Medium reagiert. Die Regression auf ein frühkindliches Stadium kennzeichnet nach Oksiloff auch Lukács' Text, in dem der Film das "naiv-animalische Glücksgefühl des Kindes" zum Ausdruck bringt. 4 Im Gegensatz zu Lukács' phylogenetischen Aspekt und die Rückkehr in ein infantiles Stadium ist bei Hofmannsthal der Film ein Ersatz für die in der Massengesellschaft verlorengegangene Fähigkeit des Phantasierens und Träumens.

Die ausführlichste Analyse der Beziehung zwischen Anthropologie und Filmtheorie unternimmt Oksiloff in ihrem Kapitel über Béla Balázs' Der sichtbare Mensch. Nach Oksiloff basiert Balázs' Theorie der Filmsprache auf einem "anthropologisch orientierten Mythos vom Ursprung menschlicher Wahrnehmung", in der der visuelle Ausdruck die Kommunikation dominierte (S. 141). Damit sieht Oksiloff Balázs' systematische Analyse der Ausdrucksbewegung im filmischen Schauspiel in unmittelbarer Nähe zu Lévy-Bruhls Das Denken der Naturvölker (dt. Übersetzung, 1921) und Fritz Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901 / 02). In der gleichen Weise, wie nach Lévy-Bruhl, die Sprache primitiver Völker an Bilder gekoppelt ist und innerhalb visueller Felder operiert, versucht auch Balázs mit Hilfe der Wahrnehmung, den Film als Sprache zu beschreiben:

"The seemingly quite different studies by Balázs and Lévy-Bruhl are similar not only in the tales of development they relate, but also in their specific conception of a primal, visually based mode of perception and language." (S. 147)

Wenn auch mit Einschränkung, sieht Oksiloff Mauthners linguistische Theorien in Übereinstimmung mit Balázs' Filmtheorie, indem es beiden um eine Wiederbelebung der "original powers of human expressivity" geht (S. 148). Bei Mauthner im Sinne einer gründlichen Kritik der Sprache, bei Balázs im Vertrauen auf die visuellen Formen des Ausdrucks.

Mit "Documenting Primitive Cinema", einer Filmanalyse von Friedrich Wilhelm Murnaus Tabu, beschließt Oksiloff ihre Untersuchung. Murnaus Südsee-Film ist für Oksiloff ein "paradoxes" Beispiel für die Errettung des "Primitiven" im Film. Die Geschichte von dem Verlust eines Paradieses ist zugleich der Verlust des reinen Ausdrucks ("pure visual expressivity"). Die Darstellung des "primitive" gelingt nur noch unter der Bedingung, dass sich der Film seine "primitive vision" bewahrt, die jedoch mit dem Übergang zum Tonfilm immer mehr von experimentellen, modernen und "fremden" filmästhetischen Elementen dominiert wird.

Leidige Quellenarbeit

Oksiloffs Interesse gilt offensichtlich mehr der Theorie als der Geschichte. Mangelhafte Quellenarbeit, Zusammenfassung gängiger Sekundärliteratur und die Nachlässigkeit des Lektorats machen den ersten Teil aus filmhistorischer Sicht zu einer Enttäuschung.

Da Oksiloff explizit die deutsche Kolonialzeit behandelt, ist es arg peinlich, wenn Mosambik als ehemalige deutsche Kolonie bezeichnet wird (richtig wäre: Tansania, Ruanda und Burundi) (S. 5). Rudolf Pöchs Neu Guinea Material soll bereits 1903 entstanden sein, obwohl er erst zwischen 1904 und 1906 Neu Guinea bereiste (S. 52), und Edisons Uncle Josh at the Moving Picture Show (1902) wechselt im Verlauf des Buches sein Produktionsjahr.

Die Nachlässigkeit im Umgang mit Primärquellen zeigt sich bei der Diskussion von Hans Schomburgk. Mit Verweis auf seine Autobiographie datiert Oksiloff Schomburgks erste Filmversuche auf das Jahr 1908 (S. 79.). Schlägt man jedoch bei Schomburgk nach, liest sich dies "etwas" anders. Nicht er selbst unternahm 1908 seine ersten Filmversuche, sondern wurde zu diesem Zeitpunkt lediglich gefilmt. Erst 1913 drehte er seine ersten Filme. Eine gründliche Durchsicht der Fachpresse scheint ebenfalls nicht erfolgt zu sein, sonst wäre Assenka Oksiloff sicherlich nicht entgangen, daß der von ihr eingehend besprochene Film Staatssekretär Solf besucht die deutsche Kolonie Togo nicht unbekannter Herkunft ist, sondern von keinem geringeren als Hans Schomburgk selbst gedreht wurde.

Mangel an
geschichtlicher Aufarbeitung

Obwohl Oksiloff betont, daß die verschiedenen Kapitel ihrer Arbeit weniger als eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte des deutschen ethnographischen Films gedacht, sondern als eine Serie von "case studies" angelegt sind, ist es der Mangel an gesicherten Erkenntnissen über diese Geschichte, der sich immer wieder bemerkbar macht.

Sie kann zwar den Weg der deutschen Völkerkunde bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gut nachzeichnen, doch bleibt eine Beschreibung über den Beginn und die Entwicklung der ethnographischen Filmfeldforschung sehr vage. Hier liegt wahrscheinlich auch der Grund, warum Oksiloff den österreichischen Anthropologen Rudolf Pöch zum Kronzeugen ihrer These macht, während deutsche "Film-Ethnographen" kaum Beachtung finden.

Dies wirkt umso kurioser, da ethnographische Aufnahmen von deutschen Wissenschaftlern zu den "best documented and preserved" gehören, wie Oksiloff selbst bemerkt. Der Leser erfährt jedoch kaum etwas über diese Filme und ihre Macher.

Das etwas mehr Neugier für die Geschichte, möglicherweise, interessante neue Verbindungen offengelegt hätte, zeigt Oksiloffs wichtiges und interessantes Kapitel über Leo Frobenius' "kinematographische Karte". Zu gerne hätte man jedoch erfahren, wie oder warum Frobenius gerade die "Kinematographie" als Metapher für den Idealtypus einer kulturgeschichtlichen Karte wählte. Abgesehen davon, dass Oksiloff Frobenius' Filme nur am Rande erwähnt, ist ihr entgangen, dass er einer der eifrigsten Sammler des Leipziger Völkerkundemuseums war. Dessen Direktor, Karl Weule, war selbst ein begeisterter Anhänger des Film und ließ keine Gelegenheit aus, Ethnographen, u. a. Frobenius, auf ihren Expeditionen mit Filmkameras auszustatten. Ist hier vielleicht der Beginn der "deutschen Tradition" in der ethnographischen (Film)-Feldforschung zu suchen, den Oksiloff wiederholt betont?

Da es Oksiloff anscheinend darum geht, eine besondere Beziehung zwischen Anthropologie und Film im frühen deutschen Kino herauszuarbeiten, ist ihr Übertitel für den zweiten Teil, "German Anthropology and Early Film Theory", irreführend. Außer im Eingangskapitel über Frobenius wird in keinem weiteren Kapitel auf die deutsche Anthropologie eingegangen. Ein direkter Zusammenhang zwischen deutschsprachiger Filmtheorie und deutscher Anthropologie scheint demnach nicht zu bestehen, oder welchen Einfluß hatte der französische Anthropologe Lévy-Bruhl auf die Theoriebildung der deutschen Anthropologie? Waren englisch- und französischsprachige Filmtheorie weniger "anthropologisch"?

Nichtsdestoweniger versteht es Oksiloff, die von ihr ausgewählten Texte durch die "anthropologische Brille" zu lesen und Verbindungen zwischen Filmtheorie und Anthropologie herzustellen. Inwieweit dies als Beleg ausreicht, dass die deutschsprachige Filmtheorie auf anthropologischen Ansätzen basierte, bleibt angesichts ihres unterschiedlichen Verständnisses des "primitive" in der Anthropologie und Filmtheorie problematisch.

Fazit

In Anbetracht der wenigen Untersuchungen zum frühen deutschen ethnographischen Film wird Picturing the Primitive sicherlich seinen Leserkreis finden. Aus filmhistorischer Sicht ist Assenka Oksiloffs Untersuchung jedoch eher enttäuschend. Bleibt zu hoffen, dass weitere Forschungen auf diesem Gebiet erfolgen.

Die dürftige Bebilderung von nur sechs Seiten – alle im ersten Teil und nicht einmal für die Filmanalyse berücksichtigt – und eine "Filmographie", die sich in der Bibliographie befindet, wobei noch nicht einmal jeder Film aufgenommen wurde, der auch in der Arbeit erwähnt wird, trägt nicht unbedingt dazu bei, Picturing the Primitive als sorgfältig editiertes Filmbuch weiter zu empfehlen. 5


Dr. Wolfgang Fuhrmann
Kölnische Straße 95 a
D-34119 Kassel

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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Uli Jung. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber


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Anmerkungen

1 Die folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe.   zurück

2 Oksiloff bezieht sich hier explizit auf Jonathan Crarys Techniques of the Observer: On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge, MIT Press, 1991.   zurück

3 Leo Frobenius: Atlas Africanus. Belege zur Morphologie der afrikanischen Kulturen. 8 Teile in einer Ausgabe. München: C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung 1922–31. Siehe auch: Leo Frobenuius: Karten als Sinnbilder der Kulturbewegung: Einführung in den Atlas Africanus und in das Verständnis der Kinematographischen Karte. Sonderdruck aus dem Atlas Africanus. München: C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, 1922.   zurück

4 Georg Lukács: Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos. In: Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte: Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1978, S. 112–118.    zurück

5 Es handelt sich hierbei um den Film Fortschritte der Zivilisation in Deutsch-Ostafrika. Erste Fachschule in Tanga (Pathé fréres, 1911), den Oksiloff im zweiten Teil ihrer Arbeit bespricht (S. 75). Ein Kopie des Films befindet sich im Archiv der Stiftung Deutsche Kinemathek in Berlin.    zurück