Fulda über Stockinger: Das dramatische Werk de la Motte Fouqués

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Daniel Fulda

Epigone und Paradigma

  • Claudia Stockinger: Das dramatische Werk Friedrich de la Motte Fouqués. Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas. (Studien zur deutschen Literatur 158) Tübingen: Niemeyer 2000. 372 S. Kart. DM 120,00.
    ISBN 3-4841-8158-3.


Monographien zum vernachlässigten Ouvre eines Dichters zweiten Ranges sind verdienstvoll – und desto ertragreicher, je weniger sich der Forscher seinen Horizont von den untersuchten Texten begrenzen läßt. Einen ebenso weiten wie scharfen Blick beweist Claudia Stockinger in ihrer Karlsruher, bei Uwe Japp entstandenen Dissertation über das dramatische Werk Friedrich de la Motte Fouqués (1777-1843). Sie stellt für ihren Autor keine aperspektivischen Rehabilitationsansprüche, sondern analysiert dessen Texte sorgfältig, kenntnisreich und allermeist urteilssicher im ästhetischen und gattungsgeschichtlichen Kontext. Der Untertitel "Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas" wird auf diese Weise vollauf gerechtfertigt, ja man möchte ihm, unbeschadet einzelner Einwände, ein >gewichtig< hinzufügen.

Mit über siebzig überlieferten Dramen und dialogischen Szenen zählt Fouqué zu den produktivsten Autoren der Romantik. Diese Textmenge analytisch in den Griff zu bekommen, bedarf es sowohl einer ausgewogenen Mischung von Typologisierung und Fallanalysen als auch einer signifikanten Gliederung. Beides gelingt Claudia Stockinger vortrefflich. Die Einleitung (vgl. S. 1-24) markiert den hohen Anspruch der Untersuchung, anhand der Fouquéschen Dramen "eine paradigmatische Zusammenschau der poetischen und poetologischen Möglichkeiten der Romantik" (S. 1) vorzunehmen. Diesem Vorhaben komme gerade die Epigonalität, die Fouqué schon früh attestiert wurde, zugute, denn sie sei im Sinne des Autors kein Manko, sondern als planmäßige Auseinandersetzung mit literarischen Vorlagen zu verstehen (vgl. S. 14, 280).

Signifikante Gliederung

Das erste Textanalyse-Kapitel (vgl. S. 25-77) behandelt das bis 1808, unter der Ägide August Wilhelm Schlegels entstandene Frühwerk. Noch unter dem Pseudonym "Pellegrin" veröffentlicht, zeige es auch ästhetische Eigenart, indem es ein ">totales Spiel<" inszeniere (S. 29). Gemeint ist nicht nur das virtuose Spiel mit den unterschiedlichsten Versformen, sondern auch das Spiel mit Vorlagen, die Darstellung der Welt als (theatralisches) Spiel und überhaupt die Auffassung von Dichtung. Die Option für das Spiel leitet Stockinger aus der Kunstauffassung Schillers und der Frühromantiker sowie aus der literarischen Tradition (vor allem Calderóns) und ihrer Aneignung durch Fouqué ab, erläutert sie als Kern von dessen damaliger Poetik und demonstriert sie in konzisen Dramenanalysen. Diese Verbindung von – vor allem poetologischer und gattungsgeschichtlicher – Kontextualisierung mit Textanalysen, die der ">Literarizität der Literatur<" (S. 3) gerecht werden, zeichnet die gesamte Untersuchung aus.

Unter seinem eigenen Namen beginne Fouqué zu schreiben, als er dem drohenden "Sinnverlust des Form-Spiels" durch Unterstellung seiner Dramatik unter nationalpolitische Zwecke zu begegnen versuche (S. 77). Strukturell knüpfe das Hauptwerk durchaus an die frühen Dramen an; das selbstgenügsame Spiel weiche jetzt jedoch der Aufgabe, nationale Geschichtsmythen gegen die napoleonische Fremdherrschaft zu stiften.

Die Analyse des Hauptwerks erfolgt in vier Kapiteln, die sich nach unterschiedlichen Stoff- bzw. Themenbereichen gliedern: Mythos, Geschichte, Religion und Schiller-Rezeption.

  • Unter den Mythos rechnet Fouqués erfolgreichstes Drama, die Nibelungen-Trilogie Der Held des Nordens (1808/10). Seiner nationalen Zwecke halber bediente sich Fouqué aus dem germanischen >Mythos<; was nun politisch aktualisiert wird, habe, wie Stockinger mit Bezug auf A.W. Schlegel plausibel macht, seine Wurzeln aber im frühromantischen Programm einer >Neuen Mythologie< (vgl. S. 78-100).

  • Das Geschichts-Kapitel (vgl. S. 101-227, also das bei weitem umfangreichste) unterscheidet "vaterländische Schauspiele" und "historische Dramen". Der erstgenannte Typ propagiere einen auf den fürstlichen Partikularstaat (hier: Brandenburg-Preußen) gerichteten Patriotismus, der zweite nehme eine stärker geschichtsphilosophische Perspektive ein oder gebe "anthropologische Fallstudien" (S. 163) und trete nach 1815 in den Vordergrund. Beide Typen präsentierten keine Heroengeschichte; sie zeigten vielmehr, wie die "Geschichte das Einzelne überrollt", seien Studien des Scheiterns (S. 198). Anders als später bei Grabbe oder Büchner laufe dies jedoch nicht auf Geschichtskritik oder -pessimismus hinaus, denn

  • die Frage nach der Handlungs- und Schuldfähigkeit des einzelnen in der Geschichte ist im beständigen Rekurs auf die göttliche Fügung allen Weltgeschehens von vornherein beantwortet, weil die heilsgeschichtliche Perspektivierung den individuellen Spielraum radikal einschränkt oder, positiv formuliert, das Einzelne im (sinnhaften) Allgemeinen aufhebt. (S. 201)
  • Noch deutlicher tritt der christliche Deutungsrahmen in den Dramen hervor, die in einem mehr oder weniger legendenhaften Mittelalter spielen (vgl. S. 228-249). Stockinger stellt es als typisch für "das romantische Gattungssystem" heraus, daß Fouqués christlich fundierte Dramatik trotz Schuld und Tod keine katastrophischen Ausgänge kennt, so daß die "Tragödie im herkömmlichen Sinne [...] keinen Platz mehr" habe (S. 229). 1

  • Das letzte Kapitel mit ausführlichen Textanalysen ist Fouqués dramatischer "Todtenfeier" für Schiller (1806), seiner "Don Carlos"-Bearbeitung (1823) sowie seiner >Ergänzung< zu "Wallensteins Lager", "Der Pappenheimer Kürassier" (1842), gewidmet (vgl. S. 250-309). Auf die dramaturgischen Charakteristika, die sich im Vergleich der beiden Autoren besonders deutlich zeigen, ist noch einzugehen. Aber auch für Fouqués Geschichtsbegriff ist zumal "Der Pappenheimer Kürassier" aufschlußreich: Anders als Schiller zeichne Fouqué "ein Bild des Dreißigjährigen Krieges aus der Sicht des >Fußvolks<" (S. 307) – und er hat dabei keine Bedenken, Max Piccolomini als historische Figur auftreten zu lassen.

Lassen sich demnach, im Denken und Dichten Fouqués, Poesie und Geschichte gar nicht trennen?

Alles ist Geschichte

Ginge man vom weiten Geschichtsverständnis Fouqués aus, so wären alle seine Dramen unter die Rubrik >Geschichte< zu rechnen, seine Mythendramen und Bearbeitungen von Märchen, Sagen und Legenden ebenso wie der stoffliche Anschluß an die erfundenen Teile von Schillers Geschichtsdrama (vgl. S. 80, 112, 161). Stockingers Gliederung zieht demnach eine Unterscheidung wieder ein, die Fouqué und andere Romantiker aufzuheben suchten. Eben diese Abweichung von den Intentionen des untersuchten Autors ist aber ganz recht am Platz, um deutlich zu machen, daß die um und nach 1800 erstrebte Einheit von Mythos, Geschichte, Religion und Poesie eine schon vollzogene Ausdifferenzierung jener Bereiche zur Voraussetzung hatte. Auf die von Stockinger restituierte Unterscheidung zu verzichten hätte dagegen die kontrafaktische Qualität des romantischen Syntheseprojekts verdunkelt.

Der am Ende des 18. Jahrhunderts gewonnene >moderne< Geschichtsbegriff, der alle partikularen >Geschichten< integriert, stellt alles als geschichtlich bedingt dar. Das impliziert jedoch nicht, daß alles in dem Sinne Geschichte sei, daß die Denk- und Wissensform >Geschichte< mit anderen wie dem Mythos, der Poesie oder der Religion zusammenfiele. Letzteres ist, wie bei Stockinger noch etwas deutlicher werden könnte, ein spezifisch romantisches Projekt, das etwa Schiller, dessen >klassische< Dramaturgie zu Recht der romantischen angenähert wird (vgl. S. 253, 256), noch nicht verfolgte. Geschichte in romantischer Absicht zu entgrenzen hatte wiederum Folgen für die ihr zugeschriebene Struktur. Den modernen Geschichtsbegriff zeichnet aus, daß chronologische Differenzen als qualitative gedeutet werden und die Beziehung zwischen Früher und Später als Entwicklung verstanden wird. In Fouqués Dramen vermag sich, wie Stockinger feststellt, diese Historisierung gegen die übergeschichtlich gültigen Deutungsmaßstäbe der christlichen Religion nicht durchzusetzen. Die heilsgeschichtliche Perspektive negiere

jegliche temporale Organisation von Geschichte [...]. Demzufolge ist Geschichte der Zusammenschluß gleichrangiger exempla zu synchronen Ereignisketten, an denen sich die christliche Heilserwartung immanent bestätigt. (S. 120)

Poesie oder Religion?

Alles als Geschichte zu begreifen hat demnach ihre Abwertung zur Folge, denn sie wird als spezifische Form aufgelöst und dient lediglich als umfassendes Stoffreservoir. Stellt sich als nächstes die Frage, wo sich diese Universalisierung und zugleich Abwertung der Geschichte herleitet. Stockinger gibt in diesem Punkt, der das Zentrum von Fouqués Poetologie berührt, eine Reihe von Hinweisen, aber keine zusammenfassende Antwort. Offen bleibt, wie der religiöse Impuls zur Enthistorisierung zu jenem Poesie-Absolutismus steht, den Fouqué (wie modifiziert?) von den Frühromantikern übernehme (vgl. S. 19).

  • Ist es, wie bei A. W. Schlegel, primär die Poesie, in deren Zeichen "Sage, Mythos und Geschichte miteinander" verschmelzen (S. 84)? Jedenfalls tendiert, so Stockinger, auch das literarische Spiel mit den Formmustern der Tradition dazu, prägnant geschichtliche Differenz in der Gleichzeitigkeit ästhetischer Präsenz aufzuheben (vgl. S. 329).

  • Oder wird eine solche Poesie erst in christlicher Perspektive "zu einem Medium umfassender Weltdeutung" (S. 248)? Die Poesie wäre dann nicht aus sich heraus, sondern wegen ihrer religiös funktionalisierten Darstellungsleistung privilegiert: weil allein sie "einen Vorgeschmack auf die transzendente Befreiung von Zeit und Raum zu vermitteln vermag" (S. 227).

Als Argument für eine Antwort der zweiten Art führt Stockinger auch Fouqués "theosophisch inspirierte Liebesethik" an (S. 226). Daran gemessen, daß es hier um das weltanschauliche Zentrum seiner Dramatik geht, wird Fouqués religiöse, allerdings erst spät niedergelegte "Liebes-Lehre" (1837) ebenso wie seine Theologie jedoch sehr knapp behandelt. Auf eine grundsätzliche Diskussion religiöser Momente in der romantischen Kunstauffassung, die Fouqués frühromantische Mentoren auch in diesem Punkt mit einbezöge, läßt die Autorin sich nicht ein. Vorausgesetzt scheint hier die geläufige Unterscheidung von Früh- und späterer Romantik unter dem Aspekt des wiedergewonnenen oder auch nur stärker nach außen gekehrten Glaubens, doch wird sie nicht auf dem generellen hohen Niveau des Buches entwickelt.

Indem Stockinger mit Fouqués Schiller-Rezeption schließt, neigt sich die Waage letztlich jedoch zur Poesie. Im "Wallenstein" "schreibt die poetische Darstellung Geschichte" (S. 308), und Fouqué approbiere diesen Ursprung der Geschichte aus der Poesie, wenn seine historischen Dramen sich an literarischen Quellen abarbeiten (vgl. S. 275). Wieder ist es die frühromantische Ästhetik, an die er anknüpft:

[Friedrich] Schlegels Konzept der "unendlichen Verdopplung" übersetzt Fouqué in die Vorstellung einer chronologischen Reihung von Texten, die an der Geschichte des menschlichen Geschlechts schreiben und das dafür notwendige Personal, die Motivik und den Handlungszusammenhang den vorausgehenden Texten entnehmen. (S. 308f.)

Schnittstellen zur Forschung:
Erschriebene Tradition

Zwar beiläufig, aber wiederholt kennzeichnet Stockinger die daraus entstandene Dramatik als ein Bemühen um die "Tradition" (S. 59, 308; vgl. S. 79, 235, 249). Das Stichwort weist auf weitreichende Koinzidenzen mit Cornelia Blasbergs Studie "Erschriebene Tradition", die das problematische, da keineswegs selbstgewisse Traditionsstreben nach dem aufklärerischen Traditionsbruch grundsätzlich aufarbeitet. 2 Mit Adalbert Stifter hat Blasberg einen Referenzautor, dessen literarische Produktion erst einsetzte, als diejenige Fouqués versiegte. Der Unterschied nach Zeit und Gattung berührt jedoch nicht den bei beiden Autoren zu machenden Befund, daß der poetische actus tradendi ursprünglicher ist als die zu bewahrende oder zu aktualisierende Tradition bzw. Geschichte. Ähnlich ist auch die Hinwendung zur Literaturgeschichte als >historischer< Quelle, wie sich sowohl für Fouqués Schiller-Rezeption als auch anhand des Witiko 3 zeigen läßt. Blasberg bietet darüber hinaus eine Begründung für diesen Primat des Poetischen an: Er gründe darin, daß im >modernen< 19. Jahrhundert erst herzustellen war, was als von dauerhaftem Wert ausgegeben werden sollte; daher kam nun alles auf die – performativ zu verstehende – Darstellung an. 4

Auf weiträumige bewußtseins- oder diskursgeschichtliche Einordnungen dieser Art, die immer etwas Geschichtsphilosophisches haben (so geht Blasberg von Adorno aus), 5 verzichtet Claudia Stockinger. Ganz ohne Bezug auf die geschichtlichen Bedingungen der Fouquéschen Geburt der Geschichte aus einer (wie immer christlich fundierten) Poesie bleibt jedoch auch ihr Buch nicht, wenn sie auf den unter der napoleonischen Herrschaft entstandenen Bedarf nach nationaler Bewußtseinsbildung verweist (vgl. S. 79, 327 u.ö.). Da sie ihre Studie auf die Poetologie der Fouquéschen Dramatik konzentriert, verfolgt sie diesen Aspekt (wie überhaupt alles Bewußtseins- und Sozialgeschichtliche) berechtigterweise nicht aus eigener Kraft weiter.

Nahegelegen hätte es jedoch, auf das teilweise mit denselben Texten beschäftigte Buch von Wolfgang Struck zu rekurrieren, das seinen Aufriß des historischen Dramas der ersten Hälte des 19. Jahrhunderts vorwiegend unter eben dem Aspekt der nationalpolitischen Mentalität vornimmt. 6 Strucks Untersuchung ist 1997 erschienen, methodisch ganz anders angelegt, jedoch ebenfalls von Gewicht und bildet eine außergewöhnlich glückliche Ergänzung; daß Stockinger sie nur in marginaler Hinsicht heranzieht (vgl. S. 159), kommt einer gezielten Mißachtung gleich. Ihre Studie an die genannten Forschungskontexte anzuschließen bleibt dem Leser überlassen.

Die Struktur des romantischen Dramas
und die Oper

Daß Stockingers Hauptinteresse auf der Gattungspoetik des romantischen Dramas liegt, 7 unterstreicht noch einmal das Schlußkapitel Gesamtkunstwerk (S. 310-329). Scharfsichtige Beobachtungen zur dramatischen Handlungsführung und Weltkonstruktion, eine souveräne Kenntnis der verschiedenen Typen nicht nur des romantischen Dramas sowie ein weiter gattungsgeschichtlicher Horizont zeichnen das ganze Buch aus – und werden in einem Vergleich mit der Oper nun zusammengeführt.

Die Oper erweist sich dabei als in erstaunlich hohem Maße adäquates Modell zur Integration der dramenästhetischen Befunde. Die von Stockinger reklamierte Paradigmenqualität für das romantische Drama gewinnt Fouqués Ouvre im Grunde erst durch diese Operation, denn die epochentypischen Gattungen sind in ihm keineswegs vollständig vertreten, und mit der Literaturkomödie fehlt ihm auch der reflexive Grundzug, der die romantische Dramatik kennzeichnet (vgl. S. 28, 36).

Insbesondere die "mit der Auflösung des normativen Gattungssystems nach 1800 entstehende Grand Opéra" spiegele die "auf Totalität angelegte panoramatische Kontrastdramaturgie" Fouqués (S. 311). Auf die musikdramatische Überschreitung des gesprochenen Wortes arbeiteten bereits die im Frühwerk entwickelten metrischen "Versuche, Sprache in Musik zu verwandeln", hin (S. 317):

Der Konnex von Dialogischem und Musikalischem in lyrisch-dramatischen oder lyrisch-epischen Handlungselementen [...] bleibt für die Textstruktur nicht ohne Folgen: [...] Die relative Unverbundenheit der Teile setzt die Zeit als ordnungsstiftendes Prinzip außer Kraft; das Wechselverhältnis von Verknappung und Dehnung bestimmt, den Gegebenheiten des Librettos vergleichbar, die Textstruktur. Die überlieferten Handlungszusammenhänge werden [...] gekürzt, kausale Verknüpfungen durch die Dramaturgie des Augenblicks ersetzt, die sich der Musik, des Traums und allegorischer Konstellationen bedient, um psychische Vorgänge atmosphärisch präsent zu machen. (S. 323)

Wie die Oper entziehe sich Fouqués Dramatik "einer auf die Finalität des Verlaufs ausgerichteten Systematik"; an die Stelle >klassischer< Tektonik und Geschlossenheit trete "perspektivische Vielfalt; unterschiedliche Stimmen (oder Episoden) lösen einander ab, laufen parallel und überkreuzen sich" (ebd.).

Die Ganzheit, die das romantische Drama inszeniert, ist "nicht mehr klassisch" (S. 317). Wahrnehmungsästhetisch heiße das, daß sich das dramatische "Mosaik" dann "als ein Ganzes erschließt", wenn seine musikalischen Qualitäten ihre "affektive Wirkung" entfalten können (ebd.). Formal realisiere sich das nachklassische Drama in gehäuften Rückgriffen auf vormoderne, insbesondere barocke Dramenelemente und -strukturen: die Figur des stoischen Weisen, die Märtyrertragödie, allegorische Ausdeutungen, den deus ex machina, eine Dramaturgie weniger der Handlungskonsequenz als der Variation und des Kontrastes, das Welttheatermodell sowie den Betrachterstandpunkt außerhalb des chaotischen Geschehens (den es in einer vollständig historisierten Welt nicht mehr geben kann) (vgl. S. 52, 70f., 168, 196, 218f., 230, 323, 325).

Die Oper aber sei die dramatische Gattung, die solche Strukturen über den Traditionsbruch des "aufklärerischen Reform-Theaters Lessingscher Prägung" (S. 327) hinaus bewahrt habe. Das Bedürfnis nach (Re-)Integration, nach >Vereinigung;< ist romantisch-modern (vgl. S. 32), die dazu gewählten Mittel sind jedoch der Tradition entlehnt. Die dramengeschichtliche Perspektive, die Stockinger hier vorschlägt, ist ungewöhnlich, aber durchaus plausibel und könnte über ihr Buch hinaus fruchtbar sein: Die Klassiker von Lessing bis Schiller (der schon zur Oper neigt, vgl. S. 326) finden sich unversehens als Episode wieder, während etwa das Musikdrama Richard Wagners in eine gattungsgeschichtliche Zentralstellung rückt, die ihm die Germanistik gewöhnlich verweigert.

Einer vorher aufgestellten These kommt die Parallelisierung des romantischen Dramas mit der Oper freilich in die Quere: Stockinger bezeichnet Fouqués Dramatik mehrfach als "(früh-)realistisch" (S. 222) oder sogar ">realistisch<" (S. 288; vgl. S. 203, 224), da der Verzicht auf die klassische Tektonik und Konzentration die dramatisch präsentierte Geschichte (im weitesten Sinne) näher an das an sich >chaotische< Leben rücke (vgl. S. 287). Wie bekannt, sind in Deutschland die >realistischen< Literaturprogramme selbst der zweiten Jahrhunderthälfte insofern >idealistisch< tingiert, als sie auf die Darstellung eines idealen >Kerns< in der >Wirklichkeit< zielen. Der Begriff >realistisch< ist also weit; wo die Herrschaft von Ideen über die Wirklichkeit dargestellt werden soll (in diesem Sinne S. 224 über Fouqués Belisar: "die Idee hält das Disparate zusammen"), scheint er mir jedoch unangemessen.

Die Opernnähe von Fouqués Dramaturgie ebenso wie die frühromantisch-poetologischen Wurzeln der diskutierten Enthistorisierung der >Geschichte< lassen vielmehr darauf schließen, daß es primär artistische Impulse waren, die seine Dramatik strukturell von der Schillerschen entfernten. (Vielleicht ist auch ein von Stockinger rücksichtsvoll übergangener Faktor stärker zu gewichten: die Zwänge einer literarischen Massenproduktion.)

Mehr als
"ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas"

Die Poetik der Fouquéschen Dramen und ihre zumeist ästhetischen Voraussetzungen bilden das Zentrum von Stockingers Studie, doch bedeutet dies keine poetologische Selbstgenügsamkeit. Immer mitberücksichtigt ist, welche Welt oder >Geschichte< ein Drama gestaltet. Eine dafür bezeichnende Kapitelüberschrift lautet: "Zertrümmerung. Das Verhältnis von Dramenstruktur und Geschichtsdeutung" (S. 187). Nicht ausdrücklich, aber der Sache bzw. Methode nach schließt das besprochene Buch damit an eine in den letzten Jahren ausgebildete Forschungsrichtung an, die literarische Textstrukturen >kulturwissenschaftlich< interpretiert.

Auf Fouqués (und Stockingers) Themenfeld lauten die typischen Fragen: Welche Textverfahren konstituieren das Denkmuster >Geschichte<? Welche – womöglich literarischen – Muster prägen je unterschiedliche Begriffe von Geschichte? Und auf welche Weise korrelieren die gesellschaftlichen Funktionen literarischer (und wissenschaftlicher) Geschichtsrepräsentationen mit den angewandten Textverfahren? Zu den beiden ersten Fragen hat Claudia Stockingers Buch manches beizutragen. Es löst demnach nicht nur den Anspruch seines Untertitels ein, sondern leistet einiges mehr.


Dr. Daniel Fulda
Universität zu Köln
Institut für deutsche Sprache und Literatur
Albertus-Magnus-Platz
D-50923 Köln
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Ins Netz gestellt am 03.07.2001
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Johannes Endres. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez - Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


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Anmerkungen

1 Ein Zweifel ließe sich an der impliziten Periodisierung des >nicht mehr< anmelden, da sie eine längere Tradition einer Dramatik von >kosmischer Tragik< suggeriert. In Deutschland kann von einer solchen Tragödie ohne transzendenten Trost aber erst seit Kleist die Rede sein.   zurück

2 Vgl. Cornelia Blasberg: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten. (Litterae 48) Freiburg/Br.: Rombach 1998. Claudia Stockinger hat diese Studie leider nicht mehr zur Kenntnis genommen.   zurück

3 Vgl. ebd., S. 269ff.    zurück

4 Vgl. ebd., S. 198.   zurück

5 Vgl. ebd., S. 190f.   zurück

6 Vgl. Wolfgang Struck: Konfigurationen der Vergangenheit. Deutsche Geschichtsdramen im Zeitalter der Restauration. (Studien zur deutschen Literatur 143) Tübingen: Niemeyer 1997. Strucks Studie ist auch für das Traditionsproblem einschlägig: vgl. S. 8, 28, 31, 53f. u.ö. Siehe die Rezension von Norbert Eke: www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/eke.htm   zurück

7 Vgl. auch den von ihr mitherausgegebenen Band: Uwe Japp, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hg.): Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 103) Tübingen: Niemeyer 2000.   zurück