- Claudia Stockinger: Das dramatische Werk Friedrich de la
Motte Fouqués. Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas. (Studien
zur deutschen Literatur 158) Tübingen: Niemeyer 2000. 372 S. Kart. DM
120,00.
ISBN 3-4841-8158-3.
Monographien zum vernachlässigten Ouvre eines Dichters
zweiten Ranges sind verdienstvoll und desto ertragreicher, je weniger
sich
der Forscher seinen Horizont von den untersuchten Texten begrenzen
läßt. Einen ebenso weiten wie scharfen Blick beweist Claudia
Stockinger in ihrer Karlsruher, bei Uwe Japp entstandenen Dissertation
über das dramatische Werk Friedrich de la Motte Fouqués (1777-1843). Sie
stellt für ihren Autor keine aperspektivischen
Rehabilitationsansprüche, sondern analysiert dessen Texte
sorgfältig, kenntnisreich und allermeist urteilssicher im
ästhetischen und gattungsgeschichtlichen Kontext. Der Untertitel
"Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas" wird auf diese
Weise vollauf gerechtfertigt, ja man möchte ihm, unbeschadet einzelner
Einwände, ein >gewichtig< hinzufügen.
Mit über siebzig überlieferten Dramen und
dialogischen Szenen zählt Fouqué zu den produktivsten Autoren der
Romantik. Diese Textmenge analytisch in den Griff zu bekommen, bedarf es
sowohl einer ausgewogenen Mischung von Typologisierung und Fallanalysen als
auch einer signifikanten Gliederung. Beides gelingt Claudia Stockinger
vortrefflich. Die Einleitung (vgl. S. 1-24) markiert den hohen Anspruch der
Untersuchung, anhand der Fouquéschen Dramen "eine paradigmatische
Zusammenschau der poetischen und poetologischen Möglichkeiten der
Romantik" (S. 1) vorzunehmen. Diesem Vorhaben komme gerade die
Epigonalität, die Fouqué schon früh attestiert wurde, zugute, denn
sie sei im Sinne des Autors kein Manko, sondern als planmäßige
Auseinandersetzung mit literarischen Vorlagen zu verstehen (vgl. S. 14, 280).
Signifikante Gliederung
Das erste Textanalyse-Kapitel (vgl. S. 25-77) behandelt das
bis 1808, unter der Ägide August Wilhelm Schlegels entstandene
Frühwerk. Noch unter dem Pseudonym "Pellegrin"
veröffentlicht, zeige es auch ästhetische Eigenart, indem es ein
">totales Spiel<" inszeniere (S. 29). Gemeint ist nicht nur
das
virtuose Spiel mit den unterschiedlichsten Versformen, sondern auch das Spiel
mit Vorlagen, die Darstellung der Welt als (theatralisches) Spiel und
überhaupt die Auffassung von Dichtung. Die Option für das Spiel
leitet Stockinger aus der Kunstauffassung Schillers und der
Frühromantiker sowie aus der literarischen Tradition (vor allem
Calderóns) und ihrer Aneignung durch Fouqué ab, erläutert sie als Kern
von dessen damaliger Poetik und demonstriert sie in konzisen Dramenanalysen.
Diese Verbindung von vor allem poetologischer und
gattungsgeschichtlicher
Kontextualisierung mit Textanalysen, die der ">Literarizität der
Literatur<" (S. 3) gerecht werden, zeichnet die gesamte Untersuchung
aus.
Unter seinem eigenen Namen beginne Fouqué zu schreiben, als
er dem drohenden "Sinnverlust des Form-Spiels" durch Unterstellung
seiner Dramatik unter nationalpolitische Zwecke zu begegnen versuche (S. 77).
Strukturell knüpfe das Hauptwerk durchaus an die frühen Dramen an;
das selbstgenügsame Spiel weiche jetzt jedoch der Aufgabe, nationale
Geschichtsmythen gegen die napoleonische Fremdherrschaft zu stiften.
Die Analyse des Hauptwerks erfolgt in vier Kapiteln, die sich
nach unterschiedlichen Stoff- bzw. Themenbereichen gliedern: Mythos,
Geschichte, Religion und Schiller-Rezeption.
Unter den Mythos rechnet Fouqués erfolgreichstes Drama,
die
Nibelungen-Trilogie Der Held des Nordens (1808/10). Seiner nationalen
Zwecke halber bediente sich Fouqué aus dem germanischen >Mythos<; was
nun
politisch aktualisiert wird, habe, wie Stockinger mit Bezug auf A.W. Schlegel
plausibel macht, seine Wurzeln aber im frühromantischen Programm einer
>Neuen Mythologie< (vgl. S. 78-100).
Das Geschichts-Kapitel (vgl. S. 101-227, also das bei
weitem umfangreichste) unterscheidet "vaterländische
Schauspiele" und "historische Dramen". Der erstgenannte Typ
propagiere einen auf den fürstlichen Partikularstaat (hier:
Brandenburg-Preußen) gerichteten Patriotismus, der zweite nehme eine
stärker geschichtsphilosophische Perspektive ein oder gebe
"anthropologische Fallstudien" (S. 163) und trete nach 1815 in den
Vordergrund. Beide Typen präsentierten keine Heroengeschichte; sie
zeigten vielmehr, wie die "Geschichte das Einzelne überrollt",
seien Studien des Scheiterns (S. 198). Anders als später bei Grabbe oder
Büchner laufe dies jedoch nicht auf Geschichtskritik oder -pessimismus
hinaus, denn
die Frage nach der Handlungs- und
Schuldfähigkeit des einzelnen in der Geschichte ist im beständigen
Rekurs auf die göttliche Fügung allen Weltgeschehens von vornherein
beantwortet, weil die heilsgeschichtliche Perspektivierung den individuellen
Spielraum radikal einschränkt oder, positiv formuliert, das Einzelne im
(sinnhaften) Allgemeinen aufhebt. (S. 201)
Noch deutlicher tritt der christliche Deutungsrahmen in
den
Dramen hervor, die in einem mehr oder weniger legendenhaften Mittelalter
spielen (vgl. S. 228-249). Stockinger stellt es als typisch für
"das romantische Gattungssystem" heraus, daß Fouqués
christlich fundierte Dramatik trotz Schuld und Tod keine katastrophischen
Ausgänge kennt, so daß die "Tragödie im
herkömmlichen Sinne [...] keinen Platz mehr" habe (S. 229). 1
Das letzte Kapitel mit ausführlichen Textanalysen ist
Fouqués dramatischer "Todtenfeier" für Schiller (1806), seiner
"Don Carlos"-Bearbeitung (1823) sowie seiner >Ergänzung<
zu
"Wallensteins Lager", "Der Pappenheimer Kürassier"
(1842), gewidmet (vgl. S. 250-309). Auf die dramaturgischen Charakteristika,
die sich im Vergleich der beiden Autoren besonders deutlich zeigen, ist noch
einzugehen. Aber auch für Fouqués Geschichtsbegriff ist zumal "Der
Pappenheimer Kürassier" aufschlußreich: Anders als Schiller
zeichne Fouqué "ein Bild des Dreißigjährigen Krieges aus der
Sicht des >Fußvolks<" (S. 307) und er hat dabei keine
Bedenken,
Max Piccolomini als historische Figur auftreten zu lassen.
Lassen sich demnach, im Denken und Dichten Fouqués, Poesie
und Geschichte gar nicht trennen?
Alles ist Geschichte
Ginge man vom weiten Geschichtsverständnis Fouqués aus,
so wären alle seine Dramen unter die Rubrik >Geschichte< zu
rechnen,
seine Mythendramen und Bearbeitungen von Märchen, Sagen und Legenden
ebenso wie der stoffliche Anschluß an die erfundenen Teile von
Schillers Geschichtsdrama (vgl. S. 80, 112, 161). Stockingers Gliederung
zieht demnach eine Unterscheidung wieder ein, die Fouqué und andere
Romantiker aufzuheben suchten. Eben diese Abweichung von den Intentionen des
untersuchten Autors ist aber ganz recht am Platz, um deutlich zu machen,
daß die um und nach 1800 erstrebte Einheit von Mythos, Geschichte,
Religion und Poesie eine schon vollzogene Ausdifferenzierung jener Bereiche
zur Voraussetzung hatte. Auf die von Stockinger restituierte Unterscheidung
zu verzichten hätte dagegen die kontrafaktische Qualität des
romantischen Syntheseprojekts verdunkelt.
Der am Ende des 18. Jahrhunderts gewonnene >moderne<
Geschichtsbegriff, der alle partikularen >Geschichten< integriert,
stellt
alles als geschichtlich bedingt dar. Das impliziert jedoch nicht, daß
alles in dem Sinne Geschichte sei, daß die Denk- und Wissensform
>Geschichte< mit anderen wie dem Mythos, der Poesie oder der Religion
zusammenfiele. Letzteres ist, wie bei Stockinger noch etwas deutlicher werden
könnte, ein spezifisch romantisches Projekt, das etwa Schiller, dessen
>klassische< Dramaturgie zu Recht der romantischen angenähert wird
(vgl.
S. 253, 256), noch nicht verfolgte. Geschichte in romantischer Absicht zu
entgrenzen hatte wiederum Folgen für die ihr zugeschriebene Struktur.
Den modernen Geschichtsbegriff zeichnet aus, daß chronologische
Differenzen als qualitative gedeutet werden und die Beziehung zwischen
Früher und Später als Entwicklung verstanden wird. In Fouqués
Dramen vermag sich, wie Stockinger feststellt, diese Historisierung gegen die
übergeschichtlich gültigen Deutungsmaßstäbe der
christlichen Religion nicht durchzusetzen. Die heilsgeschichtliche
Perspektive negiere
jegliche temporale Organisation von Geschichte [...].
Demzufolge ist Geschichte der Zusammenschluß gleichrangiger exempla
zu synchronen Ereignisketten, an denen sich die christliche
Heilserwartung immanent bestätigt. (S. 120)
Poesie oder Religion?
Alles als Geschichte zu begreifen hat demnach ihre Abwertung
zur Folge, denn sie wird als spezifische Form aufgelöst und dient
lediglich als umfassendes Stoffreservoir. Stellt sich als nächstes die
Frage, wo sich diese Universalisierung und zugleich Abwertung der Geschichte
herleitet. Stockinger gibt in diesem Punkt, der das Zentrum von Fouqués
Poetologie berührt, eine Reihe von Hinweisen, aber keine
zusammenfassende Antwort. Offen bleibt, wie der religiöse Impuls zur
Enthistorisierung zu jenem Poesie-Absolutismus steht, den Fouqué (wie
modifiziert?) von den Frühromantikern übernehme (vgl. S. 19).
Ist es, wie bei A. W. Schlegel, primär die Poesie, in
deren Zeichen "Sage, Mythos und Geschichte miteinander"
verschmelzen (S. 84)? Jedenfalls tendiert, so Stockinger, auch das
literarische Spiel mit den Formmustern der Tradition dazu, prägnant
geschichtliche Differenz in der Gleichzeitigkeit ästhetischer
Präsenz aufzuheben (vgl. S. 329).
Oder wird eine solche Poesie erst in christlicher
Perspektive "zu einem Medium umfassender Weltdeutung" (S. 248)? Die
Poesie wäre dann nicht aus sich heraus, sondern wegen ihrer
religiös funktionalisierten Darstellungsleistung privilegiert: weil
allein sie "einen Vorgeschmack auf die transzendente Befreiung von Zeit
und Raum zu vermitteln vermag" (S. 227).
Als Argument für eine Antwort der zweiten Art führt
Stockinger auch Fouqués "theosophisch inspirierte Liebesethik" an
(S. 226). Daran gemessen, daß es hier um das weltanschauliche Zentrum
seiner Dramatik geht, wird Fouqués religiöse, allerdings erst spät
niedergelegte "Liebes-Lehre" (1837) ebenso wie seine Theologie
jedoch sehr knapp behandelt. Auf eine grundsätzliche Diskussion
religiöser Momente in der romantischen Kunstauffassung, die Fouqués
frühromantische Mentoren auch in diesem Punkt mit einbezöge,
läßt die Autorin sich nicht ein. Vorausgesetzt scheint hier die
geläufige Unterscheidung von Früh- und späterer Romantik unter
dem Aspekt des wiedergewonnenen oder auch nur stärker nach außen
gekehrten Glaubens, doch wird sie nicht auf dem generellen hohen Niveau des
Buches entwickelt.
Indem Stockinger mit Fouqués Schiller-Rezeption
schließt, neigt sich die Waage letztlich jedoch zur Poesie. Im
"Wallenstein" "schreibt die poetische Darstellung
Geschichte" (S. 308), und Fouqué approbiere diesen Ursprung der
Geschichte aus der Poesie, wenn seine historischen Dramen sich an
literarischen Quellen abarbeiten (vgl. S. 275). Wieder ist es die
frühromantische Ästhetik, an die er anknüpft:
[Friedrich] Schlegels Konzept der "unendlichen
Verdopplung" übersetzt Fouqué in die Vorstellung einer
chronologischen Reihung von Texten, die an der Geschichte des menschlichen
Geschlechts schreiben und das dafür notwendige Personal, die Motivik und
den Handlungszusammenhang den vorausgehenden Texten entnehmen. (S. 308f.)
Schnittstellen zur Forschung: Erschriebene Tradition
Zwar beiläufig, aber wiederholt kennzeichnet Stockinger
die daraus entstandene Dramatik als ein Bemühen um die
"Tradition" (S. 59, 308; vgl. S. 79, 235, 249). Das
Stichwort weist auf weitreichende Koinzidenzen mit Cornelia Blasbergs
Studie "Erschriebene Tradition", die das problematische, da
keineswegs selbstgewisse Traditionsstreben nach dem aufklärerischen
Traditionsbruch grundsätzlich aufarbeitet. 2
Mit Adalbert Stifter hat Blasberg einen Referenzautor, dessen
literarische Produktion erst einsetzte, als diejenige Fouqués versiegte. Der
Unterschied nach Zeit und Gattung berührt jedoch nicht den bei beiden
Autoren zu machenden Befund, daß der poetische actus tradendi
ursprünglicher ist als die zu bewahrende oder zu aktualisierende
Tradition bzw. Geschichte. Ähnlich ist auch die
Hinwendung zur Literaturgeschichte als >historischer< Quelle, wie sich
sowohl
für Fouqués Schiller-Rezeption als auch anhand des Witiko 3 zeigen läßt. Blasberg bietet
darüber hinaus eine Begründung für diesen Primat des
Poetischen an: Er gründe darin, daß im >modernen< 19. Jahrhundert erst herzustellen war, was als von dauerhaftem
Wert ausgegeben werden sollte; daher kam nun alles auf die performativ
zu
verstehende Darstellung an. 4
Auf weiträumige bewußtseins-
oder diskursgeschichtliche Einordnungen dieser Art, die immer etwas
Geschichtsphilosophisches haben (so geht Blasberg von Adorno aus), 5 verzichtet Claudia Stockinger. Ganz ohne Bezug
auf die geschichtlichen Bedingungen der Fouquéschen Geburt der Geschichte aus
einer (wie immer christlich fundierten) Poesie bleibt jedoch auch ihr Buch
nicht, wenn sie auf den unter der napoleonischen Herrschaft entstandenen
Bedarf nach nationaler Bewußtseinsbildung verweist (vgl. S. 79, 327
u.ö.). Da sie ihre Studie auf die Poetologie der Fouquéschen Dramatik
konzentriert, verfolgt sie diesen Aspekt (wie überhaupt alles
Bewußtseins- und Sozialgeschichtliche) berechtigterweise nicht aus
eigener Kraft weiter.
Nahegelegen hätte es jedoch, auf das teilweise mit
denselben Texten beschäftigte Buch von Wolfgang Struck zu rekurrieren,
das seinen Aufriß des historischen Dramas der ersten Hälte des 19.
Jahrhunderts vorwiegend unter eben dem Aspekt der
nationalpolitischen Mentalität vornimmt. 6
Strucks Untersuchung ist 1997 erschienen, methodisch ganz anders
angelegt, jedoch ebenfalls von Gewicht und bildet eine
außergewöhnlich glückliche Ergänzung; daß
Stockinger sie nur in marginaler Hinsicht heranzieht (vgl. S. 159), kommt
einer gezielten Mißachtung gleich. Ihre Studie an die genannten
Forschungskontexte anzuschließen bleibt dem Leser überlassen.
Die Struktur des romantischen Dramas und die Oper
Daß Stockingers Hauptinteresse auf
der Gattungspoetik des romantischen Dramas liegt,
7 unterstreicht noch einmal das Schlußkapitel Gesamtkunstwerk
(S. 310-329). Scharfsichtige Beobachtungen zur dramatischen
Handlungsführung und Weltkonstruktion, eine souveräne Kenntnis der
verschiedenen Typen nicht nur des romantischen Dramas sowie ein weiter
gattungsgeschichtlicher Horizont zeichnen das ganze Buch aus und
werden in
einem Vergleich mit der Oper nun zusammengeführt.
Die Oper erweist sich dabei als in erstaunlich hohem
Maße adäquates Modell zur Integration der dramenästhetischen
Befunde. Die von Stockinger reklamierte Paradigmenqualität für das
romantische Drama gewinnt Fouqués Ouvre im Grunde erst durch diese Operation,
denn die epochentypischen Gattungen sind in ihm keineswegs vollständig
vertreten, und mit der Literaturkomödie fehlt ihm auch der reflexive
Grundzug, der die romantische Dramatik kennzeichnet (vgl. S. 28, 36).
Insbesondere die "mit der Auflösung des normativen
Gattungssystems nach 1800 entstehende Grand Opéra" spiegele die
"auf Totalität angelegte panoramatische Kontrastdramaturgie"
Fouqués (S. 311). Auf die musikdramatische Überschreitung des
gesprochenen Wortes arbeiteten bereits die im Frühwerk entwickelten
metrischen "Versuche, Sprache in Musik zu verwandeln", hin (S.
317):
Der Konnex von Dialogischem und Musikalischem in
lyrisch-dramatischen oder lyrisch-epischen Handlungselementen [...] bleibt
für die Textstruktur nicht ohne Folgen: [...] Die relative
Unverbundenheit der Teile setzt die Zeit als ordnungsstiftendes Prinzip
außer Kraft; das Wechselverhältnis von Verknappung und Dehnung
bestimmt, den Gegebenheiten des Librettos vergleichbar, die Textstruktur. Die
überlieferten Handlungszusammenhänge werden [...] gekürzt,
kausale Verknüpfungen durch die Dramaturgie des Augenblicks ersetzt, die
sich der Musik, des Traums und allegorischer Konstellationen bedient, um
psychische Vorgänge atmosphärisch präsent zu machen. (S. 323)
Wie die Oper entziehe sich Fouqués Dramatik "einer auf
die Finalität des Verlaufs ausgerichteten Systematik"; an die
Stelle >klassischer< Tektonik und Geschlossenheit trete
"perspektivische
Vielfalt; unterschiedliche Stimmen (oder Episoden) lösen einander ab,
laufen parallel und überkreuzen sich" (ebd.).
Die Ganzheit, die das romantische Drama inszeniert, ist
"nicht mehr klassisch" (S. 317). Wahrnehmungsästhetisch
heiße das, daß sich das dramatische "Mosaik" dann
"als ein Ganzes erschließt", wenn seine musikalischen
Qualitäten ihre "affektive Wirkung" entfalten können
(ebd.). Formal realisiere sich das nachklassische Drama in gehäuften
Rückgriffen auf vormoderne, insbesondere barocke Dramenelemente und
-strukturen: die Figur des stoischen Weisen, die Märtyrertragödie,
allegorische Ausdeutungen, den deus ex machina, eine Dramaturgie
weniger der Handlungskonsequenz als der Variation und des Kontrastes, das
Welttheatermodell sowie den Betrachterstandpunkt außerhalb des
chaotischen Geschehens (den es in einer vollständig historisierten Welt
nicht mehr geben kann) (vgl. S. 52, 70f., 168, 196, 218f., 230, 323, 325).
Die Oper aber sei die dramatische Gattung, die solche
Strukturen über den Traditionsbruch des "aufklärerischen
Reform-Theaters Lessingscher Prägung" (S. 327) hinaus bewahrt habe.
Das Bedürfnis nach (Re-)Integration, nach >Vereinigung;< ist
romantisch-modern (vgl. S. 32), die dazu gewählten Mittel sind jedoch
der Tradition entlehnt. Die dramengeschichtliche Perspektive, die Stockinger
hier vorschlägt, ist ungewöhnlich, aber durchaus plausibel und
könnte über ihr Buch hinaus fruchtbar sein: Die Klassiker von
Lessing bis Schiller (der schon zur Oper neigt, vgl. S. 326) finden sich
unversehens als Episode wieder, während etwa das Musikdrama Richard
Wagners in eine gattungsgeschichtliche Zentralstellung rückt, die ihm
die Germanistik gewöhnlich verweigert.
Einer vorher aufgestellten These kommt die Parallelisierung
des romantischen Dramas mit der Oper freilich in die Quere: Stockinger
bezeichnet Fouqués Dramatik mehrfach als "(früh-)realistisch"
(S. 222) oder sogar ">realistisch<" (S. 288; vgl. S. 203,
224), da
der Verzicht auf die klassische Tektonik und Konzentration die dramatisch
präsentierte Geschichte (im weitesten Sinne) näher an das an sich
>chaotische< Leben rücke (vgl. S. 287). Wie bekannt, sind in
Deutschland
die >realistischen< Literaturprogramme selbst der zweiten
Jahrhunderthälfte insofern >idealistisch< tingiert, als sie auf die
Darstellung eines idealen >Kerns< in der >Wirklichkeit<
zielen. Der
Begriff >realistisch< ist also weit; wo die Herrschaft von Ideen
über
die Wirklichkeit dargestellt werden soll (in diesem Sinne S. 224
über Fouqués Belisar: "die Idee hält das Disparate
zusammen"), scheint er mir jedoch unangemessen.
Die Opernnähe von Fouqués Dramaturgie ebenso wie die
frühromantisch-poetologischen Wurzeln der diskutierten Enthistorisierung
der >Geschichte< lassen vielmehr darauf schließen, daß es
primär artistische Impulse waren, die seine Dramatik strukturell von der
Schillerschen entfernten. (Vielleicht ist auch ein von Stockinger
rücksichtsvoll übergangener Faktor stärker zu gewichten: die
Zwänge einer literarischen Massenproduktion.)
Mehr als "ein Beitrag zur Geschichte des
romantischen
Dramas"
Die Poetik der Fouquéschen Dramen und ihre zumeist
ästhetischen Voraussetzungen bilden das Zentrum von Stockingers Studie,
doch bedeutet dies keine poetologische Selbstgenügsamkeit. Immer
mitberücksichtigt ist, welche Welt oder >Geschichte< ein Drama
gestaltet. Eine dafür bezeichnende Kapitelüberschrift lautet:
"Zertrümmerung. Das Verhältnis von Dramenstruktur und
Geschichtsdeutung" (S. 187). Nicht ausdrücklich, aber der Sache
bzw. Methode nach schließt das besprochene Buch damit an eine in den
letzten Jahren ausgebildete Forschungsrichtung an, die literarische
Textstrukturen >kulturwissenschaftlich< interpretiert.
Auf Fouqués (und Stockingers) Themenfeld lauten die typischen
Fragen: Welche Textverfahren konstituieren das Denkmuster >Geschichte<?
Welche womöglich literarischen Muster prägen je
unterschiedliche Begriffe von Geschichte? Und auf welche Weise korrelieren
die gesellschaftlichen Funktionen literarischer (und wissenschaftlicher)
Geschichtsrepräsentationen mit den angewandten Textverfahren? Zu den
beiden ersten Fragen hat Claudia Stockingers Buch manches beizutragen. Es
löst demnach nicht nur den Anspruch seines Untertitels ein, sondern
leistet einiges mehr.
Dr. Daniel
Fulda
Universität zu Köln
Institut für deutsche Sprache und Literatur
Albertus-Magnus-Platz
D-50923 Köln
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Ins Netz gestellt am 03.07.2001
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Anmerkungen
1 Ein Zweifel ließe sich an der impliziten
Periodisierung des >nicht mehr< anmelden, da sie eine längere
Tradition
einer Dramatik von >kosmischer Tragik< suggeriert. In Deutschland kann
von
einer solchen Tragödie ohne transzendenten Trost aber erst seit Kleist
die Rede sein. zurück
2 Vgl. Cornelia Blasberg:
Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen
verlorener Geschichten. (Litterae 48) Freiburg/Br.: Rombach 1998. Claudia
Stockinger hat diese Studie leider nicht mehr zur Kenntnis genommen.
zurück
3 Vgl. ebd., S. 269ff.
zurück
4 Vgl. ebd., S. 198. zurück
5 Vgl. ebd., S. 190f. zurück
6 Vgl. Wolfgang Struck:
Konfigurationen der Vergangenheit. Deutsche Geschichtsdramen im Zeitalter der
Restauration. (Studien zur deutschen Literatur 143) Tübingen: Niemeyer
1997. Strucks Studie ist auch für das Traditionsproblem
einschlägig: vgl. S. 8, 28, 31, 53f. u.ö.
Siehe die Rezension von Norbert Eke:
www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/eke.htm zurück
7 Vgl. auch den von ihr
mitherausgegebenen Band: Uwe Japp, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hg.):
Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation.
(Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 103) Tübingen:
Niemeyer 2000. zurück
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