- Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine
Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas (Communicatio; 28) Tübingen:
Niemeyer 2001. 402 S.
Kart. € 60,-
ISBN 3-484-63028-0.
Wer in Zeiten eines Pluralismus von Methoden, die
sämtlich die Unmöglichkeit eines privilegierten
Beobachterstandpunkts proklamieren, wissenschaftliche Revisionsansprüche
anmeldet, tut gut daran, sie auch gegen die eigene Theoriebasis zu wenden.
Oder jedenfalls gegen deren bisherige literaturgeschichtliche Anwendung:
Von systemtheoretischer Seite ist der um 1750
durchgreifende take off [des "modernen Literatursystems"]
mitsamt seinen Folgeproblemen – man denke an die Originalitäts- und
Innovationszwänge literarischer Kommunikation, aber auch an ihr
komplementäres >Altern< – umfassend dargestellt worden;
unübersehbar ist allerdings auch, daß die einschlägigen
literaturwissenschaftlichen Applikationen der Systemtheorie in so erheblichem
Maße von der Suggestionskraft des Neuen und Inkommensurablen getragen
werden, daß die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts im
wesentlichen nur als Geschichte eines epochalen, in seiner >Emergenz<
allerdings eigentümlich kontext- und voraussetzungslosen Ereignisses
erzählbar wurde, dessen Prämissen zwar als historisch trennscharf
lokalisierbare, aber evolutionär weitgehend isolierte Fakten in den
Blick gerieten (S. 367, ähnlich S. 3).
Die Kritik, mit der Ingo Stöckmann beginnt, ist demnach
auch und gerade Kritik am eigenen Paradigma: Indem die systemtheoretisch
angeleitete Germanistik bislang erst im 18. Jahrhundert ansetzte, habe sie
die Herausbildung des modernen Literatursystems nicht als
"Evolution" beschreiben können (S. 4) – und überdies die
gesamte >vormoderne< Dichtung links liegengelassen.
Diesem doppelten Manko möchte Stöckmann in seiner
Bochumer Dissertation (Betreuer: Gerhard Plumpe) abhelfen. Dazu rekonstruiert
er zum einen das "literarische Wissen" des 17. und 18. Jahrhunderts
– abzüglich dessen letzten Drittels sowie der philosophischen
Ästhetik seit der Jahrhundertmitte, da diese schon der >Moderne<
zuzuschlagen seien (S. 1) –, wobei er dessen lediglich marginale Varianz
betont. Doch hat Stöckmann, zum anderen, auch ein besonderes Augenmerk
auf Entwicklungsmomente in der prinzipiell statischen Poetik der Vormoderne
bzw. Alteuropas, zumal auf solche, die für den Übergang zur
>modernen< Literatur prägend geworden sein könnten. (Der
Begriff >Alteuropa< ist hier als historischer, nicht als geographischer
zu verstehen; ohne fremdsprachige Quellen ganz zu übergehen,
konzentriert sich Stöckmann auf die deutsche Poetikdiskussion.)
Ähnlich wie Luhmann die "frühneuzeitliche
Anthropologie" als eine "theorietechnische Lösung für ein
Evolutionsproblem der Gesellschaft" analysiert hat, 1 rückt Stöckmann die Poetik in den Mittelpunkt
seiner >theorietechnisch< interessierten Literaturgeschichtsschreibung.
Gesellschaftsstruktur und poetologische Semantik
Der Titel Vor der Literatur meint, daß die
Dichtung des Barocks und der Aufklärung im Grunde noch gar keine
>Literatur< gewesen sei, da sie kein selbstreferentiell abgeschlossenes
System bildete (vgl. S. 1). Sie sei vielmehr "eine Form der
>Kompaktkommunikation< (Luhmann), in der alles was literarisch gesagt
wird, auch unmittelbar religiöse, moralische oder politische Resonanzen
erzeugt." (S. 2, vgl. auch S. 24) Man könnte diese
Multifunktionalität noch radikaler formulieren und fragen, ob mitunter
nicht die religiösen usw. Anliegen primär waren und dann eine
literarische >Resonanz< fanden. Für die vorliegende Untersuchung
ist diese Feinheit allerdings ohne Belang, da sie den >religiösen,
moralischen oder politischen< Funktionen der alteuropäischen
>Literatur< ohnehin nicht weiter nachgeht. Auch als Ordnungsfaktoren
des >literarischen Wissens< werden solche Einflüsse allenfalls en
passant berücksichtigt.
Die "anvisierte Engführung von soziostruktureller
und semantischer Evolution" (S. 3) zielt nicht auf konkrete historische
Kontextbedingungen jener Literatur (wie etwa den Konfessionsgegensatz oder
Aufstieg und Kritik des Absolutismus) und deren womöglich
literaturrelevante Normen. >Soziostrukturell< sieht
Stöckmann die Vormoderne bereits durch die stratifikatorische
Differenzierung aller Sozialbereiche hinreichend gekennzeichnet (vgl. S.
11). Als der alteuropäischen Gesellschaft zugehörig erweise sich
die Literatur des 17. und (frühen und mittleren) 18. Jahrhunderts daher
schon dadurch, daß sie "laufend eine Grundsymbolik mit sich
[führt], die auf das hierarchisierte Ganze verweis[t; korrigiert aus
>verweisen<; D. F.]" (S. 12). Wichtig ist dabei der in Innen- und
Außenbezügen unterschiedliche Umgang mit dem Hierarchieprinzip,
denn "Ungleichkeit" bildete das "teilsystemexterne
Ordnungsprinzip", während die teilsysteminterne Ordnung durch
Gleichheit gekennzeichnet war, so daß "die Kommunikation als
Binnenkommunikation unter Gleichen erleichtert und von Dauerreflexionen
über schichtgemäßes Verhalten und Kommunizieren
entlastet" wurde (S. 13).
Um gleich ein Beispiel aus dem Bereich der Literatur
zu geben: Gattungen, Stoffe, Stile und Figuren ordneten die Poetiken
Alteuropas hierarchisch-ungleich; die Kommunikation zwischen den Beteiligten
des Literatursystems – Autoren, Lesern, Poetologen oder >Kunstrichtern<
– verlief dagegen unter Gleichgestellten, weil alle über dieselbe
Qualifikation, die gelehrte lateinische Bildung, verfügten.
Mit seinem Akzent auf der
stratifikatorischen Strukturierung auch der literarischen Kommunikation
bezieht Stöckmann zugleich Position in der unter systemtheoretisch
arbeitenden Literaturwissenschaftler seit Jahren diskutierten Frage, wie
Literatur und Gesellschaft zu korrelieren seien. 2
Indem er lediglich auf einen Punkt struktureller
Gemeinsamkeit abhebt, wählt er allerdings ein Konzept, das weniger
komplex ist als die von anderen >Systemtheoretikern< wie Claus-Michael
Ort oder Christoph Reinfandt 3
vorgeschlagenen. (Eine Auseinandersetzung mit anderen systemtheoretischen
Ansätzen führt Stöckmann nicht.)
Nicht weniger folgenreich als die abstrahierende Reduktion
der Gesellschaft auf einen Strukturtyp ist die Fokussierung der
alteuropäischen Literatur über das >Wissen< von ihr, soweit
es poetologisch niedergelegt wurde. Im Rahmen einer Studie wie der
vorliegenden ist eine solche Fokussierung vermutlich unumgänglich, doch
hätte der Verfasser gut daran getan, darauf hinzuweisen, was seine
Methode ausblendet: zum einen sämtliche Bereiche der Dichtung, die von
der zeitgenössischen Poetik nicht erfaßt wurden – beispielsweise
der wohl überwiegende Teil der aufgeführten Dramen. Zum anderen
weichen die poetologischen Normen der >Vormoderne< in entscheidenden
Punkten von den Einschätzungen ab, die Texte des Barocks und der
Aufklärung vom heutigen, >modernen< Standpunkt aus zu erfahren
hätten. So spricht Stöckmann zu Recht vom "generativen Zug der
alteuropäischen Poetik", soweit er damit deren
Selbstverständnis charakterisiert (S. 107). Doch lassen sich
literarische Texte auch der >Vormoderne< nicht gänzlich durch die
seinerzeitige Poetik einfangen; im literaturgeschichtlichen Rückblick
wäre es eine arge Verkürzung zu sagen, "barocke Texte bilden
lediglich Manifestationen einer geregelten, d. h. auf der Abfrage geeigneter
loci beruhenden Textkonstitution" (ebd.). Ähnliches gilt
für das Innovationsproblem: Vermochte die >vormoderne< Poetik auch
"nichts durchgreifend Neues" als Neues zu konzipieren (S.
235), so brachte die Poesie es durchaus hervor. Solche Differenzen zwischen
poetologischer Norm und literarischer Praxis droht Stöckmanns Ansatz zu
verdecken.
Ein Kompendium der barocken und aufklärerischen
Literaturnormen
Daß sich die Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts im
Grundsätzlichen kaum wandelte, wird häufig als "Effekt einer
autoritativen Bindung an Traditionen" erklärt (S. 4). Die von
Stöckmann vertretene "systemtheoretische Evolutionstheorie"
fragt dagegen nach "jenen Mechanismen, die es erlauben, einmal
gewählte Selektionen unter Minimierung von Variationsanlässen
laufend zu reproduzieren" (ebd.). Das zielt auf die Prämissen und
Regeln, nach denen literarische Kommunikation funktionierte. Das erste
große Kapitel Ordnungen des Schreibens legt sie wie folgt dar:
Ein erster Abschnitt (Von den >artes
liberales< zu den >Schönen Wissenschaften und Künsten')
verfolgt die normative Ausdifferenzierung einer Kunstsphäre, deren
Endzweck >Vergnügen< sei (vgl. S. 49).
Zwei weitere Abschnitte rekonstruieren die
Verankerung der alteuropäischen Literatur in einem aus der Antike
überlieferten rhetorischen und poetologischen System. Dabei mißt
Stöckmann der Regelpoetik eine längere, bis weit ins 18.
Jahrhundert reichende Gültigkeitsdauer zu als der Rhetorik (vgl. S.
67f.). Mit ihrer topischen Inventio sei schließlich aber auch die
Poetik an eine Grenze geraten, die zugleich die Grenze der
"Evolutionsmöglichkeiten der alteuropäischen Poetik"
bilde (S. 74). Welcher gesellschaftliche Wandel die topische Inventio
ungenügend erscheinen ließ, kommt, den theoretischen
Prämissen der Arbeit entsprechend, nicht zur Sprache.
Wie in der Forschung seit Joachim Dyck und Wilfried
Barner üblich, betont Stöckmann das rhetorische Fundament der
Barockpoetik; einem vierten Abschnitt zufolge unterscheidet sich das Feld der
Poetik von dem der Rhetorik aber durch die metrische Bindung von Dichtung (=
eloquentia ligata), die die deutsche Barockpoetik – hier folgt
Stöckmann Bernhard Asmuth – mit dem Reim identifiziert habe (vgl. S.
78).
Ausdrücklich ausgespart bleiben alle
Gattungsfragen, obwohl alteuropäische Poetologie immer auch
Gattungsordnung bedeutete. Arbeitsökonomisch ist diese Aussparung
gewiß verständlich; die von Stöckmann gegebene
Begründung, daß Gattungen "Universalien bilden", also
kein spezifisches Problem der alteuropäischen Poetik darstellten (S. 5),
überzeugt dagegen kaum. Glücklicherweise liegt
mit Stefan Trappens Habilitationsschrift über die Herausbildung der
triadischen Gattungslehre von der Spätrenaissance bis zur
Frühromantik 4 die wünschenswerte
Ergänzung schon vor. Stöckmanns Prämissen widerstreitet
Trappen allerdings nicht nur durch seinen traditionell dogmengeschichtlichen
Ansatz, sondern auch durch die entschiedene Trennung von einerseits
humanistisch-barocker, andererseits aufklärerischer Poetik. Schade,
daß ihr paralleles Erscheinen es keiner der beiden Studien
ermöglicht hat, sich mit der anderen auseinanderzusetzen.
Drei weitere Abschnitte sind den Beteiligten der
literarischen Kommunikation, dem >Poeten< und dem >Kunstrichter<,
sowie dem gelehrten Gepräge jener Kommunikation gewidmet.
Die Rolle des Dichters sei im Spannungsfeld von
"Inspiration und Verfahren" bestimmt worden. Dabei sieht
Stöckmann das Inspirationsdenken seit etwa 1700 "aller
transzendenten Bezüge" beraubt (S. 90); in bezug auf Bodmers Poetik
des Wunderbaren legt er später allerdings anderes dar (vgl. S. 360–363).
Für ein zunehmendes Gewicht "der technischen bzw.
verfahrensbezogenen Aspekte des Dichtens" habe hingegen das poeta
doctus-Ideal gesorgt (vgl. S. 93). Darunter falle sowohl das
polyhistorische bzw. polymathische Wissensideal des Barocks als auch die seit
etwa 1730 vorherrschende Norm einer philosophisch-kritischen Durchdringung
der dichterischen Tätigkeit (vgl. S. 94 f.). Insgesamt ergibt sich hier
(wie auch in anderen Abschnitten) der Eindruck, daß die prinzipielle
poetologische Konstanz normativen Wandel durchaus zuließ – ohne
daß sie durch ihn in Frage gestellt worden wäre.
Die Ausbildung einer Kunstrichter-Rolle vor Mitte
des 18. Jahrhunderts versteht Stöckmann als Beleg für eine
"steigende interne Organisationsdichte der poetologischen Kommunikation,
die ihren Kommunikationsbedarf nun auf systemspezifische Funktionsrollen
umlagert und an der Differenz von Künstlern und Kritikern bzw. von
Autoren und Lesern entlang organisiert." (S. 105)
Nicht ganz deutlich wird, wie dieser
Kommunikationsmodus zu dem Austausch unter Gelehrten steht, den
Stöckmann anschließend beschreibt, der historisch aber früher
anzusetzen ist. Daß literarische Kommunikation bis in die frühe
Aufklärung hinein eine unter Gelehrten war, die sich durch lateinische
Bildung definierten und dabei scharf nach unten abgrenzten, bildet ein
Hauptargument für den von Stöckmann vorgenommenen Bezug der
>vormodernen< Poetik auf das Stratifikationsprinzip der
alteuropäischen Gesellschaft (vgl. S. 121f.). Begünstigt durch
Gunter E. Grimms große Studie über Literatur und Gelehrtentum
(Tübingen 1983) wird die Darstellung hier sozialhistorisch
konkreter als sonst. Zu unterscheiden sei ein bloßer
>Gesinnungsstand< vom bevorrechteten, aber zunehmend marginalisierten
Sozialstand der Gelehrten. Indem Stöckmann den Akzent auf den
>Gesinnungsstand< legt, kehrt er freilich wieder zum vorausgesetzten
Primat der Semantik zurück (vgl. S. 115). Als Musterfall dienen ihm die
gelehrten Sprachgesellschaften, die keineswegs als prädemokratische
Sozialform, sondern als semantisches Nobilitierungsinstrument zu begreifen
seien (vgl. S. 131).
Könnte man die bisher angeführten poetologischen
Voraussetzungen als institutionelle bezeichnen, so wendet sich das folgende
Kapitel drei Grundbegriffen zu, die während der >späten
Frühen Neuzeit< einen tiefgreifenden semantischen Wandel erfuhren:
Stil, Nachahmung und Geschmack.
Die Art und Weise, wie der Wandel des Stilbegriffs
beschrieben wird, illustriert zugleich Stöckmanns
literaturgeschichtliche Basisannahmen: Galt Stil seit dem späten 18.
Jahrhundert als individueller Ausweis eines ebenso individuellen Autor-Ichs,
so bezeichnete er in der Frühen Neuzeit "einen allgemeinen und
regelförmigen Horizont des Schreibens" (S. 133): "Bis ins 17.
Jahrhundert liegt die Sinnebene des Stilbegriffs darin, Kommunikationen zu
generalisieren und insofern mit Wiedererkennungsgarantien auszustatten, indem
sie jene Ordnungswerte wiederholen und verstärken (amplificatio),
die sich leicht in den semantischen Haushalt der Gesellschaft integrieren
lassen: die Ordnungen des Sozialen, der Dinge, der Menschen" (S. 149).
Besonders die Dreistillehre entspreche dem stratifikatorischen
Ordnungsparadigma. Aufgeweicht wurden beide, so Stöckmann, durch das am
Ende des 17. Jahrhunderts vordringende Ideal >politischer< Klugheit,
das die gesellschaftliche Stellung an Leistung und persönliche
Verhaltensgeschicklichkeit gebunden habe (vgl. S. 154).
Den Nachahmungsbegriff untersucht Stöckmann,
unter Berücksichtigung seiner antiken Wurzeln, vor allem hinsichtlich
der von Gottsched bis Moritz betriebenen Fiktionalisierung des Nachgeahmten.
Den Ausgangspunkt bilde dabei die Leibnizsche Theorie möglicher Welten –
was die Phantasie freilich auch an Ontologie zurückgebunden habe, bei
Gottsched ebenso wie bei den Schweizern (vgl. S. 177–182). Aus den
geläufigen Bahnen der Theoriegeschichte heraus tritt dieser Abschnitt,
wo Carl Friedrich Brämers Gründliche Untersuchung von dem wahren
Begriffe der Dichtkunst von 1744 als relativ avancierte Abwehr der
für die Aufklärungspoetik typischen Wahrscheinlichkeitsforderung
ausgewiesen wird (S. 188-193).
Der Geschmack des alteuropäischen Kenners hatte
sich, wie der letzte Abschnitt des Kapitels herausstellt, in allen Bereichen
des Lebens zu bewähren, während er am Ende des 18. Jahrhunderts zum
Komplement eines ausdifferenzierten Kunstsystems wurde (vgl. S. 196, 222).
Als diskursive Brücke wird erneut Graciáns >politisches<
Verhaltensideal ausgemacht, denn "die temporale Unmittelbarkeit, die das
Geschmacksurteil positiv gegenüber reflexiven und zeitintensiven
Urteilsgängen auszeichnet, ist ausschließlich aus der
Interaktionsvergangenheit des Geschmacks zu erklären, weil die
Konversationsideale des 17. Jahrhunderts Interaktion primär als
verzögerungsfreies und spontanes Prozessieren von Beiträgen
denken" (S. 219).
Heterogener als die beiden bisher nachgezeichneten ist das
letzte große Kapitel. Zunächst rekapituliert es auslaufende
Traditionen der alteuropäischen Poetik:
die Indisposition, etwas "durchgreifend
Neues" zu konzipieren (S. 235),
die "Schatzkammern des Wissens und Schreibens,
die im 17. Jahrhundert das Vorbildliche und Exemplarische umfassend zu
speichern und zu verwalten" hatten (S. 237),
das Prinzip der "Imitatio",
die Legitimation von Dichtung durch Verweis auf ihre
biblischen Ursprünge sowie
die im modernen Sinne ahistorische historia
litteraria, die eine Klassifikation von Autoren und Texten in einem Zeit
raum vornahm.
Weitere Abschnitte sind dann "poetologischen
>Nischen'" gewidmet, "die kurzfristige, aber um so abruptere
Innovationsschübe" auslösten (S. 4):
Besonders dem Begriff der >Zierlichkeit<
mißt Stöckmann "symptomale" Bedeutung für die
"offenbar wachsende evolutionäre Unruhe der alteuropäischen
Poetik" zu (S. 287). Überzeugend zeichnet er nach, wie das
Zierliche als elegantia zunächst als ein Rhetorik, Poetik und
Verhaltenslehre übergreifendes Konzept fungierte, wie es um 1750
hingegen eine "latente Ästhetisierung" erfuhr und wie es von
Moritz schließlich auf die "Notwendigkeit eines schönen
Ganzen" des Kunstwerks bezogen wurde (S. 285, 289).
Am Stilideal der acutezza wiederum
interessiert ihn, daß es dem rhetorischen Grundsatz der perspicuitas
zwar widersprach, trotzdem aber in die barocke Poetik eingefügt
werden konnte (vgl. S. 292). Stöckmann führt dies auf
"evolutionäre Einpassungsmöglichkeiten" der
Aristotelischen Stilistik zurück (ebd.), ohne daß allerdings
deutlich würde, wie seine >evolutionstheoretische< Rekonstruktion
sich von herkömmlichen Theoriegeschichten unterschiede.
Einschränken muß er auch, daß den deutschen Autoren
"die evolutionäre Brisanz der acutezza-Poetik weitgehend
verschlossen geblieben" sei (S. 306). Der Schlußgedanke, daß
das Scharfsinnigkeitsideal auf den Leitwert >interessant< vorausweise
(den die Systemtheorie für die >moderne< Literatur ansetzt), wird
nicht mehr philologisch entfaltet (vgl. S. 311).
Der Abschnitt Die Kunst des Verbergens – Galante
Kommunikation stellt einmal mehr das "Interaktionskalkül"
(S. 314) des Prudentismus in den Mittelpunkt. Angesichts der Luhmannschen
Prämissen der Arbeit kann das nicht überraschen, gilt Graciáns
>Politicus< der Systemtheorie doch als Vorläufer oder sogar Agent
der funktional differenzierten Moderne: Der "politische Mensch"
sollte sich bewußt sein, daß er als Rollenspieler und in
Rücksicht auf wechselnde Gegenüber zu agieren hat, und handle
deshalb "immer schon als beobachteter Beobachter" (S. 319). Wie
Stöckmann an Christian Weise zeigt, habe der Politicus das
"selbstreferentielle Ziel, Gefallen am Gefallen anderer zu finden"
(S. 327). Damit aber ist er ein Kommunikationsteilnehmer ganz nach
systemtheoretischem Bilde; sein Verhaltensprogramm ziele geradezu auf die
Erhöhung der "Wahrscheinlichkeit, Interaktion zwanglos fortsetzen
zu können" (ebd.). Der theoretischen Idealposition vermag
Stöckmann allerdings keine Schlüsselstellung beizugesellen, die dem
>Politicus< in der >Evolution< der alteuropäischen Poetik
zukäme. Der Verweis darauf, daß "Interaktionsnormen im
Bereich codierter Intimität zunehmend auch aus der Beschäftigung
mit der Gattung des Romans gewonnen" wurden, führt nicht sehr weit
(S. 332), während die einschlägigen
Überlegungen von Ursula Geitner 5 zur
Rolle der >politischen< Verstellung bei der Ausbildung und Aufwertung
der Schauspielkunst – und damit der Autonomisierung des Theaters – nicht
aufgenommen werden.
Mit dem "Wunderbaren", dessen
Umstrittenheit zwischen Gottsched und den Schweizern ein weiterer Abschnitt
rekapituliert, kommentiert Stöckmann einen Topos der
Ästhetikgeschichtsschreibung. Zu Recht, wenngleich nicht als erster
wendet er sich gegen die Deutung, in der Legitimation des >Wunderbaren<
vollziehe sich eine Wendung zur autonomen Phantasie; vielmehr verbleibe
"der Nachahmungsbegriff der Schweizer entschieden im Kontext des
alteuropäischen Repräsentations- und Imaginationsdenkens" (S.
351f.).
Ein Schlußkapitel resümiert schließlich den
"involutiven" – d. h. auf Rückkoppelung mit "zeitlich
vorausliegenden, aber prinzipiell aktualisierbaren Normen und Mustern des
Schreibens" angewiesenen – Charakter der alteuropäischen Poetik (S.
364). Zudem skizziert es eine Typologie von Rekombinationsmöglichkeiten,
also Chancen eines semantischen Wandels unter der alteuropäischen
Voraussetzung, daß es keine wesentliche Innovation geben könne
(vgl. S. 369–371). Von den zuvor diskutierten Begriffen und Normen sieht
Stöckmann dabei lediglich im >Geschmack< eine "Kategorie, die
auf dem Boden der Poetik schließlich zu einer versuchsförmigen
Ausdifferenzierung literaturspezifischer Beobachtungskriterien", will
sagen in den Bereich der >modernen<, autonomisierten Literatur führt
(S. 370). Insgesamt jedoch konstatiert er eine "Totaldifferenz"
zwischen der involutiven Poetik vor und der innovativen Poetik um und nach
1800 (S. 371).
Philologisch wertvoll, theoretisch problematisch
Was Stöckmann damit vorlegt, ist ein aus reichem
Quellenmaterial gearbeitetes Kompendium der expliziten Poetik der Barock- und
Aufklärungsliteratur. Seine besondere und außergewöhnliche
Leistung liegt darin, daß die poetologischen Anstrengungen beider
Epochen in ihrem Zusammenhang sowie auf ihrem gemeinsamen Fundament
dargestellt werden: der alteuropäischen Prämisse einer geordneten
Welt und ständisch geschichteten Gesellschaft. Die theoriegeschichtliche
Rekonstruktion erfolgt philologisch sorgfältig – (technisch bedingte?)
Versehen wie die Fehlschreibung einiger griechischer Begriffe fallen nicht
ins Gewicht. –, umsichtig und vor einem weiten, bis in die Antike
zurückreichenden Horizont. Ein solcher Aufriß der vormodernen
Ordnung literarischer Kommunikation lag bisher nicht vor, hat also einen
hohen Forschungswert, der die Aufnahme in eine renommierte Reihe vollauf
rechtfertigt.
Der Anspruch der Studie reicht indessen noch weiter.
Stöckmanns Absicht ist eine "evolutionstheoretische
Rekonstruktion", die sowohl "kurzschlüssige Rückgriffe
auf Tradition" als auch die bislang gepflegten Formen der
Sozialgeschichtsschreibung hinter sich läßt (S. 226, vgl. S.
35–37). Wie bereits angedeutet, denkt er sich ein solches Überholen
nicht so, daß der Zusammenhang von Gesellschaft und Poetik
präziser oder systematischer als bisher zu entwickeln wäre. Eine
Auseinandersetzung mit grundlegenden Arbeiten wie Barners Barockrhetorik
(Tübingen 1970) oder Wilhelm Kühlmanns Gelehrtenrepublik
und Fürstenstaat (Tübingen 1982) findet denn auch praktisch
nicht statt; Karl Eibls systemtheoretisch inspirierte Literaturgeschichte des
18. Jahrhunderts Die Entstehung der Poesie (Frankfurt / M. 1995) wird
gar gänzlich übergangen, obwohl sie eine Fülle
überzeugender und anregender Einsichten bietet und das Luhmannsche
Instrumentarium weniger orthodox handhabt. Geändert wird vielmehr die
theoretische Prämisse, und zwar dahingehend, daß der
gesellschaftliche Kontext (mitsamt Religion, Politik oder Philosophie) keine
wesentliche Rolle mehr spielt. Denn es sei der poetologische Diskurs selbst,
der seine Konstanz oder auch seinen Wandel steuere. Was etwa die
>Tradition< angeht, sei es "die Ordnung der poetologischen
Semantik selbst, deren Selektionsverhalten allererst jene
Innovationsblockaden und semantischen Rekursionen erzeugt, die eine
Beschreibung als Tradition nahelegen könnten" (S. 226).
Stöckmann sucht die barocke und aufklärerische
Poetik demnach als ein involutives System im Sinne Luhmanns zu beschreiben.
Die Theoriekritik, mit der er startete, nämlich daß die
Prämisse systemischer Abgeschlossenheit der Literatur der
>Vormoderne< unangemessen sei, scheint im Fortgang der Arbeit vergessen
zu werden. Den >evolutionstheoretischen< Weg wiederum vermag Stöckmann
nicht konsequent zu beschreiten: Immer wieder ermahnt er sich, die
theoriegeschichtliche Rekonstruktion zur evolutionstheoretischen auszuweiten
(vgl. S. 144, 153, 226, 363), ohne daß dem aber signifikante Ergebnisse
(d. h. neuartige Erklärungen) folgen würden. Der stratifizierenden
Dreistillehre etwa wird die mittelalterliche Brieftheorie als
"evolutionäre Vorleistung" zugeordnet (S. 144), ohne daß
erkennbar wäre, inwiefern das über die herkömmliche
Theoriegeschichte hinausginge. Im Schlußkapitel taucht denn auch der
Traditionsbegriff wieder auf – offensichtlich, weil er nicht ersetzt werden
konnte (vgl. S. 363f.). Die ausgedehnten Begriffsanleihen bei Luhmann
führen zu erschwerter Lesbarkeit, kaum aber zur erstrebten kognitiven
"Tieferlegung" (S. 227).
So, wie die vorliegende Studie ihn nutzt, entfaltet der
systemtheoretische Rahmen nicht nur in bezug auf das Verhältnis zwischen
poetologischem >System< und gesellschaftlicher Umwelt wenig
erkenntnisfördernde Wirkung (daß es auch anders geht, zeigt –
darauf sei noch einmal hingewiesen – Eibls Entstehung der Poesie).
Sowohl für den langsamen Wandel vor ca. 1770 als auch für den
beschleunigten Wandel danach verhindert er geradezu verlaufsbezogene
Erklärungen. Die grundsätzliche methodische Frage, wie die
Verlaufsdimension einer Literatur- oder Poetikgeschichte zu konzipieren sei,
beantwortet Stöckmann damit, daß er nicht "in kausale oder
teleologische Argumentationstypen zurückfallen" wolle (S. 363).
Übersehen wird hier, daß historischen
Rekonstruktionen unumgänglich ein teleologisches Moment eignet, da es
der am Ende der Zeitachse stehende Forscher ist, der über den Zuschnitt
seiner Darstellung entscheidet. Die systemtheoretische Prämisse der am
Ende des 18. Jahrhunderts vollzogenen Ausdifferenzierung eines
selbstreferentiellen Kunst- bzw. Literatursystems impliziert sogar eine
besonders kräftige, weil nicht gerade komplexe Teleologisierung. Auf sie
vermag Stöckmann am allerwenigsten zu verzichten; indem er dem
systemtheoretischen Dogma folgt, erspart er es sich, den zu jener
Ausdifferenzierung führenden poetologischen Prozeß im einzelnen
nachzuzeichnen. Weniger teleologisch wäre es gewesen,
der Anregung des ebenfalls systemtheoretisch arbeitenden Kieler Germanisten
Claus-Michael Ort zu folgen: Es sei auch zu überlegen, welche
Phänomene sich dem systemtheoretischen Axiom "irreversibel
fortschreitender Differenzierung" nicht fügten. 6
Literatur- bzw. poetikgeschichtlich schöpft
Stöckmann das breite von ihm gesammelte und geordnete Material nicht
aus. Angesichts seiner beträchtlichen philologischen Leistung ist das
sehr bedauerlich. Sie hätte einen besseren, d. h.
literaturwissenschaftlichen Zwecken angemesseneren und historisch
differenzierteren Theorierahmen verdient.
Dr. Daniel Fulda
Universität zu Köln
Institut für deutsche Sprache und Literatur
Albertus-Magnus-Platz
D-50923 Köln
Homepage
E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:
Ins Netz gestellt am 25.09.2002
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is
given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.
Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Manfred Engel. Sie
finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez –
Literaturwissenschaftliche Rezensionen.
Weitere Rezensionen stehen auf der Liste
neuer Rezensionen und geordnet nach
zur Verfügung.
Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen?
Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte
informieren
Sie sich hier!
[ Home | Anfang |
zurück ]
Anmerkungen
1 Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur
und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 162–234. zurück
2 Vgl. zuletzt Oliver Jahraus / Benjamin
Marius Schmidt: Systemtheorie und Literatur. In: IASL 23 (1998) 1, S. 66–111;
Martin Huber / Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte
für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie,
Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen: Niemeyer 2000.
zurück
3 Vgl. Anm. 6, sowie: Christoph Reinfandt:
Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten. Ein systemtheoretischer Entwurf zur
Ausdifferenzierung des englischen Romans vom 18. Jahrhundert bis zur
Gegenwart (Anglist. Forschungen; 252). Heidelberg: Winter 1997. zurück
4 Vgl. Stefan Trappen: Gattungspoetik.
Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der
triadischen Gattungslehre (Beihefte zum Euphorion; 40). Heidelberg: Winter
2001. zurück
5 Vgl. Ursula Geitner: Die Sprache der
Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und
18. Jahrhundert (Communicatio; 1). Tübingen: Niemeyer 1992, S.
284–331. zurück
6 Claus-Michael Ort: >Sozialgeschichte< als
Herausforderung der Literaturwissenschaft. Zur Aktualität eines
Projekts. In: Huber / Lauer (Anm. 2), S. 113–128, hier S. 122. zurück
|