Zurück in die ›vergangene Zukunft‹: Geschichte als Literatur und als Theorieproblem
Joachim Garbe: Deutsche Geschichte
in deutschen Geschichten der neunziger Jahre. Würzburg: Königshausen
& Neumann 2002. 284 S. Kartoniert. EUR 55,00. ISBN: 3-8260-2168-1.
Lucian Hölscher: Neue Annalistik.
Umrisse einer Theorie der Geschichte (Göttinger Gespräche zur
Geschichtswissenschaft 17) Göttingen: Wallstein 2003. 96 S. Broschiert.
EUR 14,00. ISBN: 3-89244-664-4.
[1]
Besprochen werden zwei sehr
unterschiedliche Bücher, deren Lektüre sich aber trefflich ergänzen
kann: eine breit angelegte, konzeptionell allerdings
stützungsbedürftige Pionierstudie zur aktuellen literarischen
Auseinandersetzung mit ›unserer Geschichte‹ sowie ein ebenso knapper
wie konziser Theorieentwurf, der unseren Begriff der ›einen Geschichte‹
an die tatsächliche Vielfalt unhintergehbarer Perspektiven auf
Geschichte anpassen möchte – und damit auch die Lage des literarischen
Geschichtserzählens auf den theoretischen Punkt bringt.
[2]
Pionierstudie zu einem vieldiskutierten Thema
[3]
Wie wohl keine andere Dekade des 20.
Jahrhunderts zeigen sich die 1990er Jahre in der deutschsprachigen
Literatur von Auseinandersetzungen mit ›der Geschichte‹ geprägt.
Historische Themen erwiesen sich als bestsellerträchtig und fungierten
zugleich als Katalysator und Prüfstein ästhetischer Optionen, sei es im
Sinne eines plotorientieren, auf Empathie zielenden Erzählens wie in
Schlinks Vorleser, sei es im Sinne eines intertextuell reflektierenden Zeugnisses, das dem Verstehen Grenzen aufzeigt, wie in Klügers weiter leben.
Einen ähnlichen Bedeutungszuwachs hat ›die Geschichte‹ in der
Öffentlichkeit, in der Politik, im Feuilleton erlebt: Stärker als je
zuvor wird die raison d’être
der Bundesrepublik Deutschland als Verantwortung vor und aus ›unserer
Geschichte‹ definiert. Und während den sog. Historikerstreit der
achtziger Jahre noch fast ausschließlich Professoren ausfochten, haben
die Goldhagen-Debatte sowie die Wehrmachtsausstellung ein
Millionenpublikum aller Altersstufen und Bildungsschichten mobilisiert.
[4]
Einen engen Zusammenhang zwischen der
literarischen Aneignung von Geschichte und den gleichzeitigen
öffentlichen Geschichtsdebatten konstatiert Joachim Garbes Buch Deutsche Geschichte in deutschen Geschichten der neunziger Jahre.
Mit Paul Michael Lützeler geht Garbe davon aus, daß literarische
Autoren nicht anders als Historiker »an der Identitätsbildung einer
Generation, einer Nation, eines Kulturkreises und letztlich der
Menschheit beteiligt seien« (S. 10). Seine Frage an die Literatur
lautet daher vor allem, welchen Beitrag sie zur gesellschaftlichen
»Neuorientierung« nach der Wiedervereinigung leistete (S. 12).
[5]
Unter dem Gesichtspunkt ihrer
Identitätsrelevanz im gegenwärtigen Deutschland betrachtet, ist ›die
Geschichte‹ bei Garbe – nicht anders als in den meisten öffentlichen
Geschichtsdebatten – vor allem die Zeit und das Erbe des
Nationalsozialismus, daneben auch, aber deutlich an zweiter Stelle, der
DDR. Sein Thema ist dabei nicht die grundlegende ästhetische und
geschichtstheoretische Frage, wie literarische Texte Vergangenheit in
einer Weise präsentieren (können), daß sie für den Leser als
›Geschichte‹ erfahrbar wird – also wie sie Geschichte konstituieren.
Die Verbrechensgeschichte des ›Dritten Reiches‹ und – weniger kraß –
der DDR wirft in den von Garbe analysierten Erzähltexten vielmehr
Probleme der Schuld, der Verdrängung, der ›Bewältigung‹ auf, und zwar
sowohl individualpsychologisch als auch erinnerungspolitisch.
[6]
Diese Fokussierung grenzt das
sehr weite Feld des aktuellen Geschichtserzählens bereits erheblich ein
und leistet eine erste Strukturierung. Trotzdem stellt sich das
Problem, wie das ausgedehnte Material zu gliedern ist und welche
analytischen Kategorien es zu durchdringen vermögen – und zwar in
ungewöhnlicher Schärfe, da die Texte noch neu sind und das Thema so
umfassend noch nicht angegangen wurde. Ausführliche Studien und mehr
noch Sammelbände liegen wohl zu Teilbereichen wie der Holocaust- oder
der Wendeliteratur vor, ohne die identitätspolitisch relevante
Geschichtsliteratur aber insgesamt in den Blick zu nehmen. 1 Joachim Garbe kommt mithin das Verdienst zu, jene historischen Themenbereiche, die zusammengenommen das deutsche historische Bewußtsein prägen, 2
erstmals in einer literaturkritischen Monographie zusammen zu
behandeln. Eine Pionierstudie trägt aber auch in besonderem Maße die
Last, ein eigenes, den Quellen ebenso wie dem Erkenntnisziel
angemessenes Interpretationskonzept zu entwickeln. Diese Besprechung
richtet ihr Augenmerk daher besonders auf die Kategorien, mit denen
Garbe seine Zusammenschau unternimmt.
[7]
Die Auswahl der Quellentexte beruht bei
derartigen Überblicksstudien stets auf nicht restlos objektivierbaren
Entscheidungen. Der Erschließung des Gegenstandsfeldes nützlich ist
Garbes Kombination von einigen bekannten Texten mit solchen, die bisher
weder dem Publikum noch der Literaturwissenschaft besonders aufgefallen
sind. Ästhetisch avancierte Texte allerdings werden eher ausgespart
(nahegelegen hätte z.B. die Berücksichtigung von W. G. Sebalds
Erzählungen und Romanen, auch der Alten Abdeckerei von Wolfgang Hilbig).
[8]
Da Garbe seine Lektüren auf die
Erinnerungspolitik des wiedervereinigten Deutschland beziehen will, ist
der Ausschluß der österreichischen und der deutsch-schweizer Literatur
nachvollziehbar, wenngleich für den Erinnerungsdiskurs bzw. seine
ästhetischen Möglichkeiten wichtige Texte wie ›Wilkomirskis‹ Bruchstücke oder Robert Schindels Gebürtig
damit ausgeblendet werden. Wenn Nationalsozialismus und Holocaust das
historische Thema bilden, handelt es sich jedoch nicht bloß für
bundesdeutsche Autoren um »die eigene Geschichte« (S. 13). Diese
Geschichte relativiert vielmehr nationalliterarische Grenzen. Garbe
scheint das anzuerkennen, wenn er, etwas spitzfindig, nur hierzulande
»entstandene« Texte berücksichtigen will (ebd.) und Ruth Klügers weiter leben wie selbstverständlich bespricht.
[9]
Thematische Gliederung eines umfangreichen Materials
[10]
Sein ausgedehntes Material – fast
fünfzig Romane und Erzählungen, zudem viel Publizistisches – stellt
Garbe in zwei Einleitungs-, vier thematisch unterschiedenen Haupt- und
einem Schlußkapitel vor. Das erste Einleitungskapitel »Nichts wird so
bleiben, wie es war« betont die Neuheit der gesellschaftlichen wie
geistigen Situation, die sich durch Mauerfall und Wiedervereinigung
ergab. Kurzanalysen einschlägig symbolischer Romane wie Thomas Hettches
Nox oder Christa Wolfs Medea
stehen hier neben Rekapitulationen der Feuilletonangriffe auf z.B.
diese Autorin. Trotz jener Neuheiten blieb ›die Geschichte‹ ein
prägender Faktor deutscher Identität, wie das zweite Einleitungskapitel
»Vom Umgang mit Geschichte« vorführt. Vom sog. Historikerstreit der
achtziger Jahre ausgehend, intoniert Garbe hier das Leitmotiv
›Normalisierung‹ = Verdrängung vs. kritische Aufklärung ›der
Geschichte‹. Als Beispiele für unkritische Versöhnlichkeit stellt er
Günter de Bruyns Erinnerungsbände, als Muster gegenwartskritischer
Gegengeschichtsschreibung Ein weites Feld von Günter Grass vor.
[11]
Im ersten Hauptkapitel »Abschiede« ist
es meist die DDR, die jetzt als Geschichte erscheint: Im Augenblick
ihres Untergangs nehmen die Autoren und ihre Figuren sowohl die
Vertrautheit als auch die Verbrechen der DDR deutlicher wahr als bisher
(Marion Titze: Unbekannter Verlust, Irina Liebmann: In Berlin). Oder sie wird einem moralischen Gericht unterzogen (Monika Maron: Stille Zeile sechs). Abschied nehmen mußten manche auch von der Hoffnung auf »eine Alternative« zur Bundesrepublik (Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma;
S. 61). Die meisten der hier und auch in den anderen Kapiteln
besprochenen Texte sind Zeitromane, d.h. ihre Geschichten spielen
zumindest teilweise in der Gegenwart, nach dem Mauerfall, wenngleich
längere Vorgeschichten oder Analepsen in die Geschichte zurückgreifen.
Keinen ausformulierten Gegenwartsstandpunkt gibt es hingegen in Peter
Schneiders Paarungen, die als Abschied vom West-Berlin der achtziger Jahre zu lesen seien.
[12]
Das nächste Kapitel stellt Garbe aus
Texten zusammen, die ›Geschichte‹ in ihrer Einwirkung auf
Familienkonstellationen zu fassen suchen. Hier ist es zumeist die
NS-Vergangenheit, die einerseits verschwiegen wird, andererseits aber
das Leben noch der Kinder und Enkel prägt. Die Pointen der besprochenen
Texte sind insgesamt weniger aggressiv als in der ›Väterliteratur‹ der
siebziger Jahre, mitunter vielmehr etwas gesucht: Verschweigen führt in
Ulrikes Kolbs Roman ohne Held
zur Erfindung väterlicher Kriegserlebnisse durch die Tochter. Oder die
Enkelin einer Lebensborn-Mutter erweist sich dadurch als rechte Erbin,
daß sie nachträumt, was die Oma vorlebte: »Sex mit SS-Männern« (Judith
Kuckart: Die schöne Frau;
S. 103). Psychologisch stimmiger und erinnerungspolitisch prägnanter,
so Garbe, wird kindliches Fabulieren in Alexander Häussers Memory aus elterlichem Schweigen hergeleitet. Autorität, die niederdrückt, können freilich nicht nur NS-Eltern ausüben; F. C. Delius’ Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde führt das an einem evangelischen Pfarrhaus, Kurt Drawerts Spiegelland an einer antifaschistischen DDR-Erziehung vor.
[13]
Das dritte Hauptkapitel widmet sich dem
literarischen »Umgang mit der Schuld«. Obwohl es fast durchgängig um
Schuld unter nationalsozialistischen Vorzeichen geht, sind die
behandelten Texte nach Thema, Gattung und Ästhetik sehr heterogen.
Während Helga Schuberts Judasfrauen
historisch belegte Denunziationsgeschichten bieten, arbeiten die
autobiographischen Romane Ludwig Harigs die Lebensgeschichte seines
Vaters und die eigene NS-Begeisterung auf. Dagegen stützt sich Bernhard
Schlinks Vorleser auf
einen fiktiven Plot, der aber als Parabel bundesrepublikanischer
Vergangenheitsbewältigung gelesen werden will. Als ästhetische
Experimente gelten können Ulla Berkéwiczs Engel sind schwarz und weiß,
denn der Roman geht verstörend weit in der Mimikry einer einerseits
hölderlinschen, andererseits nationalsozialistischen Sprache, sowie
Marcel Beyers Flughunde,
dessen mediengeschichtlicher Ansatz die Rubrizierung als
Schuldreflexion allerdings sprengt. Locker ist die Zugehörigkeit zum
Thema des Kapitels auch im Fall von Klaus Schlesingers Roman Die Sache mit Randow, der einen Denunziationsfall aus der frühen DDR als Muster des diesen Staat kennzeichnenden Verschweigens gestaltet.
[14]
»Deutsch-jüdische Geschichten« ist
sodann das vierte Hauptkapitel betitelt. Ausgehend von dem geläufigen
Befund, daß das ›deutsch-jüdische‹ Verhältnis nach wie vor weit von
›Normalität‹ entfernt sei, werden hier erneut generisch, thematisch und
formal sehr heterogene Texte besprochen. Während Sigmar Schollacks Kallosch und Ruth Klügers weiter leben
autobiographisch fundierte Zeugnisse vom Holocaust ablegen, berichten –
oder fabulieren – die anderen Texte aus der Perspektive der
Nachgeborenen (Laura Waco: Von Zuhause wird nichts erzählt, Barbara Honigmann: Eine Liebe aus nichts sowie einige Erzählungen von Maxim Biller), in Michael Krügers Himmelfarb
auch aus der Perspektive einer nicht-jüdischen Hauptfigur. Sämtliche
Texte des Kapitels aber nehmen zugleich das Nachkriegs- bzw. heutige
Verhältnis von Deutschen und Juden oder nicht-jüdischen und jüdischen
Deutschen in den Blick.
[15]
Ohne thematische Schwerpunktnennung
sammelt das Schlußkapitel die jüngsten Texte, die 1997 und 1998
erschienen sind. Als »Neubestimmungen« übertitelt, zeigen sie an,
welche weitere Entwicklung des literarischen Geschichtserzählens Garbe
erwartet. Zugleich sortiert er nach erwünscht und unerwünscht:
Erwünscht sind die »sprachohnmächtige Protesthaltung« (S. 237) von
Wolfgang Promies’ BrandEnde
sowie die Erinnerungsarbeit in Dieter Fortes autobiographischer
Romantrilogie, unerwünscht sind der Verzicht aufs Erzählen in Botho
Straußens Fehler des Kopisten
sowie Martin Walsers »naive« (Iris Radisch, S. 259) Wiederherstellung
(s)einer unbeschädigten Kindheitswelt. In diesen beiden Textpaaren
sieht Garbe eine »Spaltung im öffentlichen Bewusstsein der
Bundesrepublik« repräsentiert mit einem »Schluss-Strich-Denken« auf der
einen und immer neuen Versuchen, »das Verdrängte zu erinnern«, auf der
anderen Seite (S. 265).
[16]
Mageres Ergebnis, journalistische Methode
[17]
Was Garbe mit dieser Gliederung seines
Materials erreicht, ist eine Gruppierung nach allgemeinen thematischen
Ähnlichkeiten. Eine analytische Durchdringung, die Gemeinsamkeiten und
Differenzen, gar Regelmäßigkeiten aufdecken würde, indem sie
gleichbleibende Analysekategorien anwendete, ergibt sich dadurch nicht.
(Was beispielsweise das »Übliche der Verarbeitungsliteratur« sei, das
Garbe en passant erwähnt [S. 101], wird nicht weiter erläutert.)
Ebensowenig konsequent werden die ermittelten Ansichten der Literatur
auf die Gesellschaft bezogen, für deren »kollektives Gedächtnis« sie
doch »eine zentrale Funktion« haben soll (S. 231). Indem Garbe viele
einzelne Texte nacheinander vorstellt, vermag er auf die Ausgangsfrage,
»welchen Anteil Werke der erzählenden Literatur« an der
historisch-politischen »Neuorientierung« nach 1989 / 90 haben (S. 12),
nur lauter Detailantworten zu geben.
[18]
Im Schlußkapitel werden die für eine
historisch-nationale Identität relevanten Themen der Nachwendeliteratur
noch einmal zusammengestellt: »Familiengeheimnisse«, »die autoritäre
›deutsche‹ Erziehung«, kindliche »Schuldgefühle für ein den Eltern
früher zugefügtes Unglück«, »Schuldigsein als Erbe«, bei der älteren
Generation »eigene schuldhafte Verstrickung«, das Verhältnis von Tätern
und meist jüdischen Opfern, Verluste durch die Wende von 1989, in
jüdischen Familien der Verlust von Angehörigen, »Sprachlosigkeit« und
»Verschweigen« (S. 222–225). Erklären kann Garbe diese Themenwahl nur
im Rückgriff auf die bekannten Metaphern:
[19]
Die Wunden, die der Faschismus und
der von ihm verschuldete Krieg in beiden Nachkriegsgesellschaften
hinterlassen haben, scheinen nicht wirklich verheilt zu sein, ansonsten
ist nicht zu erklären, warum sie in unterschiedlicher Form in der
erzählenden Literatur der neunziger Jahre erneut ›aufbrechen‹. (S. 222)
[20]
Die Gegenwartsliteratur versteht Garbe
demnach als repräsentativ für die historische Identität der deutschen
Gesellschaft insgesamt. Argumentativ plausibilisiert wird diese
Prämisse jedoch nicht. Vollends offen bleibt, wie die Erinnerung an die
DDR zu den ›unverheilten Wunden‹ der NS-Zeit steht. Eine diskutierbare
literaturgeschichtliche These stellt lediglich der Befund dar, daß »nun
nach dem ›Ende der Nachkriegszeit‹ eine neue Nachkriegsliteratur«
entstanden sei, die sich weit vorbehaltloser der NS-Geschichte zuwende
als die ›Nachkriegsliteratur‹ der üblichen Epochengliederung (Böll, die
Gruppe 47 usw.) (S. 232).
[21]
Die Gattung, die das vorliegende Buch
vertritt, ist gewissermaßen die ›Massenrezension‹. Sein Nutzen besteht
darin, daß es eine außergewöhnlich große Zahl von Romanen und
Erzählungen in recht ausführlichen, meist drei- bis sechsseitigen
Charakteristiken vorstellt. Textnah formuliert und mit vielen Zitaten
versehen, vermitteln sie dem Leser einen guten Inhaltsüberblick auch
über weniger bekannte Texte. Gemessen sowohl an den Standards
literaturwissenschaftlichen Arbeitens als auch am selbstgestellten
Programm, reicht das jedoch nicht aus. Unzureichend sind die
vorgestellten Texte sowohl als Literatur wie auch in ihrer
geschichtsbildlichen Bedeutung analysiert:
[22]
1. Lediglich am Rande vermerkt werden
formale Aspekte wie Erzählsituation oder Sprachgestaltung. Die
übergeordnete Frage, worin die speziell literarischen Möglichkeiten der
Geschichtsthematisierung liegen, kann Garbe daher nur sehr pauschal,
vage und mit der Tendenz zum Klischee beantworten:
[23]
Der Schriftsteller fragt möglicherweise viel
radikaler als der Historiker, und da er sich bewusst ästhetischer
Mittel der Gestaltung bedient, kann er in seinem Werk etwas erreichen,
dessen sich der Historiker enthalten muss: ›die bekannten
Etikettierungen abzureißen, die kulturellen Übereinkünfte aufzulösen,
ein Erschrecken wiederherzustellen, das in den Hunderttausenden von
Büchern, welche die Bibliotheken füllen, längst zur Ruhe gekommen ist‹.
(S. 12) 3
[24]
Gar nicht thematisiert wird die evidente
Tendenz der gegenwärtigen Geschichtsliteratur, sich mit den Medien der
Geschichtsüberlieferung und -präsentation jenseits der Schrift, vor
allem mit der Photographie, Auseinanderzusetzen, sei es durch
Handlungen um Photos, sei es durch die Aufnahme von photographischen
Abbildungen in den Drucktext (vgl. 102, 107, 145, 215 f., 229).
[25]
2. Ausführlicher geht Garbe auf den
geschichtspolitischen und gesellschaftlichen Kontext der diskutierten
Literatur ein (sog. Historikerstreit, Angriffe auf Christa Wolf oder
Günter Grass nach der Wende, zuletzt die Debatte um deutsche
Militäreinsätze im Ausland; Goldhagen und die Wehrmachtsausstellung
werden nur kurz erwähnt). Als Quellen benutzt er ganz überwiegend
Zeitungsartikel und andere tagesaktuelle Streitschriften. Mißlich daran
ist, daß er deren Nahsicht auf den jeweiligen Streitgegenstand
übernimmt. Vertan wird so die Chance, durch den mittlerweile gewonnenen
Abstand zu einer Analyse der Mechanik und der längerfristigen
gesellschaftlichen Relevanz solcher Debatten zu gelangen. Stattdessen
schlägt Garbe die alten Schlachten noch einmal.
[26]
Das Manko dieses Verfahrens ist weniger die etwas
reflexhafte Parteilichkeit für die ›aufklärerische‹ Seite (Habermas,
Grass usw.). Problematischer ist, daß keine Zusammenschau all jener
Grabenkämpfe unter übergeordneten, sei es erinnerungspolitischen, sei
es soziologischen Gesichtspunkten zustande kommt. Mitunter registriert
Garbe zwar, daß die Nahsicht seiner Gewährsleute der tatsächlichen
Entwicklung nicht gerecht wurde – etwa indem die um 1990 häufigen
Befürchtungen, die Wiedereinigung werde zu einer Verdrängung der
NS-Geschichte führen, sich nicht bewahrheiteten (S. 228, vgl. auch S.
92). Einen Anlaß, an der Erklärungskraft seiner Nahsichtmethode zu
zweifeln, erkennt er darin jedoch nicht. »Das Historische« der
untersuchten Geschichtserzählungen möchte Garbe, wie gesagt, in dessen
»Orientierungs«-Funktion im »gesellschaftlichen Prozess« analysieren
(S. 12). Die dazu nötige Erfassung des ›gesellschaftlichen Prozesses‹
bleibt jedoch in journalistischen Meinungen befangen und erreicht
nirgends das Niveau einer wissenschaftlichen Beschreibung. 4
[27]
Ausgespart: die Gedächtnisforschung
[28]
Besonders die Gedächtnisforschung hat in
jüngerer Zeit Studien erbracht, die geeignet wären, das von Garbe
zusammengestellte Material analytisch zu durchdringen und so zu
strukturieren, daß sich hinreichend prägnante Ergebnisse formulieren
ließen. Das Konzept des ›kollektiven Gedächtnisses‹ spricht Garbe zwar
an (vgl. S. 12, 231), ohne es aber zu nutzen zur Integration der von
ihm untersuchten Literatur in die historische Identitätsbildung der
deutschen Gesellschaft.
[29]
1. Vor allem die wechselseitige Verwiesenheit der
verschiedenen Gedächtnisrahmen (individuelles und kollektives
Gedächtnis, autobiographisches und soziales Gedächtnis, kommunikatives
und kulturelles oder politisches Gedächtnis, Erfahrungs- und
intertextuelles Gedächtnis) hätte sich angeboten, um die durchaus
heterogenen Aspekte des Themas von der individuellen historischen
Erfahrung über die Eigendynamik der Literatur bis hin zu offiziellen
Geschichtsbildern einerseits auf ihren je spezifischen Begriff und
andererseits in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. 5
[30]
2. Erhellend hätte der
Begriff des kollektiven Gedächtnisses zudem bei der Funktionsbestimmung
der in den neunziger Jahren zahlreich wie nie verfaßten Autobiographien
wirken können, da er den gesellschaftlichen Rahmen als Motor oder
Hemmschuh auch der individuellen Erinnerung ausweist. 6
Garbe dagegen weiß die gegenwärtige Autobiographiehausse lediglich als
Rückzug ins Private aufgrund von gesellschaftlicher Verunsicherung zu
erklären. 7
[31]
3. Das vornehmlich von dem Sozialpsychologen
Harald Welzer erforschte ›intergenerationelle‹ Gedächtnis wäre zudem
geeignet, die literarische Auseinandersetzung von (inzwischen erwachsen
gewordenen) Kindern mit ihren Täter-Eltern auf ihren – von Garbe
einfach vorausgesetzten – gesellschaftlichen Gehalt zu prüfen. Zumal
jene Harmonisierung der Familiengeschichte durch die Nachgeborenen, die
einige neuere Erzählungstexte vorführen, hat auffällige Parallelen in
der »kumulativen Heroisierung« der Eltern oder Großeltern, die nach
Welzer den typischen Effekt des intergenerationellen Gedächtnisses
bildet. 8
[32]
4.
Ebenfalls ins Gebiet der Gedächtnisforschung fällt Garbes
leitmotivische These, daß das »Verschweigen« seit 1945 das Kennzeichen
des deutschen Verhältnisses zur NS-Geschichte sei (S. 225 u.ö.). Diese
Prämisse paßt sicherlich gut in das Konzept einer Literaturkritik,
welche die aufklärerische Leistung ihrer Texte – die sich dem
Verschweigen verweigern – herausstellen möchte. Außerdem gilt sie
weithin als keines weiteren Nachweises bedürftig. In der neueren
Forschung sowohl historischer als auch soziologischer Provenienz hat
die These vom Verschweigen jedoch wichtige Differenzierungen erfahren.
Zum einen trifft es empirisch nicht zu, daß in den Familien nicht über
die NS-Zeit gesprochen wird und wurde; verdrängt bzw. umgebildet – und
zwar durch die Jüngeren noch mehr als die Älteren – wird ›lediglich‹
all das, was die eigene Familie oder Gruppe in ein Licht von Schuld
stellen könnte. 9 Der realgesellschaftliche
Bezugrahmen literarischer Erinnerungsverhalten ist damit aber erheblich
komplexer verfaßt, als es Garbes simple Opposition von Verdrängen und
Aufklären (vgl. S. 46) unterstellt. Zum anderen ist die Verdrängung von
Schuld inzwischen nicht nur als ein moralisches Problem, sondern, in
der Form des ›Beschweigens‹, auch als eine politische Leistung der
jungen Bundesrepublik erkannt worden. 10
Garbe referiert die einschlägigen Forschungen von Norbert Frei (vgl. S.
130–133), erkennt in der Verdrängung von Schuld trotzdem aber nur
»Verlogenheit« (S. 137, 225 u. ö.) – was schon individualpsychologisch
nicht stimmt, weil Verdrängung gerade keine bewußte Verleugnung ist,
sondern bis zum tatsächlichen Ausschluß des Verdrängten aus dem
Gedächtnis führen kann. 11
[33]
5. Garbe möchte den Beitrag
der Literatur zur »nationalen Identität« der Bundesrepublik ermitteln
(S. 13), hält eine Explikation des Identitätsbegriffs aber nicht für
nötig. Um der Gefahr zu entgehen, Identität als vorgängig gegeben,
statisch und geschlossen zu konzipieren, ließe sich erneut die
Gedächtnisforschung heranziehen. 12
Differenzieren ließe sich dann auch zwischen der stärker normierenden
Identitätsbildung durch das kollektive Gedächtnis, wie es im
politischen Diskurs geformt wird, und dem weiter gespannten, pluraleren
kulturellen Gedächtnis, dem man die Literatur zurechnen kann. 13
[34]
Zusammengefaßt: anstatt die aktuellen
Forschungen zum sozialen Gedächtnis und zur Erinnerungspolitik zu
nutzen, folgen Garbes Begriffe einem moralistischen Impetus – was ein
weiteres Mal eher auf journalistische als auf wissenschaftliche
Verfahren verweist. Auch die bereits vorliegenden Studien zur
literarischen Geschichtsprosa der 1990er Jahre nutzt Garbe nur
spärlich. Weit häufiger angeführt werden Rezensionen aus der
Tagespresse, und zwar nicht nur um die publizistische Aufnahme der
Texte zu kennzeichnen. Vielmehr bemißt sich auch der Horizont seiner
Textbeschreibungen weithin am journalistischen Rezensionswesen.
Ähnliches gilt für den geschichtswissenschaftlichen Bereich, denn Garbe
kündigt lediglich an, seine Texte »im Kontext der [...] historischen
Fachdiskussion« zu untersuchen (S. 12). Daß die einschlägige Forschung
nur vereinzelt herangezogen wird, zeitigt aber nicht etwa originelle
Einsichten, sondern senkt schlicht das Niveau.
[35]
›Geschichte‹? = ein Widerstreit von Perspektiven
[36]
Der Titel Deutsche Geschichte in deutschen Geschichten
wirft Theoriefragen auf, die weit über Garbes identitätspolitisches
Erkenntnisinteresse hinausreichen. Wie verhalten ›deutsche Geschichte‹
und ›deutsche Geschichten‹ sich zueinander? Nahe liegt es, den Plural
auf die »Freiheit« literarischer Geschichtsdarstellungen zu beziehen,
die vielfältiger ausfallen können, weil sie keiner Faktizitätspflicht
unterliegen (so Garbe S. 12, ähnlich in der vor Anm. 3 zitierten
Passage). Darüber hinaus weist die Verschachtelung der Singular- in die
Pluralform auf jene Doppelung hin, die im Geschichtsbegriff selbst
angelegt ist: Geschichte ist immer Geschehen und
Darstellung, denn nicht nur jede Darstellung impliziert ein
dargestelltes Geschehen: auch das Geschehen der Geschichte haben wir
stets nur im Medium seiner Darstellung.
[37]
Die Einschachtelung der ›deutschen
Geschichte‹ in ›deutsche Geschichten‹ weist zudem auf die
Perspektivität jeder Geschichtsdarstellung. Selbst ›die Geschichte‹,
wie sie seit dem späten 18. Jahrhundert als einheitlicher Prozeß
gedacht wird, stellt nichts objektiv Gegebenes, sondern ein
perspektivisches Konstrukt dar. Der Standpunkt wiederum, von dem aus
vergangenes Geschehen als zusammenhängende Geschichte wahrgenommen
wird, ist immer die Gegenwart. Geschichte ist nicht die Vergangenheit
selbst, sondern entsteht unter einer kohärenzbildenden Betrachtung vom
Standpunkt einer späteren Gegenwart aus – und damit unter deren
spezifischen Gesichtspunkten. Diese Gesichtspunkte können kognitiv und
ideologisch sehr verschieden sein; auf jeden Fall aber sind es nicht die Perspektiven, aus denen die jeweils rekonstruierte Geschichtsphase in actu,
d.h. von den Zeitgenossen erlebt wurde. Gewiß kann der spätere
Geschichtsbetrachter versuchen, die Perspektiven der früher Handelnden
zu rekonstruieren. Aber auch das tut er vom Standpunkt seiner Gegenwart
aus, und nur in dieser Abständigkeit entsteht Geschichte, denn deren
Prozeßhaftigkeit setzt eine erkennbare Unterschiedenheit zwischen
Damals und Heute voraus.
[38]
Von dieser ursprünglichen Gespaltenheit der
Geschichte in irreduzible Perspektiven ausgehend, hat der Bochumer
Historiker und Geschichtstheoretiker Lucian Hölscher eine neuartige Theorie der Geschichte entworfen. 14
Ohne zu vergessen, daß Geschichte stets ein perspektivisches Konstrukt
ist und es deshalb kein Original, sondern nur unendlich viele Versionen
von Geschichte gibt, nimmt Hölscher Anstoß daran, daß Geschichte immer
mehr in divergierende Perspektiven zerfalle. Für problematisch hält er
diesen Zerfall nicht allein aus epistemologischen Gründen (»Nur weil
wir historische Fakten als Elemente einer zusammenhängenden vergangenen
Wirklichkeit begreifen, können wir sie auf einander beziehen,
Zusammenhänge zwischen ihnen heraus arbeiten und Wirkungen postulieren,
die in den Quellen so gar nicht erwähnt werden«, S. 21). Vielmehr
betont er die praktische Funktion von Geschichtsdiskursen, denn
divergierende Geschichtsbilder können politische und soziale Konflikte
verstärken oder gar hervorrufen (vgl. S. 17). »Zwischen den Tätern und
Opfern von Krieg und Vertreibung, Unterdrückung und Völkermord gibt es
gewöhnlich kein verbindendes Gespräch, es sei denn, dieses wird von der
Einsicht in begangenes Unrecht, in die Relativität unterschiedlicher
Standpunkte und Erfahrungen getragen und geleitet.« (S. 10)
[39]
Natürlich weiß Hölscher, daß »der
Zerfall der Geschichte in nationale, soziale und generationsspezifische
Geschichtsbilder« keine Entwicklung erst der Gegenwart ist, sondern
»die europäische Geschichtswissenschaft schon mindestens seit ihrem
wissenschaftlichen Neuansatz im 18. Jahrhundert« begleitet (S. 11 f.).
Doch habe »dieser Zerfall im Laufe des 20. Jahrhunderts eine neue
Qualität« gewonnen (S. 12): zum einen durch die Globalisierung der
Politik wie des Geschichtsdiskurses, die immer zahlreichere
Geschichtsbilder miteinander konfrontiere, zum anderen durch
offensichtliche »Kontinuitätsbrüche« (S. 14) in der Geschichte der
›Nationen‹, die bislang als relativ stabile Träger einheitlicher
Geschichtsbilder fungierten. Diesen »sachgeschichtlichen Brüchen«
korrespondierten wiederum »Brüche in der geschichtlichen Erinnerung und
in unserer historischen Aufarbeitung des vergangenen Geschehens« (S.
15), die sich bis in den Wechsel der Forschungsparadigmen verfolgen
ließen (›Historismus‹ mit positiver Wertung des ›deutschen Sonderwegs‹,
Sozialgeschichte mit negativer Wertung, neuerdings die
»Erinnerungsgeschichte«). Durch das sowohl Neben- als auch Nacheinander
widerstreitender Geschichtsbilder löse sich die Einheit, die unser
singularischer Geschichtsbegriff suggeriert, in irreduzible
Perspektiven auf.
Hölschers Diagnose des gegenwärtigen
Geschichtsverständnisses ist von grundlegender Bedeutung auch für die
Theorie und Analyse literarischer Geschichtserzählungen, besonders
unserer Zeit. Zumal der von Garbe umrissene Themenbereich ist auch in
der Literatur von irreduziblen Perspektiven auf ›deutsche Geschichte‹
gekennzeichnet. Die von Hölscher angeführte Perspektivenkonkurrenz
zwischen Tätern und Opfern eines historischen Geschehens begegnet uns
vornehmlich als Unterschiedenheit ›jüdischer‹ von (nicht-jüdischen)
›deutschen‹ Perspektiven. Ein Text wie Klügers weiter leben
ist geradezu angelegt als Auseinandersetzung mit der Irreduzibilität
der Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg, je nachdem ob man ihn auf
deutscher Seite (egal in welcher Position) oder als jüdischer
KZ-Häftling erlebt hat. (Garbe vermerkt das, indem er Klügers Buch die
Einsicht zuschreibt, »dass die individuellen Erfahrungen [...]
grundverschieden sind«, S. 196.) Ausweislich der von Garbe
zusammengestellten Texte gilt ähnliches, nicht ganz so scharf
ausgeprägt, für die Erfahrung der Wende 1989, wobei die Scheidelinie
hier weniger zwischen westdeutschen und DDR-Autoren verläuft als
zwischen Befürwortern und Gegners des Nationalstaats.
[42]
Die Verschiedenheit der Perspektiven auf
Geschichte führt Garbes Buch unverkennbar vor Augen. Daß es sich dabei
um eine Grundgegebenheit des Geschichtsdiskurses handelt, wird hingegen
nur bei Hölscher deutlich. 15 Als eine
solche Grundgegebenheit ist jene Perspektivenpluralität zudem anders
einzuschätzen als unter Garbes geschichtspolitischem Blickwinkel. Der
hat zur Folge, daß abschließend eine »Spaltung im öffentlichen
Bewusstsein der Bundesrepublik« beklagt sowie nach richtigen und
falschen Geschichtsbildern sortiert wird (S. 265). Gegen Hölschers
geschichtstheoretische Einsichten gehalten, bietet Garbe bloße
Gesinnungstüchtigkeit. ›Die Geschichte‹ behandelt er als Block – noch
verstärkt dadurch, daß er sie auf wenige Jahrzehnte Zeitgeschichte
zusammendrängt –, obwohl seine Textanalysen vorführen, wie
unterschichtlich die Perspektiven der Historie sind.
[43]
Vielleicht noch wichtiger, weil seltener
in der erinnerungspolitischen Diskussion ist Hölschers Hinweis auf jene
Perspektivendivergenz, die in ein und derselben sozialen Gruppe
auftreten kann: nämlich zwischen verschiedenen Generationen. »In
Deutschland wie in Israel z.B. haben sich mittlerweile weite Teile der
zweiten und dritten Generation nach dem Holocaust entschieden von der
Generation der Zeitgenossen, der Überlebenden und der Täter des
Völkermords distanziert« (S. 10). In moralischer und politischer
Hinsicht scheint uns das selbstverständlich wünschenswert; Hölscher
macht darüber hinaus aber auch auf die gewissermaßen epistemologische
Konsequenz aufmerksam, die jene Distanzierung hat, indem sie
unterschiedliche, nämlich generationsspezifische historische
Wirklichkeiten konstituiert, so daß ›die Geschichte‹ zerbricht: »in
Israel oft mit dem Vorwurf der vermeintlich ›weichlichen‹
Opfermentalität ihrer Eltern und Großeltern, die ihrer [der zweiten und
dritten Generationen] Meinung nach nicht stark genug waren, sich gegen
ihre Verfolgung und Vernichtung zur Wehr zu setzen; in Deutschland
durch die Verständigung weiter Teile der Gesellschaft auf politisch
›korrekte‹ Sprachformeln, welche – ohne wirkliche Auseinandersetzung
mit dem alten Antisemitismus, seinen Beweggründen und Zielen –
lediglich zu erkennen geben, was man heute denken soll, aber nicht, was
die ältere Generation bei ihren Taten und deren Duldung durch die Masse
der Mitläufer und Zuschauer wirklich bewegte.« (S. 10 f.)
[44]
Mit Walsers Springendem Brunnen
bespricht Garbe einen literarischen Text, der eben die ›damalige‹ Sicht
der Mitläufer und Zuschauer zu rekonstruieren sucht. Dazu wird das
›bessere Wissen‹ der Gegenwart ausgeblendet und aus der Perspektive des
Jungen Johann (so Walsers zweiter Vorname) erzählt, wenngleich
unterbrochen von Kapiteln, die dieses – natürlich hochkonstruktive und
aus unserer Gegenwart motivierte – Verfahren erklären. Ob diese
Rekonstruktion vergangener Perspektiven gelungen ist, kann man durchaus
bezweifeln. Garbe lehnt schon den Versuch ab; für ihn betreibt Walsers
Roman »Regression« und »verfälsch[t]« ›die Geschichte‹ (S. 246 f.). Um
älteren Geschichtsbildern gerecht werden zu können, fordert Hölscher
dagegen von der Geschichtswissenschaft ein ganz ähnliches »kalkuliertes
Absehen von dem, was später tatsächlich geschah« (S. 52), d.h. »die
vergangene Zukunft als solche in den Blick zu nehmen, sie nicht immer
schon ex post mit dem zu verrechnen, was dann tatsächlich geschah« (S.
46).
[45]
Rettung der einen Geschichte in der Überlagerung vieler Geschichtsbilder
[46]
Hölschers geschichtstheoretisches Ziel
ist es, einerseits jedes einzelne Geschichtsbild zur Geltung kommen zu
lassen, ohne andererseits den historischen Zusammenhang verloren zu
geben, der eine integrierende Perspektive voraussetzt (vgl. S. 17, 76).
Möglich sei diese Coincidentia oppositorum,
wenn die zu konstruierende ›Geschichte‹ als ›Geschichte der
Geschichtsbilder‹ begriffen wird. Der notwendige Zusammenhang der
Geschichte würde dann nicht mehr auf der Ereignisebene gesucht, sondern
bestände im verstehbaren »Wandel« der Geschichtsbilder (S. 82). Der
herkömmliche Widerstreit der Geschichtsbilder müßte sich, so Hölschers
Hoffnung, zumindest mäßigen lassen, wenn sie an ihrem jeweiligen
historischen Ort Berücksichtigung fänden (vgl. S. 15).
[47]
Um dieses Programm
forschungspraktisch einzulösen, schlägt Hölscher vor, bei allgemein als
bedeutsam eingeschätzten Ereignissen anzusetzen. Welche
Bedeutung diese Ereignisse haben, sei häufig umstritten, weil von den
unterschiedlichen Narrativen abhängig, die sie erklären sollen (vgl. S.
57 f.). Doch erscheinen die ›großen‹ historischen Ereignisse, so
Hölscher, »in den allermeisten Fällen« nicht erst ex-post, sondern schon den Zeitgenossen als bedeutsam (S. 61). 16
Daher seien sie »als das Identische in der Vielheit, das Beständige im
Wandel der Geschichten« zu begreifen (S. 60). Für historisch bedeutsam
würden solche Ereignisse gehalten, denen schon im Voraus besondere
Wichtigkeit für die weitere Entwicklung zugemessen wird. Bedeutsam
erschienen Ereignisse den Zeitgenossen, wenn sie in besonderem Maße
deren Zukunftserwartungen erfüllen (vgl. S. 60–62). 17
Zukunftserwartungen wiederum knüpften sich an bestimmte
Geschichtsbilder. Frage der Historiker nach derartig bedeutenden
Ereignissen, so komme er notwendig den unterschiedlichen
Geschichtsbildern der jeweiligen Zeit auf die Spur und verfüge zugleich
über einen Punkt, in dem jene Geschichtsbilder sich überschneiden und
in Beziehung setzen lassen: »Für einen logischen Moment tritt das
Ereignis gewissermaßen aus den Zusammenhängen heraus, in die es sonst
stets eingebettet ist, und wird zum absoluten Bezugspunkt aller mit ihm
verbundenen Geschichten.« (S. 65)
[48]
Die Verwiesenheit historischer
Ereignisse auf Zukunftserwartungen eröffne überdies eine diachrone
Dimension. Denn historische Erfahrungen aufgrund eingetretener
Ereignisse führten zu neuen Zukunftserwartungen und veränderten
Geschichtsbildern. Dort, wo auf diese Weise »differierende
Betrachtungsweisen« vergangener Ereignisse auftreten, erkennt Hölscher
»historischen Wandel« (S. 68). Mit einem solchen Wandel sei zugleich
aber ein geschichtlicher Zusammenhang gegeben, und zwar nicht als
»metaphysisch vorausgesetzter Gesamtzusammenhang aller Ereignisse in
der Welt«, sondern in empirisch nachweisbarer Form, nämlich als in
wechselnden Geschichtsbildern sich niederschlagender »Prozess des
historischen Urteilens und Richtens, den die Menschen vollziehen, indem
sie Geschichten über ihre eigene Vergangenheit und die zu erwartende
Zukunft entwerfen.« (S. 65 f.)
[49]
Als vorläufig jüngste Einschätzung des
jeweils betrachteten historischen Ereignisses ist, so Hölscher,
schließlich auch das Geschichtsbild der eigenen Gegenwart in die
›Wirkungsgeschichte‹ jenes Ereignisses zu integrieren – wohlgemerkt
nicht als privilegierter Perspektivpunkt, sondern als einer unter
anderen. »Aus der Differenz zwischen den historischen Perspektiven der
vergangenen Zukunft (d.h. einer Zukunft relativ zum Zeitpunkt des
betrachteten Ereignisses selbst) und der gegenwärtigen Vergangenheit
(d.h. einer Vergangenheit relativ zum heutigen Betrachter)« lasse sich
dann der »Gang der Geschichte« erkennen (S. 82). Da jene Differenz erst
vor dem Hintergrund einer kontinuierlichen Beschäftigung mit einem
historischen Ereignis zutage tritt, gilt zugleich aber auch ›die
Geschichte‹ als theoretisch gerettet.
[50]
Geschichtstheoretisch originell
[51]
Jargonfrei formuliert und mit
zahlreichen Beispiele versehen, erschließt sich Hölschers Argumentation
auch dem geschichtstheoretischen Laien. Zugleich bezieht er eine
originelle Position in den aktuellen Debatten der internationalen
Geschichtstheorie. Kritisch wendet er sich nicht nur gegen die
Objektivitätssuggestion des Begriffs der ›einen Geschichte‹. Wichtiger
noch, weil weniger geläufig ist Hölschers Einspruch gegen die
Privilegierung des jeweiligen Gegenwartsstandpunktes, die aus der
unhintergehbaren Standpunktabhängigkeit jedes Wissens »ein praktisch
grenzenloses Vorrecht« der jeweils aktuellen Kategorien und
Urteilsmaßstäbe ableitet (S. 74). Ein solches Vorrecht beanspruchten
die herkömmlichen, fortschrittsoptimistischen Fachparadigmen sowohl des
Historismus als auch der Historischen Sozialwissenschaft (S. 73–75).
Natürlich will Hölscher nicht hinter die Einsicht in die Perspektivität
jeglicher Geschichtskonstruktion zurück. Vielmehr bezieht er sie nur
konsequent auf die nach wie vor herrschende Privilegierung des
Gegenwartsstandpunkts: Werde auch dieser als partikular erkannt, so
gebe es epistemologisch ebenso wie ethisch allen Grund, neben dem
eigenen Geschichtsbild auch »vergangene historische Perspektiven auf
die damalige Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« zur Geltung kommen
zu lassen (S. 82). Dabei geht es wieder nicht darum, Perspektivität
aufzuheben, sondern eine »kurzatmige« »›Standpunkt‹-Historie« zu
vermeiden (S. 76).
[52]
Darüber hinaus vermittelt Hölscher im
wohl grundlegendsten Streit der neueren Geschichtstheorie: ob man
angesichts der historischen wie diskursiven Brüche vor allem im 20.
Jahrhundert überhaupt noch von ›der Geschichte‹ sprechen könne. Indem
er den Begriff der Geschichte nicht mehr in einem Denken über
den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildet,
vielmehr Geschichte nur so weit gelten läßt, wie die historischen
Akteure diesen Zusammenhang in
derselben »herstellen« (S. 84), berücksichtigt er die Kernanliegen
beider Lager, des klassischen Geschichtsdenkens sowie der historischen
Zunft auf der einen und der programmatisch pluralistischen ›neuen
Kulturgeschichte‹ sowie konstruktivistischer Theorieansätze auf der
anderen Seite. Denn er begründet Geschichte als »zusammenhängende
vergangene Wirklichkeit« (S. 21) ohne metaphysische Voraussetzungen zum
einen aus der Zeitstruktur menschlicher Erwartungen und Erfahrungen,
zum anderen aus einem sich zwar wandelnden, aber fortwährenden
Erinnern. Auf diese Weise gewinnt er eine Position, die für beide
Seiten akzeptabel sein sollte. Der Ansatz bei den in »historischen
Bezügen« denkenden »Menschen« lasse freilich auch ein ›Ende der
Geschichte‹ denkbar erscheinen, nämlich für den Fall, daß niemand mehr
diese Bezüge herstellt (S. 84 f.)
[53]
Ambivalent verhält sich Hölscher zu der
heute vorherrschenden narrativistischen Begründung für die »Einheit der
Geschichte« (S. 17 u.ö.) – nämlich daß ›Geschichte‹ in der Kohärenz
entstehe, die Ereignisse durch das Erzählen von ihnen erhielten (vgl.
S. 57). Als Gegenentwurf kommt der Titel Neue Annalistik
daher, denn er verweist auf die prä-narrativen Geschehensnotizen jener
Chroniken, die ›außergewöhnliche‹ Ereignisse jahrweise verzeichnen,
ohne einen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen. Auf der anderen
Seite sind bereits die Geschichtsbilder, die, ausgehend von den
annalistisch ›befreiten‹ Ereignissen, rekonstruiert werden sollen,
narrativ strukturiert. Denn auch wenn die Zeitgenossen jener Ereignisse
ihre vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen mit zukunftsbezogenen
Erwartungen verknüpfen, wirkt dort die kohärenzbildende Sprach- und
Denkform der Erzählung. In diesem Sinne spricht Hölscher selbst von den
»Geschichten«, in deren Rahmen historische Ereignisse erst als solche
wahrgenommen werden (S. 66).
[54]
Wenn aber bereits das historische
Ereignis durch die Erzählungen bedingt ist, die es als solches
identifizieren, dann dürften einige Formulierungen Hölschers – dies sei
als einziger Einwand vorgebracht – zu optimistisch ausgefallen sein,
z.B.:
[55]
»Als das Identische in der
Vielheit, das Beständige im Wandel der Geschichten erweisen sich
historische Ereignisse [...] zugleich auch als unabhängig von ihnen,
als Teile einer absoluten, über alle Zusammenhänge, die wir zwischen
ihnen herstellen, hinausweisenden Wirklichkeit.« (S. 60)
[56]
Daß historische Ereignisse, wenn sich verschiedene
Geschichtsbilder auf sie beziehen, aus der Perspektivität jeder
Geschichtserzählung herausträten, leuchtet nicht ein. Hölschers
Forderung nach einer historisierenden Vervielfältigung der Perspektiven
auf Geschichte reagiert in überzeugender Weise auf die drohende
Verflüchtigung des Historischen in der Gegenwartsgebundenheit jeder
Geschichtskonstruktion. Deren Perspektivität in ein ›Absolutes‹
aufzuheben kann jedoch auch einer ›annalistischen‹ Methode nicht
gelingen.
[57]
Literatur(wissenschaft) auf den Spuren der Geschichtstheorie
[58]
Hölschers Reformulierung des
Geschichtsbegriff ist auch für die Literaturwissenschaft von Belang.
Das betrifft sowohl die theoretische ›Rettung‹ der ›einen Geschichte‹
als auch die geforderte Pluralisierung der historiographischen
Perspektiven. Schaut man noch einmal auf Joachim Garbes Buch über die
aktuelle deutsche Geschichtsliteratur, so geht es in mehrfacher
Hinsicht um eine solche Pluralisierung:
[59]
• Wie bereits erörtert:
jeder Historiograph (auch der literarischer Entwicklungen) muß mit in
seinem Material vorfindlichen Geschichtsbildern rechnen, die von dem
seinigem abweichen. Wer sich der Perspektivität auch der eigenen Sicht
bewußt ist, kann den eigenen Standpunkt jedoch kaum als Maßstab für
alle anderen ausgeben. Epistemologisch korrekt wäre es vielmehr, »in
der Überlagerung vergangener Geschichtsdeutungen die Mehrdeutigkeit und
Bedeutungsfülle eines vergangenen Ereignisses« herauszuarbeiten (S. 83).
[60]
• Den Wandel der
Geschichtsbilder kann der literarische Text überdies bereits in sich
vorführen (und reflektieren), indem er eine Perspektivendifferenz
zwischen der Zeit des Erzählens und der erzählten Zeit, d.h. zwischen
erlebendem und erinnerndem Ich in der Autobiographie oder
Reflektorfigur und Narrator im Roman, hervortreten läßt. Eine solche
Unterscheidung von damaliger und heutiger Sicht wird von der Struktur
des Erzählens geradezu herausgefordert und stellt dementsprechend eines
der gängigsten Mittel zur literarischen Markierung historischer
Abständigkeit dar. Hölschers Geschichtstheorie wiederum stellt klar,
daß Literatur mit dieser Bipolarität in einer Weise Geschichte
konstituiert, die deren irreduzibler Perspektivität besonders gerecht
wird. Die Geschichtlichkeit von Literatur mit historischen Themen
sollte daher nicht nur von ihrem Bezug auf eine vermeintlich gegebene,
einsinnige Geschichte her verstanden werden, sondern primär als
literatureigene Leistung.
[61]
Allein der Literatur ist es möglich, so
von einer Vergangenheit zu erzählen, als ob sie Gegenwart wäre. Der
unhintergehbar gegenwärtige Standpunkt des Autors wird hier (außer bei
Autobiographien) verdeckt von der fiktiven Instanz des Erzählers, und
der kann jede beliebige Position beziehen und also, wenn gewünscht, aus
dem laufenden Geschehen heraus erzählen, den Figuren über die Schulter
oder gar aus den Augen blickend. Literatur stellt dann eine
Rekonstruktion ›vergangener Zukunft‹ par excellence
dar, d.h. sie nimmt jene »Ausmessung der Offenheit vergangener
Zukunftshorizonte« vor, die Hölscher aus geschichtstheoretischen
Gründen fordert (S. 52). Mit einem Wort: In zentraler Hinsicht wird die
›Neue Annalistik‹ längst praktiziert – in literarischen
Geschichtsdarstellungen.
PD Dr. Daniel Fulda Universität zu Köln Institut für deutsche Sprache und Literatur Albertus-Magnus-Platz DE - 50923 Köln
Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Fulda: Zurück in die ›vergangene Zukunft‹: Geschichte als
Literatur und als Theorieproblem. (Rezension über: Joachim Garbe:
Deutsche Geschichte in deutschen Geschichten der neunziger Jahre.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2002 sowie Lucian Hölscher: Neue
Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte (Göttinger Gespräche
zur Geschichtswissenschaft 17) Göttingen: Wallstein 2003.) In: IASLonline [15.07.2004] URL: <http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/fulda2.html> Datum des Zugriffs:
Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.
Vgl. u.a. Stephan Braese (Hg.): In der
Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und
Gegenwartsliteratur. Opladen / Wiesbaden: Westdt. Verlag 1998. – Edgar
Platen (Hg.): Erinnerte und erfundene Erfahrung. Zur Darstellung von
Zeitgeschichte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München:
iudicium 2000. – Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die
Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989.
Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 1995. – Volker Wehdeking (Hg.):
Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000)
(Philologische Studien und Quellen 165) Berlin: E. Schmidt 2000. –
Kompendiös: Frank Thomas Grub: ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der
deutschsprachigen Literatur. Ein Handbuch. Bd. 1–2. Berlin / New York:
de Gruyter 2003. zurück
Die ›Opfergeschichte‹ der Deutschen, die erst seit 2002, mit Grass’ Novelle Im Krebsgang
und Jörg Friedrichs Bombenkriegsbüchern, wieder öffentliche Resonanz
gefunden hat, berücksichtigt Garbes 2002 erschienenes Buch naturgemäß
nicht mehr. Immerhin verzeichnet er den Auftakt zu dieser die
Komplexität des deutschen Geschichtsbewußtseins noch einmal steigernden
Debatte um Deutsche als Opfer des Krieges: W. G. Sebalds Rede über Luftkrieg und Literatur (erschienen 1999), vgl. S. 232 f. zurück
Das Zitat im Zitat hat Garbe von dem
Geschichtsdidaktiker Rudolf Schörken übernommen (Begegnungen mit
Geschichte. Vom außerwissenschaftlichen Umgang mit der Historie in
Literatur und Medien. Stuttgart: Klett-Cotta 1995, S. 90). zurück
Wie sie z.B. bei Helmut König: Die Zukunft
der Vergangenheit. Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein
der Bundesrepublik. Frankfurt / M.: Fischer 2003 vorliegt. zurück
Garbe bleibt auch bei der Rezeption der
Gedächtnisforschung im Journalismus stecken: Von Aleida und Jan Assmann
führt sein Literaturverzeichnis lediglich ein Interview mit der »Zeit«
an. Als typologischen Überblick über die verschiedenen
Gedächtnisformationen vom individuellen bis zum kulturellen Gedächtnis
erschien gleichzeitig mit Garbes Buch von Aleida Assmann: Vier Formen
des Gedächtnisses. In: Erwägen Wissen Ethik 12 (2002), S. 183–190. Hier
arbeitet A. Assmann auch die neuartige Spezifik der gegenwärtigen
Geschichtserinnerung (Anerkennung ›fremder‹ Opfer der eigenen
Geschichte) heraus (S. 187–189). Thematisch einschlägig ist Aleida
Assmann, Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit.
Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Dt.
Verlags-Anstalt 1999. Die Systematisierungschancen des
gedächtnistheoretischen Ansatzes schöpft dieser Essay allerdings nicht
aus. zurück
Grundlegend dazu ist Maurice Halbwachs: Das
Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (Soziologische Texte. 34)
Berlin / Neuwied: Luchterhand 1966. Als Anwendung auf die Rolle der
NS-Zeit im autobiographischen Gedächtnis vgl. Harald Welzer: Das
kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck
2002. Die literaturwissenschaftliche Autobiographieforschung hat den
kulturwissenschaftlichen Gedächtnisbegriff bislang wenig genutzt, lag
ihr Interessenschwerpunkt in den 1990er Jahren doch vor allem auf der
Textualität erzählter Leben. Wieder ernst nimmt Walter Hinck den
»Anspruch« der Autobiographie, »erlebte Wirklichkeit zu vermitteln«
(Selbstannäherungen. Autobiographien im 20. Jahrhundert von Elias
Canetti bis Marcel Reich-Ranicki. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft
1994, S. 7). Hincks Essay betreibt kaum Theorieaufwand; indem ein
breites Spektrum von Autobiographien des letzten Viertels des 20.
Jahrhunderts vorgestellt wird, zeichnet sich gleichwohl die Signifikanz
dieser Texte für das Kollektivgedächtnis ab. zurück
»Man kann sich einer historischen Figur
bedienen, wie Grass es mit Fontane und seiner Kunstfigur Fonty tut, um
in der erzählenden Literatur Historisches zu gestalten und
Zeitgeschichte zu vermitteln. Aber manch ein Autor wählt zu diesem
Zweck lieber das eigene Leben als Erzählgegenstand, wie dies
offensichtlich in Zeiten stärker historischer Veränderung öfter der
Fall ist. Ansonsten ist kaum zu erklären, warum nach 1990 so viele
Autobiografien (nicht nur von Schriftstellern) erschienen sind.« (S. 54) zurück
Vgl. Harald Welzer: Kumulative Heroisierung.
Nationalsozialismus und Krieg im Gespräch zuwischen den Generationen.
In: Mittelweg 36 Jg. 10 (2001), S. 57–73. Als Lektüre einschlägiger
literarischer Texte, die, entsprechend der disziplinären Herkunft des
Verfassers, freilich weniger ästhetisch als gedächtnistheoretisch
argumentiert, vgl. jetzt auch Welzer: Schön unscharf. Über die
Konjunktur der Familien- und Gedächtnisromane. In: Mittelweg 36 Jg. 13
(2004), S. 53–64. zurück
Vgl. Harald Welzer: Das gemeinsame
Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch. In: H. W. (Hg.): Das soziale
Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Ed.
2001, S. 160–178. Zum selben Thema erschien, gleichzeitig mit Garbes
Buch, die Monographie von Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline
Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im
Familiengedächtnis. Unter Mitarb. von Olaf Jensen u. Torsten Koch.
Frankfurt / M.: Fischer 2002. zurück
Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik.
Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München: Beck
1996. Ähnlich Jörn Rüsen: Holocaust, Erinnerung, Identität. Drei Formen
generationeller Praktiken der Erinnerung. In: Harald Welzer (Hg.): Das
soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg:
Hamburger Ed. 2001, S. 243–259, hier S. 247 f. Rüsens Typologisierung
des historischen Wandels bundesrepublikanischer Gedächtnispraktiken
hätte zudem Garbes Anliegen befördern können, die Spezifik des
deutschen Geschichtsbewußtseins nach der Wiedervereinigung
herauszuarbeiten. zurück
Vgl. Aleida Assmann: Persönliche Erinnerung
und kollektives Gedächtnis in Deutschland nach 1945. In: Freiburger
psychoanalytische Gespräche. Jb. für Literatur u. Psychoanalyse 23
(2004), S. 81–91, hier S. 83 f. zurück
Vgl. z.B. Lutz Niethammer: Diesseits des
»Floating Gap«. Das kollektive Gedächtnis und die Konstruktion von
Identität im wissenschaftlichen Diskurs. In: Kristin Platt / Mihran
Dabag (Hg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive
Identitäten. Opladen: Leske + Budrich 1995, S. 25–40. zurück
Knappere Fassungen des hier besprochenen
Büchleins erschienen bereits vor einigen Jahren: The New Annalistic: A
Sketch of a Theory of History. In: History and Theory 36 (1997), S.
317–335 sowie: Neue Annalistik. Entwurf zu einer Theorie der
Geschichte. In: Stefan Jordan (Hg.): Zukunft der Geschichte.
Historisches Denken an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Berlin: trafo
2000, S. 158–174. zurück
Vgl. Hölscher S. 13: »So gesehen handelt es
sich bei den innerdeutschen Verständigungsschwierigkeiten um die
Geschichtsbrüche des 20. Jahrhunderts um keine Ausnahme, sondern eher
um die Regel. Der deutsche Fall gewinnt seine Brisanz, weltweit
gesehen, nur dadurch, dass es sich hier um die Verständigung über einen
Völkermord handelt, der im 20. Jahrhundert innerhalb der westlichen
Welt eine gewisse paradigmatische Bedeutung gewonnen hat.« zurück
Weit seltener gilt dieser Konnex umgekehrt:
Nicht jedes von den Zeitgenossen für bedeutsam gehaltene Ereignis wird
dauerhaft so eingeschätzt (vgl. S. 61). In die Irre würde es daher
führen, historiographische Urteile allein auf die jeweils
zeitgenössischen Einschätzungen zu bauen. Eben dazu neigt aber Garbes
Nahsichtmethode. zurück
Sollen solche Zukunftserwartungen
rekonstruiert werden, so tritt die Historische Zukunftsforschung ins
Werk, die Hölscher bereits seit einigen Jahren betreibt; vgl. die
exemplarische Studie: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und
sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich
1871–1918. Stuttgart: Klett-Cotta 1989, sowie den einführenden
Überblick: Die Entdeckung der Zukunft. Frankfurt / M.: Fischer 1999.
Hölschers Programm, die Zukunftserwartungen vergangener Zeiten zu
rekonstruieren, greift Reinhart Kosellecks Begriff der ›vergangenen
Zukunft‹ auf. Obwohl bereits Kosellecks Begriff darauf verweist, daß
Geschichte nicht aus lauter Vergangenheiten besteht, sondern ebenso aus
deren Zukünften, begründete er die Einheit der Geschichte ganz anders,
nämlich in der von Hölscher abgelehnten Weise als perspektivisches
Konstrukt der jeweils jüngsten Gegenwart. zurück