Gelzer über Simons: Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde

IASLonline


Florian Gelzer


Publikumsnahe Vielfalt vs.
wissenschaftliche Einsträngigkeit: (Positivistische) Studien zum
englischen und deutschen
Buchangebot von 1710-1720

  • Olaf Simons: Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde. Eine Untersuchung des deutschen und englischen Buchangebots der Jahre 1710 bis 1720 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft; 52) Amsterdam / Atlanta: Rodopi 2001. 765 S. Kart. € 136.
    ISBN 90-420-1226-9.


Mit dieser Münchner Dissertation liegt eine außergewöhnlich materialreiche und reich bebilderte Studie vor (765 engbedruckte Seiten), die bei der Beschäftigung mit der deutsch- und englischsprachigen erzählenden Literatur der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts künftig kaum wird umgangen werden können. Geboten wird nichts Geringeres als ein Querschnitt durch die gesamte deutsche und englische Romanproduktion eines Jahrzehnts (1710—1720). 1

Dabei wird nicht von literarisch-stilistischen, stoff- oder ideengeschichtlichen Fragestellungen ausgegangen. Die Romanproduktion beider Länder wird vielmehr parallel mit statistisch-buchgeschichtlichen Überblicken und textnahen Einzelanalysen nach ihrem Ort im Gesamtangebot des damaligen europäischen Buchmarkts befragt. Gearbeitet wird auch nicht mit etablierten Begriffen der Erzähl- oder Romantheorie, sondern zunächst werden die Beschreibungskategorien selbst aus den komplexen buchgeschichtlichen und markttechnischen Bedingungen heraus entwickelt und dann auf die Romane angewandt. Diese entschieden positivistische Durchdringung des Materials führt zu einer weitreichenden Revision bisheriger Forschungsmeinungen und mündet schließlich in eine Reihe von Thesen, die insbesondere die germanistische Forschung zum Thema fundamental in Frage stellen.

Diese beruhe auf einem folgenschweren Missverständnis, da sie sich Texten, die im damaligen Verständnis gar nicht als >Literatur< galten, mit einem Literaturbegriff nähere, dessen Kategorien (>galante Epoche<, >frühbürgerlicher Roman<, >romance< vs. >novel< u. a.) dem "Roman, bevor er Literatur wurde" nicht gerecht würden. Plädiert wird deshalb für eine neue Kategorisierung und dementsprechend modifizierte Einordnung der Romanliteratur des frühen 18. Jahrhunderts in den jeweiligen Literaturgeschichten.

Problemhorizont

Dass Simons die deutsche und englische Romanproduktion des genannten Jahrzehnts parallel und in ihren Wechselwirkungen betrachtet, ist eher ungewöhnlich. Denn die Germanistik wie auch die Anglistik haben sich bislang auf je eigene und unterschiedliche Weise mit >ihrer< Romanliteratur des betreffenden Zeitraums, der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, beschäftigt.

In der Germanistik lassen sich grob zwei Ansichten unterscheiden: Die ältere Germanistik vor dem Zweiten Weltkrieg konstatierte in der Romangeschichte zwischen ca. 1690 und 1750, zwischen den höfisch-historischen Romanen eines Lohenstein und Wielands Romanen also, eine peinliche "Lücke". Der Roman sei in dieser Zeit insgesamt zu wertloser Trivialliteratur degeneriert; auch einzelne Ausnahmen (Johann Beer, Christian Reuter u. a.) bestätigten nur diese Regel. Die neuere Germanistik seit etwa den fünfziger Jahren hat sich vermehrt mit der Romanliteratur des frühen 18. Jahrhunderts, diesem "namenlose[n], gestaltlose[n] und schon damals verachtete[n] Gerümpel" (Norbert Miller), 2 beschäftigt. Nach Arnold Hirschs früher Studie zu den "Verbürgerlichungstendenzen" im politischen und pikaresken Roman waren es vor allem die Arbeiten Herbert Singers (zum >galanten Roman<), Dieter Reichardts (zum >Avanturier-Roman<) Marianne Spiegels (zu Auflagen und Publikum) und Max Götz< (zum >frühbürgerlichen Roman<), 3 die der weiteren Forschung die Grundlagen lieferten. 4

Das Gros der späteren Einzelstudien benutzte implizit oder in programmatischer Absicht die von dieser früheren Forschung entwickelten Kategorien, mit denen der Übergang vom "Barock zum Rokoko" (Singer), die "Verbürgerlichung des Pikaro" (Hirsch), der Übergang vom "barocken zum frühbürgerlichen Roman" (Götz) untersucht wurde. Die Forschung zu den Robinsonaden (und zu Schnabel) hingegen kann in Deutschland schon auf eine längere Tradition zurückblicken. 5

Bei all den heterogenen Ansätzen in der germanistischen Forschung ging es im Grunde genommen darum, den >Übergang< von der Romanliteratur des Spätbarock zu späteren, aufklärerischen Erzählmodellen plausibel zu machen. Die Arbeiten von Hirsch, Singer und ihren Nachfolgern konstatierten dabei einen gewaltigen Nivellierungsprozess: Der höfisch-historische Barockroman sei >gesunken< und zu rein unterhaltender galanter Erzählliteratur verflacht worden. Dieselbe >Verbürgerlichungstendenz< habe umgekehrt auch die Helden der niederen Pikaro-Romane getroffen, so dass dieser Romantypus >aufgestiegen< sei. Insgesamt habe sich so das barocke Gattungsgefüge in einem langen Umwandlungsprozess verschoben, bis der Aufklärungsroman an der Jahrhundertmitte sozusagen die Synthese beider zuvor getrennten Gattungen vollzogen habe:

Die Wende vom >alten< (höfisch-historischen, pikaresken, galanten und politischen Roman) zum >neuen< bürgerlichen Roman als Geschichte von Privatbegebenheiten […] vollzieht sich im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jhs. 6

Während die deutschsprachige Romanproduktion, der älteren Forschung zufolge, an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert quantitativ auf ihrem Höhepunkt, qualitativ aber an ihrem Tiefpunkt angelangt ist, hat der englischsprachige Roman gemäß der älteren anglistischen Forschung zur selben Zeit eben gerade seine Geburtsstunde hinter sich: Durch die Romane Defoes (und später Fieldings und Richardsons) seien die bis dahin vorherrschenden >romances<, die >hohen< Romane mit ihrem höfischen Figurenrepertoire und ihrer gestelzten Sprache, endgültig durch die >novel<, den modernen, realistischen Roman abgelöst worden. Ian Watts zugkräftige Thesen vom >rise of the novel< (dem >Aufstieg des Romans<), 7 der sich parallel zu der Etablierung einer bürgerlichen Mittelklasse vollzogen habe, sind längst Allgemeingut geworden und konnten auch von neueren, ambitionierten Erklärungsmodellen im Grunde nicht abgelöst werden. 8

Vor allem die Arbeiten J. Paul Hunters und Michael McKeons machten auf den entscheidenden Einfluss nichtliterarischer Gattungsformen auf die >novel< aufmerksam: Der englische Roman des frühen 18. Jahrhunderts habe sich bei außerliterarischen Ausdrucksformen wie dem Tagebuch, der Autobiographie und dem Brief, diversen Hauszucht- und Verhaltensbüchern sowie Verbrecherbiographien und Reiseberichten ausgiebig bedient. 9

Intention und Anlage der Arbeit

Die Problemstellung sowohl der germanistischen wie auch der anglistischen Forschung ist, dem heterogenen Material und den zeitlichen Verschiebungen zum Trotz, letztlich also eine ähnliche: In beiden Fällen wurde in immer neuen Anläufen und mit unterschiedlichsten Herangehensweisen versucht, einen langgezogenen Umwandlungsprozess im Gattungsgefüge zu beschreiben, sei es die >Verbürgerlichung< barocker Erzählformen (Germanistik) oder die Ablösung der >romance< durch die moderne >novel< eines Defoe oder Richardson (Anglistik). Das Erscheinen des Robinson Crusoe im Jahre 1719 ist dabei für die Literaturgeschichtsschreibung beider Philologien ein entscheidendes Datum. Für die ältere anglistische Forschung bedeutet es die Geburtsstunde des individualisierten, diesseitsgerichteten und >realistischen< Romans; in der älteren Germanistik gilt die Übersetzung des Defoeschen Romans ins Deutsche als Initialzündung für die Ablösung des bislang vorherrschenden galanten, französisierenden Romanmodells durch eine neue, äußerst erfolgreiche Erzählform: die Robinsonade.

Es ist nur folgerichtig, dass Simons für seine Fallstudien genau den Zeitraum vor dem Erscheinen des Robinson Crusoe, die Jahre 1710—1720, gewählt hat. Denn hier zeigt es sich, ob sich die oben skizzierten, in der Forschung und Literaturgeschichte längst solide verankerten Deutungsschemata auch bei Heranziehung neuen Materials bestätigen lassen. Dabei folgt Simons gerade nicht den gängigen, von der Forschung herausgearbeiteten Traditionslinien — etwa den Beziehungen zwischen höfisch-historischem Barockroman und galantem Roman (Germanistik) oder den Versuchen, den >Beginn des Romans< exakt zu datieren (Anglistik) —, sondern betrachtet die Romanproduktion beider Länder in ihrer Wechselwirkung und versucht, Moden und Schreibkonventionen aus der jeweiligen Situation des regionalen Buchmarkts abzuleiten.

Es geht Simons also nicht um eine neue >Lesart< bewährter Romanbeispiele, sondern um eine grundsätzliche und konsequente Kontextualisierung einschlägiger wie bisher unbekannter Romane beider Länder in den "Diskursen" des europäischen Buchmarkts, die das Verhältnis zwischen Produktionsbedingungen und Lesererwartungen erhellen soll. Im Prinzip wendet Simons also eine bisher für den englischen Roman erprobte Herangehensweise — Kontextualisierung des Romans in benachbarten, auch subliterarischen Diskursen — auch auf die deutschsprachigen Romane der Zeit an, einen Bereich, der bislang vor allem in geistesgeschichtlichen oder erzähltheoretischen Einzelstudien untersucht wurde. Das Resultat vorweg: Es handelt sich Simons zufolge bei den betreffenden Romanen nicht einfach um Umwandlungen traditioneller Erzählmodelle, sondern um Texte, die auf die Bedingungen des Marktes und die Bedürfnisse des Publikums sofort reagierten und nach eigenen, z.T. regional bedingten, Spielregeln funktionieren.

Die Untersuchung

Der Hauptteil, der textnahe Einzeluntersuchungen ausgewählter Romane des besagten Jahrzehnts enthält, wird von (offenbar nachträglich ergänzten) theoretischen Überlegungen zur Methode und von einem Fazit umklammert. Die Methode wird in der Einleitung gleich in ihrer Anwendung vorgestellt.

Fünf "Stichproben", Momentaufnahmen z.B. des Romanbestandes einer zeitgenössischen Buchhandlung, des Katalogs der Leipziger Buchmesse oder der Notizen eines privaten Bücherliebhabers, wechseln ab mit thematischen Reflexionen auf die dem Material angemessene Terminologie und Herangehensweise. 10 Die Einleitung schließt mit dem (apologetischen) Versuch, die positivistische, stichprobenartige Herangehensweise als komplexe Analyse einer "Diskurslandschaft" und deren "Diskursteilnehmer" zu formulieren. Die Entstehungsbedingungen der Romane des Korpus sollen durch eine akribische Untersuchung unterschiedlichsten Materials möglichst präzise erfasst werden, um vorschnelle Vorstrukturierungen zu verhindern.

Ebenfalls noch zu den Präliminarien gehört eigentlich das 1. Kapitel (S.115—193), das den Ort des >Romans< in zeitgenössischen Lexika und gelehrten Journalen — im "Diskurs" der >Wissenschaft< also — möglichst genau bezeichnen möchte. In der res publica literaria hat der Roman offenbar noch keinen Platz, er interessiert höchstens als Stoff-Arsenal, nicht aber als präzis umrissene ästhetische Form.

Im Hauptteil der Arbeit (Kap. 2, S.194—690) werden fünf große — ihrerseits von umfangreichen "Kontext-Kapiteln" unterbrochene 11 — Längsschnitte durch das Roman-Korpus des Jahrzehnts gezogen, deren detailversessene Einzelbeobachtungen nur in groben Zügen charakterisiert werden können. Simons' Betrachtungsweise bleibt zumeist >oberflächlich< in dem Sinn, dass er möglichst genau die Erwartungen des zeitgenössischen Konsumenten solcher Romane ausloten will. Es geht also um die Situierung der Romane im jeweiligen Marktsegment (aufgrund der Titeleien, der Plotstruktur, ihrem Ort im Buchangebot u. a.) und weniger um >Interpretationen< der Texte. 12 Die fünf Einzelkapitel befassen sich mit jeweils einer bestimmten >Spielform< des (deutsch- oder englischsprachigen) Romans, wobei als Parameter für die Einteilung die Begriffspaare >wahr< — >erfunden< bzw. >öffentlich< — >privat< dienen.

Das Zusammenspiel dieser Merkmale führt zu Etablierung von zunächst vier >Spielarten< des Romans (Simons: "Sparten"), die den Einzeluntersuchungen zugrunde liegen. In deren Zentrum befindet sich eine fünfte Sparte (Kap. 2.3), das "poetologische Zentrum des Romans". Simons zufolge muss grundsätzlich unterschieden werden zwischen wahren (öffentlichen oder privaten) "Historien" einerseits, die in (erfundene) Romanform eingekleidet werden und (erfundenen) Geschichten anderseits, die als (öffentliche oder private) wahre "Historien" verkauft werden. Diese Kreuztabelle führt zu einer Einteilung in

  • "Schlüsselromane öffentlicher Historie" (Kap. 2.1, S.208—258): Gemeint sind Romane, die bekannte zeitgenössische Affären an den Höfen und in der Politik als leicht durchschaubaren Roman nacherzählen. Simons erklärt diese >Spielart< vor allem anhand verschiedener Werke der berüchtigten englischen Autorin und Dramatikerin (Mary?) Delarivière Manley (1663—1724) (Atlantis, Memoirs of Europe) sowie ähnlicher Romane (Queen Zarah, History of Prince Mirabel u. a.) und stellt Christian Friedrich Hunolds (Menantes') Der europäischen Höfe Liebes- und Helden-Geschichte (1705) und ähnliche deutschsprachige Romane dagegen. Diese "skandalösen" Romanprojekte erfordern vom Publikum eine genaue Kenntnis des zu entschlüsselnden Personals und entfalten deshalb ihre Wirkung vor allem am Ort ihrer Produktion (insbesondere London). 13 Bei der (selteneren) deutschen Produktion wird dagegen eine Nähe zu Konstellationen der Oper festgestellt, eine Form der literarischen Panegyrik auf einen dargestellten (real existierenden) Helden;

  • "Schlüsselromane privater Historie" (Kap. 2.2, S.291—389): Unter diesem Schlagwort versammelt Simons Romane, in denen wahre private Affären in Fiktion verwandelt werden. Das Umfeld der Autoren sowie der Leser ist hier beinahe deckungsgleich (etwa die Leipziger oder Jenenser Studentenschaft). 14 Gemeint sind meist anonym oder unter Pseudonym erschienene "deutschsprachige urbane Schlüsselromane" aus dem Studentenmilieu (Sarcanders Amor auf Universitäten (1710), Amaranthes' Carneval der Liebe (1712), Meletaons Die liebenswürdige und galante Noris (1711), Melissus' Adelphico (1715), Menantes' Satyrischer Roman (1706 / 10), Selamintes' Närrischer und doch beliebter Cupido (1713) u. a.). In einem zweiten Teil werden ein Vergleich mit der Situation in England (den Leseerwartungen der eleganten jungen Londoner Gesellschaft) gezogen und die Strategien weiblicher Romanautoren beschrieben;

  • "private romanhafte Historien" (Kap. 2.4, S.558—613): Simons stellt den Kontext des Erscheinens des Robinson Crusoe vor, weist auf Bezüge zu früheren Romanen (Das Leben des Seigneur Roselli (1710) und Verbrecherbiographien hin (etwa Alexander Smiths History of the Lives of the Most Noted Highway-Men (1714) oder den Memoirs of the Most Famous Gamesters (1714)). Solchen >niederen< Erzählformen entnimmt diese Romanform den Erzähler aus der Unterschicht; allerdings werden weiterhin typische Romanabenteuer erzählt. Die Fiktion, dass einfache Leute unerkannt erfolgreich publizieren können, bleibt fast ausschließlich in Großstädten wie London glaubwürdig;

  • "öffentliche romanhafte Historien" (Kap. 2.5, S.614—661): Romane wie Madame Du Noyers Lettres (1707—18) präsentieren erfundene Geschichten als angeblich wahre öffentliche Affären. Hier werden >Historien< wie Der galante Congress in der Stadt Utrecht (1714) oder Renevilles L'Inquisition Françoise [!] (1715) herangezogen. Solche Produkte kommen vor allem in Holland auf den Markt, wo (französische) Verfasser die Romanform nutzen, um antifranzösische Politik zu betreiben.

Der überwiegende Teil der Romane des Jahrzehnts 1710—1720 läßt sich in dieses chiastische Schema der vier >Romantypen< einordnen. Für die Werke aller vier Sparten lässt sich ein ausgesprochen enger Bezug zum jeweiligen Publikum oder zum Ort ihres Erscheinens nachweisen: Entweder, weil die zu entschlüsselnden Personen oder Geschichten bekannt sein müssen (wie bei den deutschsprachigen Studentenromanen), oder aber weil die Anonymität der Großstadt eine >wahre< Geschichte eines Unbekannten plausibel erscheinen lässt (Defoe). Die obigen vier Romantypen jedoch kämen in der zeitgenössischen Romandiskussion des 18. Jahrhunderts überhaupt nicht in Betracht (und seien infolgedessen auch nicht mit den herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Termini analysierbar). Einzig eine fünfte Sparte sei in den Blick der zeitgenössischen poetologischen Diskussion gelangt: jenes "zentrale" Korpus heterogener Romanformen, das sich aus höfisch-heroischen Romanen, >Klassikern< und satirischen Romanformen zusammensetzte.

In diesem Teil (Kap. 2.3, S.418—528), dem Kernstück der Arbeit, zeigt Simons, wie die Romanautoren der Zeit verschiedene Strategien anwandten, um sich vom Amadis, dem Inbegriff eines formal und inhaltlich verwirrten Romans, zu distanzieren:

  • Die an die antike Epik angelehnten >asiatischen< Romane (in deutscher und englischer Sprache) profitieren vom Prestige des hohen höfisch-historischen Romans und meiden die Unwahrscheinlichkeiten des Amadis.

  • Einige Romane knüpfen dezidiert an die europäische Novellistik (Cervantes) an.

  • Satirische Romanformen parodieren den hohen heroischen Roman oder zeigen Helden, deren Laster verlacht werden.

  • Andere Romane verstehen sich als Vermittler von >Wissen<, als Medium der Bildung also.

  • Die Anknüpfung an den Amadis bringt schließlich diverse "Billigromane" hervor.

Dieses heterogene Korpus verschiedener Romanformen ist am engsten mit der europäischen Roman- und Literaturtradition verbunden. Offenbar hat die spätere Forschung aber die allein diesem Korpus angemessenen Kategorien auch auf die anderen >Spielarten< übertragen, um die betreffenden Romane in die jeweiligen Literaturgeschichten einbetten zu können. 15

Das verhältnismäßig kurze Schlusskapitel (Kap. 3, S.690—715) endet mit dem eindringlichen Apell an die Germanistik und die Anglistik, sich mit Blick auf gesamteuropäische Entwicklungen vermehrt mit bisher vernachlässigtem Kontextmaterial auseinanderzusetzen — bzw. sich diesem auszusetzen — und die bisher geltenden Epochisierungen und Taxonomien gründlich zu überdenken.

Fazit

Die Arbeit, deren Ergebnisse hier freilich aufs äußerste verknappt wiedergegeben wurden, erweckt trotz der z.T. provokanten Thesen mitnichten den Eindruck von Angriffigkeit, sondern wirkt eher wie eine freundliche Einladung an den Leser zum Schmökern, ein gelungener Versuch, ihn für diesen >curiösen< Stoff zu begeistern. Es gibt kaum ein paar Seiten reinen Fließtext, die nicht durch Schautafeln, eingescannte Kupfer oder Titelbilder, Zitate aus Originaltexten oder tabellarische Überblicke ergänzt wären.

Das chronologisch geordnete Literaturverzeichnis (34 zweispaltig bedruckte Seiten) und das Inhaltsverzeichnis (14 Seiten) vermitteln einen Eindruck davon, welche ungeheure Menge an z.T. nur schwer greifbaren Originaltexten hier mit großem Aufwand bewältigt wurde. Auch die germanistische und anglistische Forschungsliteratur ist umfassend eingearbeitet. Die >barocke< typographische und erzähltechnische Spielfreude des untersuchten Materials hat offenbar auch auf den Verfasser abgefärbt: Der Fluss der Argumentation wird immer wieder durch mitteilsame Digressionen, neue >Funde< oder überraschende Einfälle unterbrochen. Dadurch vermittelt die Dissertation einen faszinierenden Einblick in eine den meisten Literaturhistorikern wohl wenig bekannte Welt und ergibt ein vorzügliches Panorama des Jahrzehnts, verliert dadurch aber etwas an Zielgerichtetheit.

Ihre Stärke liegt eindeutig in den ebenso akribischen wie einfallsreichen Einzelstudien (die z.T. auch einzeln veröffentlicht werden könnten). Das vom Verfasser vertretene "positivistische" Verfahren erweist sich dort als außerordentlich fruchtbar, wo unbekannte Texte ausgegraben und dem Leser vorgestellt werden; umgekehrt vermisst man gerade in den "Kontext-Kapiteln", etwa demjenigen zur "Natur des sozialen Bandes" (S.529—557), eine etwas intensivere Auseinandersetzung mit den Primärtexten und dem Stand der Forschung. Hier könnten weitere, thematisch enger fokussierte Untersuchungen anknüpfen, denen Simons' Dissertation eine ausgezeichnete Grundlage böte.


Florian Gelzer, lic. phil.
Universität Bern
Institut für Germanistik
Länggass-Strasse 49
CH-3000 Bern 9

Ins Netz gestellt am 19.02.2002
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Anmerkungen

1 Der Titel der Diss. spielt auf den in der Romanliteratur an der Wende zum 18. Jahrhundert oft verwendeten fingierten Verlagsnamen "Cöln bei Pierre Marteau" an.   zurück

2 Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an den Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968, S.87.   zurück

3 Arnold Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes. 2. Aufl., besorgt von Herbert Singer, Köln / Graz 1954 [11934]; Herbert Singer: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko (Literatur und Leben; 6) Köln / Graz 1963; Dieter Reichardt: Von Quevedos >Buscón< zum deutschen >Avanturier<. Bonn 1970; Marianne Spiegel: Der Roman und sein Publikum im früheren 18. Jahrhundert. Bonn 1967; Max Götz: Der frühe bürgerliche Roman in Deutschland: 1720—1750. Diss. München 1958.    zurück

4 Exemplarisch z.B.: Carla Freudenreich: Zwischen Loen und Gellert. Der deutsche Roman 1740—1747. München 1979; Harald Bräuner: Die Suche nach dem "deutschen Fielding": englische Vorlagen und deutsche Nachahmer in Entwürfen des Originalromans (1750—1780) (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 199) Stuttgart 1988.   zurück

5 S. den Forschungsüberblick in: Jürgen Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1981; Zu Schnabel vgl. Günter Dammann: Literatur über J. G. Schnabel und sein Werk. In: J. G. Schnabel: Insel Felsenburg. Ausgabe in drei Bänden, mit einem Nachwort von Günter Dammann. Textredaktion Marcus Czerwionka unter Mitarbeit von Robert Wohlleben. Frankfurt / M. 1997, Bd. 3, S.286—298.   zurück

6 Wilhelm Vosskamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blankenburg. Stuttgart 1973, S.142; S. auch die Zusammenfassung bei Dieter Kimpel: Der Roman der Aufklärung (1660—1774). Stuttgart 1967 (2., überarbeitete Aufl. 1977).   zurück

7 Ian P. Watt: The Rise of the Novel: Studies in Defoe, Richardson and Fielding. London 1987 (11957).   zurück

8 Vgl. z.B. die Darstellung der "Romanentwicklung" in der populären Englischen Literaturgeschichte, hg. von Stephan Kohl, Eberhard Kreutzer u. a. Stuttgart / Weimar 1993, S.175—195.   zurück

9 J. Paul Hunter: Before Novels: the Cultural Contexts of Eighteenth-Century English Fiction. Norton 1990; Michael McKeon: Generic Transformation and Social Change: Rethinking the Rise of the Novel. In: Cultural Critique 1 (1985) 159—181; M. McK: The Origins of the English Novel 1600—1740. Baltimore 1987.   zurück

10 Hervorzuheben sind vor allem die Abschnitte zu Druckern, Buchhändlern und Verlegern in München (S.26—35) und zu "Londons Romanangebot" (S.59—70).   zurück

11 Die "Kontext-Kapitel" befassen sich mit der Funktion des >Geheimnisses< als Movens der Handlung (S.200—207), dem Themenkomplex >Klugheit und Galanterie< (S.259—290), der Affektenlehre Christian Thomasius' und ihren Nachwirkungen (S.390—417), der Thematik von >Naturrecht<, >Privatheit< und >Öffentlichkeit< (S.529—557) sowie mit dem >Strukturwandel der Öffentlichkeit< (S.662—690).   zurück

12 Vgl. z.B. S.580f.: "Im Interesse an der Breite des Marktes und am Spiel, mit dem sich Crusoes Titel auf dem Markt anbot, wird es darum gehen, nicht wesentlich über das hinauszugehen, was man als Leser binnen weniger Minuten über dieses Buch [Robinson Crusoe] aus dem Titel und der Vorrede erfahren konnte."   zurück

13 Solche Strategien der >Verschlüsselung< wenden in ihren Romanen allerdings bereits Mlle de Scudéry, in Deutschland z.B. Buchholtz, Lohenstein, Anton Ulrich und Joachim Meier an; Vgl. Georg Schneider: Die Schlüsselliteratur. (3 Bde.) Stuttgart 1951ff.   zurück

14 Offen bleibt allerdings, ob der implizite Leser mit dem empirischen Leser solcher Romane identisch ist.   zurück

15 Vgl. z.B. Herbert Singers Konzept des >galanten Romans<, in das laut Simons inkommensurable Romanformate (z.B. Schlüsselromane beider Sparten sowie satirische Romane) inkorporiert werden.   zurück